Klaus Augenthaler und der WM-Triumph 1990: Heimvorteil in Italien

Von Niklas König
Klaus Augenthaler gewinnt mit Deutschland 1990 den WM-Pokal.
© imago images / Pressefoto Baumann
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Das Chaos der Weltmeisterschaft 1996

Teamcoach Franz Beckenbauer hat aus 1986 gelernt. Seinerzeit hatte Deutschland eine mitunter aberwitzige Figur abgegeben. Schon im Vorfeld des Turniers in Mexiko sprach Beckenbauer in Bezug auf seinen Kader von "Schrott", den Gewinn des Weltmeistertitels schloss er kategorisch aus.

Letztlich schaffte es sein Team dennoch bis ins Endspiel, und doch war es eine WM, über die Dieter Hoeneß später sagte, sie sei "das reinste Chaos" gewesen. Jenes Chaos gipfelte in der Suspendierung von Uli Stein. Dieser hatte den früheren Knorr-Werber Beckenbauer Medienberichten zufolge als "Suppenkasper" bezeichnet, nachdem dieser wiederum zu Stein gesagt haben soll: "Du bist derzeit der beste Torwart der Welt, aber hier kannst du nicht spielen."

Stein witterte eine Verschwörung und sah seine Ausbootung in Interessen des DFB-Ausrüsters adidas begründet. Seine Missgunst quittierte er der Legende nach mit Bierkonsum, eines Abends überzog er den verordneten Zapfenstreich mit Ditmar Jakobs, Hoeneß und Augenthaler angeblich um drei Stunden.

Von Beckenbauer zur Rede gestellt, tat sich das Quartett zusammen und verhinderte zunächst den Rausschmiss von Stein. Später musste der damalige HSV-Keeper dann doch abreisen, auf Anordnung des DFB-Präsidenten Hermann Neuberger.

Augenthaler schildert die Geschichte so: "In Mexiko war rund um das Teamquartier nichts los. Irgendwann haben uns einige Journalisten ein gutes französisches Restaurant empfohlen." Dieses Lokal sei eine Autostunde vom Quartier entfernt gewesen. "Wir hatten während des Turniers mexikanische Studenten als Fahrer. Und als wir eines Nachmittags frei hatten - es war kein Training und auch kein verpflichtendes Abendessen im Hotel -, sind wir dann in dieses Lokal gefahren."

Weil von einem DFB-Mann eine Besprechung mit den Fahrern anberaumt worden sei, brach das Quartett erst später auf als ursprünglich geplant. "Deshalb sind wir nicht zum Zapfenstreich zurückgekommen, sondern anderthalb Stunden später. Das ist dann aufgeflogen", sagt Augenthaler.

"Als wir am Haupteingang ankamen, standen da schon 50, 60 Journalisten. Am Nebeneingang standen 20 oder 30 weitere. Wir sind dann über eine Mauer geklettert, aber irgendwann ist es doch rausgekommen."

Am nächsten Tag habe es "eine Riesenbesprechung" gegeben. "Da wurde uns gesagt: 'Strafe bezahlen oder heimfliegen.' Da haben wir geantwortet: 'Strafe zahlen wir nicht, weil wir es nicht einsehen. Wenn wir schon mal einen Tag frei haben, wollen wir das ausnutzen.' Wir konnten ja nichts dafür, dass uns die Fahrer nicht zur Verfügung standen. Wir haben im Endeffekt keine Strafe gezahlt und sind auch nicht heim geflogen."

Stattdessen habe man die Situation mit Beckenbauer und dem damaligen Präsidenten intern geregelt. "Die Journalisten waren natürlich enttäuscht, weil sie keine großen Schlagzeilen hatten. Wir dagegen hatten zuhause genügend Ärger", lacht Auge und stellt klar: "Es war kein Saufgelage, sondern ein anständiges Essen. Aber Stein wurde nicht wegen diesem Abend heimgeschickt. Das hatte andere Gründe, aber da müssen Sie Uli fragen." Dieser war für SPOX und Goal nicht erreichbar.

Das WM-Finale 1986 verlieren Augenthaler und Co. gegen Argentinien.
© imago images / Sven Simon
Das WM-Finale 1986 verlieren Augenthaler und Co. gegen Argentinien.

Beckenbauer lernt aus Fehlern von 86

Über die WM in Mexiko sagt Augenthaler rückblickend: "Wir waren von den Spielern her eine gute Mannschaft, aber wir waren keine Mannschaft im eigentlichen Sinne. Die Trainingsspiele waren mehr Krieg als Harmonie. Da waren viele übermotiviert. Es gab Gruppenbildung, da waren die Kölner, die Hamburger, die Bayern."

Beckenbauer sei zwar schon damals ein sehr guter Trainer gewesen, "sonst hätten wir es mit dieser Mannschaft ja nicht ins Finale geschafft", man habe aber gemerkt, dass der Kaiser "innerhalb von kürzester Zeit seine Mannschaft im Kopf hatte". Im Training habe bei den Nachmittagseinheiten stets die A- gegen die B-Mannschaft gespielt. Die Spieler aus der zweiten Reihe fühlten sich außen vorgelassen.

Vier Jahre später ist es in Italien anders. Beckenbauer bezieht die Führungsspieler und den Staff vermehrt in seine Entscheidungen mit ein, der große Bayern-Block, die Italien-Legionäre und allen voran Matthäus halten das Team zusammen. Auch das Wort des erfahrenen Augenthalers hat Gewicht. "Wir hatten schon einen gewissen Einfluss. Insbesondere Lothar hat als Kapitän und Platzhirsch eine ganz große Rolle gespielt. Das hat er sehr gut gemacht. Aber es gab auch keine großen Probleme. Das hätte man mitbekommen - wie in Mexiko. In Italien musste keiner heimfahren", sagt Auge.

Er spricht in diesem Zusammenhang von einer natürlichen Hierarchie. Beckenbauer sei viel gelassener gewesen und habe auch die weniger wichtigen Spieler durch große Rotation bei Laune gehalten. "Es kam jeder mit jedem gut aus. Da hat niemand den Stinkstiefel gegeben, da hat sich keiner bei einem Haus-und-Hof-Journalisten ausgeheult."

In Italien lässt Beckenbauer die Leine länger, arbeitet nach dem Laissez-Faire-Prinzip und räumt seinen Schützlingen viele Freiheiten ein.

"Nach den Spielen wurde mit den Familien gemeinsam im Hotel gegessen. Es gab keinen Zapfenstreich. Jeder konnte trinken, was er wollte und ins Bett gehen, wann er wollte. Aber es galt: das Hotel nicht verlassen. Das hat uns zusammengeschweißt. Am nächsten Tag hat man dann beim Training ein bisschen was ausgeschwitzt."

An den freien Tagen dürfen die Familien die Spieler im Mannschaftshotel besuchen, an freien Nachmittagen fahren die Spieler zu ihren Familien in deren Hotels. Die in der Region beheimateten Legionäre Matthäus, Brehme und Klinsmann wiederum führen ein Freigänger-Dasein, verbringen regelmäßig Zeit in den eigenen vier Wänden.

"Man kann doch am besten entspannen und abschalten", sagt Augenthaler, "wenn man seine Familie um sich hat."

Regelmäßige Unternehmungen wie gemeinsame Ausflüge verstärken den Teamspirit. "Lothar kannte sich ja aus in der Region. Wir hatten ein Boot am Comer See, sind damit hin und wieder raus gefahren. Das war wie ein Betriebsausflug."

Die Spieler honorieren die Freiräume mit harter Arbeit, halten sich zwischen den Partien an die Regeln. "Wenn um 11 Uhr Zapfenstreich war, dann war auch jeder im Hotel. Da war keiner, der mal ausgebüchst ist. Also nicht wie früher in Malente, als Sepp Maier anscheinend über den Zaun gestiegen ist", sagt Augenthaler grinsend.