Stefan Böger im Interview: "Goretzka haben vom ersten Tag an alle zugeschaut und zugehört"

Stefan Böger arbeitete von 2008 bis 2013 als Nachwuchstrainer des DFB.
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Themenwechsel: Sie waren deutscher U16-Nationaltrainer, als Niklas Süle, Leon Goretzka und Serge Gnabry am 15. Oktober 2010 bei einem Testspiel gegen Nordirland Ihre Debüts im DFB-Trikot feierten. Wie sind Sie auf die drei aufmerksam geworden?

Böger: Im Rahmen des DFB-Sichtungssystems wurden die Spieler bereits von meinem damaligen Kollegen Frank Engel in der U15 gesehen und in Lehrgängen getestet. Als verantwortlicher U16-Trainer bekam ich beim zentralen Sichtungsturnier in der Sportschule Duisburg-Wedau einen ersten umfassenden Überblick über diesen Jahrgang. 21 Landesverbände mit je 16 Talenten spielten ein mehrtägiges Turnier. Gemeinsam mit meinen DFB-Trainerkollegen sowie den Verbandssportlehrern wurden die Burschen bewertet und in verschiedene Kategorien eingestuft. Etwa ein Drittel der dort vorspielenden 336 Jungs wurden anschließend in mehreren Lehrgängen beobachtet und die Besten zu ersten Länderspielen eingeladen. Unter ihnen waren Niklas, Leon und Serge.

Ist für die "Aussortierten" der sprichwörtliche Zug dann erst einmal abgefahren?

Böger: Von "Aussortierten" kann man wirklich nicht sprechen - im Gegenteil: Sichtung und Ausbildung im Jugendbereich sind ständige und langfristige Prozesse. Der DFB organisiert in den Folgejahren weitere Sichtungsturniere. So ist gewährleistet, dass kein Talent verborgen bleibt. Außerdem haben somit "Spätstarter" wie Joshua Kimmich die Gelegenheit, aufzuspringen. Jo war seinerzeit körperlich noch nicht so weit, wir haben uns deshalb entschieden, ihn immer wieder zu Lehrgängen zu berufen und ihn sorgsam an höhere Belastungen heranzuführen. So debütierte er erst über ein Jahr nach den anderen. Aufgefallen ist er mit toller Technik und seinem super Spielverständnis allerdings deutlich früher. Und vielleicht am wichtigsten: mit seiner vorbildlichen Mentalität und Lernwilligkeit.

Wie hat sich das geäußert?

Böger: Ich erinnere mich an einen aufgeweckten Jungen. Klug, neugierig und sehr interessiert an allen fußballspezifischen Fragen: "Trainer, warum ist das so und so? Trainer, warum soll ich das so und so machen?" Diese und ähnliche Fragen habe ich ihm gerne beantwortet. Er hat Aufgaben nicht wie die meisten anderen abgearbeitet, sondern sich damit wirklich beschäftigt. Deshalb hat es immer besonders Spaß gemacht, mit Jo zu arbeiten.

Die deutsche U17 im Jahr 2011 mit Trainer Stefan Böger (mittlere Reihe, 1.v.l.) Niklas Süle (mittlere Reihe, 4.v.r.), Serge Gnabry (vordere Reihe, 3.v.l.) und Leon Goretzka (vordere Reihe, 5.v.l.).
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Die deutsche U17 im Jahr 2011 mit Trainer Stefan Böger (mittlere Reihe, 1.v.l.) Niklas Süle (mittlere Reihe, 4.v.r.), Serge Gnabry (vordere Reihe, 3.v.l.) und Leon Goretzka (vordere Reihe, 5.v.l.).

Kimmich gilt als potenzieller künftiger Kapitän der deutschen Nationalmannschaft und des FC Bayern. War diese Führungsrolle damals schon absehbar?

Böger: Nein. Spieler in diesem Alter suchen gerade erst ihren Weg. Niemand weiß so ganz genau, wohin der mal führen wird. In der damaligen U16/U17 waren in ihrem Auftreten zunächst andere Spieler auffälliger. Leon Goretzka war der unstrittige Leader im Team. Er führte die Gruppe an - was insofern bemerkenswert war, als dass er nicht von Bayern, Dortmund oder Schalke, sondern vom vergleichsweise kleinen VfL Bochum kam. Trotzdem war er vom ersten Tage an derjenige, dem alle anderen zuschauten und zuhörten. Seine Mitspieler haben sich Ratschläge von Leon geholt und die auch angenommen. Es war beeindruckend, wie schnell die anderen ihm vertraut haben und er die Mannschaft als Kapitän geführt hat.

Was hat ihn konkret so besonders gemacht?

Böger: Als 15-jähriger ist man schnell ein bisschen aufmüpfig und versucht, mit einer großen Klappe Eindruck zu schinden. Leon jedoch hatte einen korrekten Umgang, was sicher auch an der guten Erziehung seiner Eltern lag. Er war einfach klar im Kopf und ist auf dem Platz mit Leistung vorneweg marschiert. Eine perfekte Mischung aus Leistung und Persönlichkeit. Aus dieser Rolle heraus ist er gegenüber dem Trainerteam aufgetreten und hat die Belange der Mannschaft vorgetragen. Das hat mir imponiert!

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Böger: Einmal hatten wir am Vormittag ein anstrengendes Training und für den Nachmittag war ein weiteres angesetzt. Leon hat sich nach Absprache mit seinen Mitspielern getraut, zu uns Trainern zu kommen und zu fragen: "Das war ein bisschen viel heute, können wir am Nachmittag vielleicht kürzer treten, eine Einheit im Schwimmbad machen oder einfach nur chillen?" Das ist für einen 15-Jährigen reif und mutig zugleich.

Leon Goretzka als Kapitän vor einem U17-Länderspiel gegen die Niederlande im September 2011.
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Leon Goretzka als Kapitän vor einem U17-Länderspiel gegen die Niederlande im September 2011.

Was waren Ihre ersten Eindrücke von Serge Gnabry und Niklas Süle?

Böger: Beide waren damals schon sehr gute Fußballer. Serge mit einer ausgereiften Technik und enormem Antritt, Niklas mit einer körperlich imposanten Erscheinung. Altersgemäß waren sie aber durchaus auch noch etwas albern und nicht so fokussiert.

Wie hat sich das gezeigt?

Böger: Niklas ist die Dinge manchmal recht sorglos und mit übertriebener Lockerheit angegangen. Vor allem bei eher tristen Übungen, die nicht unmittelbar etwas mit dem Ball zu tun hatten, war er etwas nachlässig: zum Beispiel bei Stabilisations- oder Langhantel-Training. Er hat einfach länger gebraucht, um zu begreifen, dass diese Dinge zwingend dazu gehören und ihn voran bringen. Mit der Zeit und der Hilfe auch gerade seiner Vereinstrainer ist er erwachsener und souveräner im Umgang mit anderen und sich selbst geworden. Seine Persönlichkeitsentwicklung hin zu professionellem Denken hat etwas länger als bei anderen gedauert, aber daran ist überhaupt nichts verwerflich.

Wann hat er das begriffen?

Böger: Die Qualifikation zur Endrunde der U17-EM 2012, die intensive Vorbereitung darauf und das Turnier selbst haben ihn sicher entscheidend geprägt.

Niklas Süle bei einem U16-Länderspiel gegen Zypern im Februar 2011.
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Niklas Süle bei einem U16-Länderspiel gegen Zypern im Februar 2011.

Serge Gnabry fehlte bei dieser Endrunde in Slowenien. Warum?

Böger: Serge spielte seit der U15 im Nachwuchs des FC Arsenal und hat die Teilnahme nach Gesprächen mit Trainer Arsene Wenger abgesagt. Er war vorher verletzt, noch nicht wieder 100 Prozent fit und hatte Sorge, dass er mit einer EM-Teilnahme seine Chancen auf eine Sommervorbereitung mit den Profis und erste Einsätze verringert.

War das die richtige Entscheidung?

Böger: Für ihn im Nachhinein gesehen sicherlich, aber damals habe ich das schon sehr bedauert. Trotz Führung haben wir durch eigene Fehler letztendlich das Finale gegen die Niederlande im Elfmeterschießen verloren. Wir hatten damals eine hervorragende Mannschaft mit tollen Einzelspielern - ein Serge in bester Verfassung hätte mit seinen Qualitäten aber bestimmt nochmal den Unterschied gemacht.

Was war er für ein Typ?

Böger: Ein hochtalentierter Junge. Ein Individualist, der seine Freiheiten brauchte. Freundlich, aber ähnlich wie Niklas zu der Zeit auch noch ein wenig albern. Seine Zeit in London hat ihm bei seiner Entwicklung sicher geholfen.