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EM 2021: Vorbilder, wohin man schaut! Was das EM-Märchen für England bedeutet

Von Charles Watts
England trifft im EM-Finale auf Italien.
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Die Three Lions stehen im EM-Finale gegen Italien (21 Uhr im LIVETICKER) kurz davor, eine 55-jährige Leidenszeit zu beenden. Ein Lagebericht aus der Sicht eines Engländers.

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Kann mich mal jemand kneifen? Ist das echt? Ist es wirklich passiert? Seit dem Abpfiff des Halbfinales gegen Dänemark am Mittwochabend sind nun fast vier Tage vergangen und ich habe es immer noch nicht richtig begriffen. Das kann einfach nicht richtig sein. England gewinnt nicht das Halbfinale.

Ich habe mich an dieses erdrückende Gefühl der Niedergeschlagenheit und des Herzschmerzes gewöhnt, das aufkommt, wenn ich meinem Land bei einem großen Turnier zuschaue. Es ist ein Gefühl, das ich 1990 zum ersten Mal als Achtjähriger erlebte und das sich nur noch verstärkt hat, als ich vom Jungen zum Mann heranwuchs, der die Welt bereiste und England beim Verlieren zusah.

Von den Schmerzen bei der Euro 1996, dem Herzschmerz gegen Argentinien 1998, den Elfmeterschießen gegen Portugal 2004 und 2006, der Zerstörung durch Deutschland 2010, der Blamage gegen Island 2016 und der Erschütterung durch Kroatien 2018. Manche sagen, dass Niederlagen leichter zu ertragen sind, wenn man älter wird, aber bei England ist das einfach nicht der Fall.

Waddle, Southgate & Co.: Eine Chronologie des Scheiterns

Die Sehnsucht nach Erfolg wird mit jedem Turnier und der Schmerz mit jedem einzelnen herzzerreißenden Ausscheiden größer. Es gab besondere Momente in dieser Zeit: David Platt gegen Belgien, Paul Gascoigne gegen Schottland und Michael Owen gegen Argentinien.

Aber die überwiegenden Erinnerungen an die Spiele meines Landes sind schmerzhaft. Chris Waddles Elfmeter in Turin, Gareth Southgates Fehlschuss 1996, David Beckhams Rote Karte und Sol Campbells nicht anerkanntes Tor gegen Argentinien, der augenzwinkernde Cristiano Ronaldo 2006, Frank Lampards "Phantomtor" gegen Deutschland 2010 - die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Als England-Fans aufgewachsen, mussten die meisten von uns neidisch die körnigen Aufnahmen jenes historischen Tages in Wembley 1966 betrachten und den Erzählungen derer lauschen, die das Glück hatten, diesen WM-Sieg vor 55 langen Jahren zu erleben.

Seitdem sind wir eher in Hoffnung als in Erwartung um die Welt gereist. Wir haben zu träumen gewagt, aber unsere Hoffnungen wurden jedes Mal enttäuscht. Im Jahr 2006 war ich in Deutschland: Von Frankfurt über Nürnberg bis nach Köln war ich davon überzeugt, dass dies der Moment sein würde, in dem die "goldene Generation" ihren großen Auftritt haben würde. Aber es sollte nicht sein, denn die talentierte Mannschaft der Three Lions scheiterte erneut im Elfmeterschießen.

26. Juni 1996: Gareth Southgate scheitert bei der Europameisterschaft im Elfmeterschießen mit seinem Schuss an Deutschlands Andreas Köpke. England verliert mit 5:6 i.E. und verpasst das EM-Finale im eigenen Land.
© getty
26. Juni 1996: Gareth Southgate scheitert bei der Europameisterschaft im Elfmeterschießen mit seinem Schuss an Deutschlands Andreas Köpke. England verliert mit 5:6 i.E. und verpasst das EM-Finale im eigenen Land.

EM 2021: England hat den "Halbfinal-Fluch" endlich gebrochen

Im Jahr 2010 war ich in Südafrika: Von Kapstadt, wo ich auf dem Gipfel des Tafelbergs meine England-Fahne schwang, nach Port Elizabeth und Bloemfontein. Ich saß auf der Tribüne und feierte, als Frank Lampards Schuss die Linie überquerte. Ich war 100 Meter entfernt und hatte etwa 10 Pints in mir, und ich konnte sehen, dass es ein Tor war. Sicherlich wird es gegeben. Nein! Wieder abgelehnt.

Und vor drei Jahren war ich mit 30.000 englischen Fans im Hyde Park und sah zu, wie wir gegen Kroatien antraten. Sollte dies endlich der Moment sein, in dem der Halbfinalfluch gebrochen werden sollte? Es fühlte sich auf jeden Fall so an, als Kieran Trippier mit seinem frühen Freistoß die obere Ecke traf.

Aber dann ging alles schief - wie immer. Ich werde nie vergessen, wie ich nach dieser Niederlage durch die Straßen von London lief. Es fühlte sich so an, als würde England nie wieder eine bessere Chance auf ein Finale bekommen. Wir waren 25 Minuten davon entfernt und es ist uns durch die Finger gerutscht - schon wieder!

Aber das ist Fußball. Das glorreiche, schöne Spiel, das wir alle lieben. Und am Mittwochabend waren all diese schmerzhaften Niederlagen vergessen. Niemand im Wembley-Stadion dachte an verschossene Elfmeter oder Rote Karten, als die Feierlichkeiten danach bis tief in die Nacht andauerten.

Endlich, nach all den Jahren, war es Zeit zu feiern, gemeinsam! Ja, es gibt immer noch ein Finale, das gewonnen werden muss. Aber allein das Überwinden dieser Halbfinalhürde nach all der Zeit fühlte sich so besonders an.

27. Juni 2010: Frank Lampards Distanzschuss prallt im WM-Achtelfinale gegen Deutschland von der Unterkante der Latte hinter die Torlinie. Schiedsrichter Jorge Larrionda (Uruguay) gibt das Tor nicht - England verliert mit 1:4.
© getty
27. Juni 2010: Frank Lampards Distanzschuss prallt im WM-Achtelfinale gegen Deutschland von der Unterkante der Latte hinter die Torlinie. Schiedsrichter Jorge Larrionda (Uruguay) gibt das Tor nicht - England verliert mit 1:4.

EM 2021: England gegen Dänemark - ein "unerträgliches" Spiel

Wie immer bei England war es zeitweise unerträglich. Aber nach 120 schrecklich spannenden Minuten kamen die Emotionen nur so heraus. Die Tatsache, dass es in Wembley stattfand, machte es noch spezieller. Die Szenen nach dem Schlusspfiff, die Verbundenheit zwischen Mannschaft und Fans, das Gefühl der Zusammengehörigkeit nach fast 18 Monaten, in denen wir zu Hause eingeschlossen waren. Eine Nation, die durch den Verlust zerrissen war, wieder vereint.

Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden, um zu beschreiben, was der Mittwochabend wirklich bedeutet hat. Jahrelang hat England geschmeichelt, um zu täuschen. Aber jetzt haben wir eine Nationalmannschaft, auf die wir wirklich stolz sein können, egal was heute gegen Italien passiert.

Dies ist eine Mannschaft, die im Angesicht von Kritik in die Knie geht, die kollektiv Stellung gegen Diskriminierung bezieht. Von Harry Kane, der eine regenbogenfarbene Binde trägt, bis hin zu Marcus Rashford, der es mit dem Establishment aufnimmt und Millionen von hungrigen Schulkindern ernährt.

Vorbilder, wohin man schaut

In dieser englischen Mannschaft gibt es Vorbilder, wohin man schaut. Raheem Sterling, der Junge, der im Schatten des Wembley-Bogens aufwuchs und davon träumte, für England zu spielen, hat die Kritiker zum Schweigen gebracht und ein ganzes Land inspiriert.

Ich habe eine Tochter, die sechs ist, und einen Sohn, der fünf ist. Beide sind noch etwas zu jung, um das Ausmaß dessen, was wir in diesem Sommer erleben, wirklich zu verstehen. Aber sie wissen, dass England etwas Besonderes tut. Sie haben noch nicht den Herzschmerz erlebt, den man als England-Fan haben kann. Tatsächlich haben wir, seit sie auf der Welt sind, zwei Halbfinalspiele hintereinander erreicht. Wenn es nur immer so wäre!

Was Three Lions-Coach Gareth Southgate mit dieser Mannschaft seit 2016 erreicht hat, ist bemerkenswert. Er hat eine Gruppe von Spielern zusammengebracht, welche die Fantasie der Nation beflügelt und hat uns allen die Möglichkeit gegeben, zu träumen. Es war eine bedeutsame Reise. Und nun steht ein letzter, quälender Schritt an, auf den wir 55 schmerzhafte Jahre gewartet haben. Das ist doch nicht wirklich möglich, oder?

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