Mentalcoach Boltersdorf im Interview über Özil-Rücktritt: "Rassismus-Vorwurf gibt ihm Absolution“

Joachim Löw steht nach dem frühen WM-Aus in der Kritik.
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Die Diskussion um Mesut Özils Rücktritt aus der Nationalmannschaft ebbt nicht ab und nach wie vor sind viele Aspekte unklar. Im Gespräch mit dem renommierten Mentaltrainer Peter Boltersdorf versucht SPOX, mögliche Motive Özils zu beschreiben und seine Statements aus psychologischer Sicht zu interpretieren.

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Außerdem spricht Boltersdorf über die Gründe für das klägliche Scheitern der DFB-Elf bei der WM in Russland und einen der besonderen Vorzüge von Jürgen Klopp.

SPOX: Herr Boltersdorf, Ihre Berufung ist die Motivationspsychologie. Sie coachen sehr erfolgreich im Spitzensport wie in der Wirtschaft. Sie müssten doch wissen, warum die deutsche Nationalmannschaft bei der WM so kläglich scheiterte.

Peter Boltersdorf: Die Weltmeister-Hybris ist zugelassen und gefördert worden. Wir sind besser, haben sich alle gesagt. Und dann ist es so, dass man nicht begreift, dass man sich das Bessersein erarbeiten muss. Man fühlt es nicht, weil es ja einfach da ist.

SPOX: Wer trägt dafür die Verantwortung?

Boltersdorf: Das Trainerteam, ganz eindeutig. Man hat nicht oder nicht genug dafür getan, dass die Spieler sich dessen bewusst sind, dass eine Überlegenheit, die ja faktisch gegeben ist, sich erst über das Spiel einstellen muss. Das ist so wie im DFB-Pokal. Der höherklassige Klub kann ja nichts gewinnen, also müssen die Spieler einen Grund haben, ihre Überlegenheit auf dem Platz realisieren zu wollen. Ansonsten ist sie ja nur theoretisch vorhanden.

SPOX: Das heißt, man muss alternative Reize setzen? Können Sie uns ein Beispiel nennen.

Boltersdorf: Ein Ansatz wäre, die Spieler bei ihrer stärksten Emotionalität zu packen. Man könnte etwa sagen: "Lasst uns heute so spielen, dass unsere Kinder stolz auf uns sind, denn: Wenn wir nicht gewinnen, dann werden sie morgen auf dem Schulhof gehänselt." Das ist bei familienorientierten Menschen, wovon es im Profifußball überproportional viele gibt, eine massive Motivation. Ich bin schuld, wenn mein Sohn morgen in der Schule dumm angemacht wird? Das muss ich verhindern! Diesen Punkt etwa kann man nutzen. Gleichzeitig muss man aber eben auch explizit herausstellen, dass man sich Überlegenheit erst erarbeiten muss.

SPOX: Gerade beim Spiel gegen Südkorea wirkte die Mannschaft insgesamt sehr leidenschaftslos. Wenn der erste Hobbypsychologe dann fehlenden Einsatz moniert, dauert es oft nicht lange, bis die Rede auf Mesut Özil kommt. Warum wird er so gerne kritisiert?

Boltersdorf: Er gehört zu den Fußballern, die über ihre Körpersprache nun nicht so gigantisch dynamisch und aktiv wirken, was aber eine reine optische Täuschung ist. Wenn man sieht, wie viele Trainer ihn schon als Weltklasse beschrieben haben, kann man sich ja nicht hinstellen und behaupten, das stimme nicht. Der Vorwurf, er sei faul und habe keinen Kampfgeist - das ist alles Unsinn. Das hätten seine Trainer ja gesehen, und er hätte nicht so eine Karriere gemacht. Seine Bewegungsabläufe sind halt ein Stück weicher und runder als bei anderen, die eher so Kraftbolzen sind. Aber beides hat im Fußball ja seine Berechtigung.

SPOX: Das ist die objektive Beschreibung, trotzdem kommt er häufiger schlechter weg. Gerne wird im abgesprochen, seine Teamkollegen mitreißen zu können. Welche Qualitäten bringt er denn in ein Kollektiv ein, welche Fähigkeiten, die über sein fußballerisches Vermögen hinausgehen?

Boltersdorf: (lacht) Das Thema Team wird im Fußball völlig überschätzt. Das sind Konkurrenten um Plätze. Das einzige, was interessiert, ist: Kann der kicken oder nicht? Alles andere interessiert nicht. Man hofft dann immer, den Rest schon hinzukriegen. Und wenn einer gut kickt, dann überdeckt das den Rest. Wenn man sich jetzt fragt, warum Mesut Özil besonders gut ist, dann aufgrund der Tatsache, dass er ein Perfektionist ist. Perfektionisten trainieren mehr. Und wenn mehr Training und großes Talent aufeinandertreffen, dann kommt da Leistung heraus. Ein ganz anderes Thema wird meiner Meinung aber im gesamten Fußballbereich völlig unterschätzt.

SPOX: Welches?

Boltersdorf: Wie ich eingangs schon erwähnte, haben wir unter den Profifußballern eine unglaublich hohe Zahl an Menschen, die extrem familienfürsorglich orientiert sind. Das ist in einem Maße auffällig, dass ich mich wundern muss, dass sich keiner darum kümmert. Familie geht in diesem Zusammenhang aber über den allerengsten Kreis hinaus. Neben der Partnerin und den Kindern kommen weitere Verwandte hinzu, Freunde und theoretisch auch die Mannschaftskollegen.

SPOX: Mannschaftskollegen als Teil der Familie? Eher selten, oder?

Boltersdorf: Ja, aber alle, die so veranlagt sind, wären dazu bereit, wenn es denn möglich wäre, wenn es gelebt und gefördert würde. Aber das passiert so nicht. Dabei wäre diese familienfürsorgliche Orientierung ein wirksamer Ansatz, um daraus ein Team zu machen. Wenn ein Profi dieses Bedürfnis nun in dem Kontext Mannschaft nicht leben kann, dann sucht er sich einen anderen Kontext, wo das möglich ist. Das ist dann eben außerhalb der Mannschaft und für gemeinsame Interessen und den Zusammenhalt des Teams nicht förderlich.

SPOX: Da liegt also jede Menge Potenzial brach?

Boltersdorf: Familie ist einer der größten Motivationsaspekte im Profifußball. Im Vergleich zum "normalen" Teamgedanken haben wir dieses Motiv vier- bis fünfmal stärker ausgeprägt gefunden als die Teamorientierung. Aber leider kann man diesen Aspekt im Profifußball nicht leben. Das ist natürlich dann ein wunderbares Feld für Missverständnisse und Frustration.

SPOX: Das heißt, ein Spieler wie etwa Mesut Özil, dem allem Anschein nach Familie sehr viel bedeutet, bezieht seine Kraft aus diesem Umfeld?

Boltersdorf: Ja, da findet er die unmittelbare emotionale Belohnung. Es kommt ja nicht von ungefähr, wie häufig Fußballer nach dem Spiel ihre kleinen Kinder zu sich holen. Sowas wird dann verboten. Da kann ich nur noch lachen. Es mag ja Gründe dafür geben, aber aus Sicht der Motivation ist das eine Karte, die viel zu selten gespielt wird. Einer, der damit umzugehen versteht, ist Jürgen Klopp.

SPOX: Wie macht er das?

Boltersdorf: Er hat als einer der wenigen Trainer im Profifußball verstanden, wie wichtig das Thema ist, und dass er damit die Spieler wirklich abholen kann.

SPOX: Den Tipp hat er doch von Ihnen damals in Mainz bekommen, oder?

Boltersdorf: Ja schon, aber man muss es dann auch umsetzen und damit arbeiten. Und es ist Tatsache, dass Jürgen Klopp mit kaum einem Spieler je ein ernsthaftes Problem hatte. Sie fühlen sich bei ihm abgeholt und dazu gehört, dass ich als Trainer respektiere, dass meinen Spielern die Familie wichtig ist. Und umgekehrt wirkt sich das auf die Beurteilung des Trainers aus.

SPOX: Durch die Spieler?

Boltersdorf: Natürlich. Ein Trainer, der sehr distanziert ist, hat weniger Berührungspunkte mit den Spielern und auch weniger Einfluss. Spieler fühlen sich dann als Mensch nicht respektiert. Logisch.

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