EM

Die Renaissance des Schweigers

SID
Im Stile von Antonin Panenka chippte Pirlo seinen Elfmeter in die Mitte des Tores
© Getty

Andrea Pirlo verzog keine Miene, als er seinen Geniestreich in wenigen Sätzen erklärte. Torwart Joe Hart habe sich halt früh in die Ecke bewegt, also habe er kurzfristig anders entscheiden müssen. Was für seine englischen Kollegen, die von jeher mit dem Nervenspiel vom Elfmeterpunkt auf Kriegsfuß stehen, ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, war für den Mittelfeldstar der italienischen Nationalelf die normalste Sache der Welt. So einfach kann Fußball sein, erst recht für so einen genialen Fußballer wie Pirlo.

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Eiskalt hatte er Hart im Stile von Antonin Panenka versetzt, als er den Ball in aufreizender Lässigkeit in die Mitte des Tores löffelte, während Englands verdutzter Keeper ins Leere sprang. So war es einst auch Sepp Maier im EM-Finale 1976 bei der Niederlage gegen die CSSR im Elfmeterschießen ergangen.

Natürlich ist Pirlo nach dem 4:2 im Elfmeterschießen gegen England im EM-Viertelfinale zum "Man of the Match" gewählt worden. Doch wo andere seiner Zunft den Medienrummel im grellen Scheinwerferlicht der großen EM-Bühne auskosten, verschwindet Pirlo so schnell wie er gekommen war. Große Worte sind nicht sein Ding, der Schweiger aus Brescia lässt lieber Taten sprechen - auf dem Rasen, wo er die Fäden des italienischen Spiels fest in seinen Händen hält.

In Mailand von Allegri ausgemustert

Pirlo ist das Herzstück dieser italienischen Mannschaft, die mit einem Rucksack voller Probleme angereist war und urplötzlich wieder zu den besten vier Mannschaften Europas gehört. So ist die sportliche Wiederauferstehung des Weltmeisters von 2006 eng mit der Renaissance des 33-Jährigen verknüpft. Denn es ist gerade einmal ein Jahr her, als der "L'Architetto" bei seinem langjährigen Klub AC Mailand ausgemustert und abgeschoben worden war.

Ein schwerwiegender Fehler des Milan-Trainers Massimiliano Allegri, wie sich längst herausstellte. Pirlo wechselte zum Rekordmeister Juventus Turin und führte die "alte Dame" nach sportlich tristen Zeiten zurück auf den Thron der Serie A. Ungeschlagen marschierte Juve durch die Saison, in 37 von 38 Spielen stand Pirlo auf dem Spielfeld.

Die letzte Niederlage des Mittelfeldspielers in der italienischen Meisterschaft liegt schon über 18 Monate zurück. Am 18. Dezember 2010 ging er letztmals als Verlierer vom Platz, 0:1 hatte er damals mit Mailand gegen den AS Rom verloren.

Auch in der "Squadra Azzurra" schien Pirlos Zeit bereits abgelaufen zu sein. Sein Körper zollte den Strapazen Tribut, die WM 2010 endete für ihn in einer einzigen Enttäuschung. Nur 34 Minuten kam er in Südafrika wegen einer Wadenverletzung zum Einsatz. Aber ohne Pirlo verabschiedete sich der Titelverteidiger sang- und klanglos in der Vorrunde.

Pirlo-Pass beendete deutsches Sommermärchen

Zwei Jahre später ist Italien mit Pirlo wieder zurück im Konzert der Großen. Wieder heißt der Gegner im Halbfinale Deutschland, so wie 2006. Und die Herren Christoph Metzelder und Per Mertesacker aus der damaligen deutschen Innenverteidigung werden sich mit Schrecken an den Mann mit dem wehenden Haar erinnern.

Es war die 119. Minute, als er mit einem gestochen scharfen Pass auf Fabio Grosso den Führungstreffer der Italiener einleitete und damit dem deutschen Sommermärchen ein abruptes Ende setzte.

Nun also wieder Deutschland. "Sie haben eine hervorragende Mannschaft und hatten bislang keine Probleme, aber es ist das Halbfinale bei einer EM. Wir sind hoffnungsvoll", sagt der kleine "Maestro" und träumt vom letzten großen Coup. Der EM-Titel ist das letzte Puzzlestück, das in Pirlos Titelsammlung noch fehlt. Ansonsten hat er alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt - die WM, die Klub-WM, die Champions League und die Serie A.

Andrea Pirlo im Steckbrief

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