EM

"Der zweite Stürmer wurde wegrationalisiert"

Von Interview: Jochen Tittmar
U-21-Coach Rainer Adrion war mehrere Jahre lang Trainer der Amateure des VfB Stuttgart
© getty
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SPOX: Lassen Sie uns doch einmal die einzelnen Gruppengegner durchgehen: Ihr Kommentar zu den Spaniern bitte.

Adrion: Sie haben eine technisch traditionell sehr gut ausgebildete Mannschaft beisammen. Dort spielen viele Spieler in den Vereinen bereits eine große Rolle, selbst bei Real Madrid oder dem FC Barcelona. Die Spanier orientieren sich vom Spielstil natürlich an Barca und konnten dies in der Qualifikation auch gut umsetzen. Wir wissen, was auf uns zukommen wird.

SPOX: Zunächst muss jedoch das Auftaktspiel gegen die Holländer bestritten werden.

Adrion: Sie favorisieren wie gewohnt das klassische 4-3-3 mit sehr offensiven Außenspielern und dominantem Flügelspiel. Sie besitzen dafür sehr gute Dribbler, die im Eins-gegen-Eins ordentlich Wind machen können. Die defensiven Außen sind von Spielern besetzt, die bereits im A-Team zum Einsatz kamen. Es wird für uns besonders darauf ankommen, die Diagonalbälle auf die Flügel sowie die Dribblings zu unterbinden.

SPOX: Was gibt es zum vermeintlich schwächsten Gegner Russland zu sagen?

Adrion: Sie sind ein bisschen die unbekannte Größe. Sicher ist, dass sie sehr körper- und zweikampfbetont auftreten werden und eine hervorragende Fitness mitbringen. Die Russen werden vor allem vom Kollektiv leben, die besonders große Stärke ist das Spiel gegen den Ball.

SPOX: Wird eigentlich der Tatsache Aufmerksamkeit geschenkt, dass Deutschland meist um 21.30 Uhr Ortszeit antreten muss und einige der Spieler ohne Europacup-Erfahrung zu einer solchen Anstoßzeit noch nie aufliefen?

Adrion: Das spielt durchaus eine große Rolle, die Spieler sind es ja nicht gewohnt. Wir richten den ganzen Tagesablauf darauf aus. Das heißt, dass wir später trainieren und essen werden. Das ist schon eine Umstellung, die aber wiederum auch nicht allzu sehr ins Gewicht fallen sollte.

SPOX: Kapitän Lewis Holtby wechselte im Winter zu Tottenham Hotspur. Wie sehen Sie seine Entwicklung und die Rolle innerhalb des Teams?

Adrion: Er ist unser großer Führungsspieler auf und außerhalb des Platzes. Diesen Anspruch hat er auch selbst an sich gestellt und letztlich hervorragend umgesetzt. Ich hoffe, dass ihn der Schritt nach England weiterbringt. Bei einem Vereinswechsel muss man sich immer erst eine bestimmte Zeit zurechtfinden, um die neuen Abläufe zu verinnerlichen. In dieser Phase steckt Lewis momentan, er braucht noch Zeit.

SPOX: Sie haben Moritz Leitner nicht nominiert, bei Borussia Dortmund wurde darauf mit Unverständnis reagiert. Was waren letztlich Ihre Beweggründe dafür?

Adrion: Ich habe eine Mischung gesucht aus Spielern, die von Beginn an auflaufen werden und welchen, mit denen ich von der Bank aus reagieren könnte. Da habe ich mich nicht gegen Moritz, sondern eben für andere Spieler entschieden.

SPOX: Abschließend noch zwei konzeptionelle Fragen: In Deutschland gibt es seit einiger Zeit Engpässe beim Sichern des Fortbestands von Linksverteidigern und Stürmern. Liegt das bei den Angreifern daran, dass in der Ausbildung oftmals auf einen zweiten Stürmer im Spielsystem verzichtet wird?

Adrion: Das ist einer der Gründe, ja. Derzeit stehen zentrale Stürmer wie Robert Lewandowski im Vordergrund, die groß und kopfballstark sind und den Ball im Zentrum sichern können. Wir haben mit Sebastian Polter und Pierre-Michel Lasogga zwei solche Stürmer im Aufgebot. Der zweite Angreifer ist gewissermaßen wegrationalisiert worden, deshalb sind jetzt nicht mehr so viele dieser Spielertypen da.

SPOX: Wie wichtig ist es bei der Ausbildung der Außenbahnspieler, dass offensiv ausgerichtete Spieler auch defensiv geschult werden, um letztlich beide Positionen zu beherrschen?

Adrion: Dieser Ansatz wird schon länger verfolgt. Ich denke aber, dass man dem gelernten Verteidiger noch mehr beibringen sollte, offensiver zu spielen. Die modernen Spielsysteme sind dafür ausgelegt, dass die Angriffe bereits aus der Viererkette heraus eingeleitet werden - beispielsweise mit Flankenläufen. Der linke Außenverteidiger ist schon ein besonderer Fall, von daher muss der Fokus in der Ausbildung noch stärker darauf gerichtet werden, mehrere dieser Linksfüßer zu produzieren.

Rainer Adrion im Steckbrief