Die Deutschen sind zu rational

Von SPOX
Mats Hummels ist voll fokussiert auf das Viertelfinale gegen Griechenland
© spox

Deutschland trifft im Viertelfinale der Europameisterschaft auf Griechenland (20.15 Uhr im LIVE-TICKER) und ist haushoher Favorit aufs Weiterkommen. Natürlich wird die Auswahl des DFB auch als heißer Titelkandidat gehandelt. Was aber denken die anderen großen Fußball-Nationen über die deutsche Mannschaft, ihre bisherigen EM-Leistungen und die Aussichten für den weiteren Turnierverlauf? Bei SPOX kommen Experten aus Frankreich, England, Spanien und Italien zu Wort. Sie alle halten große Stücke auf Joachim Löw und sein Team, sehen aber auch genügend Kritikpunkte.

Anzeige
Cookie-Einstellungen
Die Mannschaft ist zu rational

Eric Champel ist seit neun Jahren bei der "L'Equipe" und seitdem Deutschland-Korrespondent für Frankreichs Fachblatt Nummer eins.

Deutschland hat eine starke Mannschaft, sie haben die schwerste aller Gruppen mit neun Punkten abgeschlossen und sind als Erster ins Viertelfinale eingezogen. Gegen Griechenland sollte eigentlich nichts schiefgehen, dafür ist die deutsche Mannschaft zu stark.

Ich zweifle trotzdem daran, dass Deutschland auch Europameister wird. Man darf nicht vergessen, dass das Team bisher auch einiges Glück gehabt hat. Ich denke an Pepes Lattentreffer oder das elfmeterwürdige Foul an Nicklas Bendtner kurz dem Ende gegen die Dänen. Dann laufen beide Spiele ganz anders und Deutschland ist draußen.

Was mich sehr skeptisch macht, ist aber vor allen Dingen die Frage, wie die Mannschaft auf Dinge reagieren wird, die nicht vorgesehen sind und in den Planungen nicht auftauchen. Mir ist dieses Team zu uniform. Alle sind irgendwie gut miteinander befreundet, es gibt wenig Reibung im Team. Die flache Hierarchie ist gut, aber sie verbietet den dafür vielleicht geeigneten Spielern auch, mal auszubrechen. Es fehlt ein richtig bissiger Spieler, der dann in schwierigen Situationen auf dem Platz auch vorangeht.

Die Bayern haben dies im Finale gegen Chelsea sehr schmerzhaft erfahren müssen. Man kann ein Turnier nicht gewinnen, indem man vorher alles genau durchplant und sich dann darauf verlässt, dass alles auch so kommt. Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Fußball ist eine irrationale Sache und diese Mannschaft finde ich zu rational.

Bisher konnte man nicht sehen: Kann diese Mannschaft auch improvisieren? Was passiert bei einem Rückstand? Wie im Leben läuft auch im Fußball nicht alles nach Plan. Die Franzosen zum Beispiel sind aus einem tiefen Tal gekommen, sie haben immer wieder Rückschläge erlitten. Aber jetzt wissen sie damit auch umzugehen. Ich bin mir nicht sicher, ob die deutsche Mannschaft das bei diesem Turnier auch kann.

Deutschland vereint das Beste aus vielen Stilen

Rory Smith ist seit vier Jahren Redakteur bei "The Times" und begleitet seitdem die Spiele der deutschen Nationalmannschaft bei großen Turnieren.

Für mich ist Deutschland bisher die beste Mannschaft des Turniers. Sie bringen in der Offensive am meisten Geschwindigkeit auf den Platz, obwohl da noch Luft nach oben ist. Aber die Gegner in ihrer Gruppe - Holland ausgenommen - haben sie bisher auch sehr massiv und kompakt verteidigt.

Ich mag den multikulturellen Mix in der Mannschaft. Wir Engländer haben uns früher ja immer einen Spaß gemacht. Aber wo sind sie jetzt, die ganzen Dieters, Dirks und Heikos? Heute klingen die Namen exotisch und aufregender. Und genauso spielen die Deutschen auch. Das Team kann so viel Energie auf den Rasen bringen und vereint dabei das Beste aus vielen Stilen, die in Europa gerade angesagt sind. Und im Vergleich zu Spanien sehe ich ihr Offensivspiel flinker und beweglicher und weniger statisch.

Dabei haben sie die jungen Hoffnungsträger wie Mario Götze, Marco Reus oder Andre Schürrle bisher kaum oder noch gar nicht eingesetzt. Und dann gibt es noch diesen Miroslav Klose, den erfolgreichsten Torschützen nach Gerd Müller, der immer nur von der Bank kommt. Überhaupt muss die deutsche Bank die beste des gesamten Turniers sein. Die Diskussionen um die Besetzung des einzigen Angreifers kann ich nachvollziehen. Mario Gomez mag der bessere Vollstrecker im Strafraum sein, aber Klose macht das deutsche Passspiel meines Erachtens eine Stufe besser.

Was gerade für Spieler wie Thomas Müller oder Mesut Özil, die sehr viel ihrer Intuition und ihrem Instinkt folgen, das Leben leichter machen könnte. Klose kann die entscheidende Waffe werden in der K.o.-Runde, selbst wenn er weiter nur von der Bank kommt.

Sollte England im Halbfinale auf Deutschland treffen, sind die Deutschen klarer Favorit. Aber so weit wird es nicht kommen. England ist der krasse Außenseiter unter den acht verbliebenen Teams.

Dem Offensivspiel fehlt es an Tiefe

Pierfranco Arcchetti ist seit 23 Jahren Reporter bei der "Gazzetta dello Sport" und begleitet die deutsche Nationalmannschaft seit 1996.

Gemessen an den Ergebnissen spielt Deutschland bisher eine perfekte EM und ist sicherlich der Favorit auf den Titel. Aber die Mannschaft ist noch nicht bei einhundert Prozent. Der Viererkette fehlt etwas die Abstimmung, offenbar war doch nicht genügend Zeit, um sich noch besser aufeinander abzustimmen. Bisher ist das noch nicht so ins Gewicht gefallen, aber ab sofort kann jeder kleine Fehler tödlich sein.

Ich sehe in der Offensive zwei grundlegende Faktoren: Deutschland benötigt über die Flügel mehr Tempo und Geschwindigkeit in seinen Aktionen. Thomas Müller und Lukas Podolski sind bisher ordentlich, aber wenn die Mitte dicht ist, müssen sie sich steigern. Und es fehlt dem Offensivspiel an Tiefe. Das hat auch mit der Bewegung des Angreifers zu tun. Gomez hat das gegen Dänemark sehr gut gemacht, da aber kein Tor erzielt. Dem Spiel hat das eine Halbzeit lang aber sehr gut getan. Özil hat es schwer, weil er wenig Platz hat. Er darf sich aber nach ein, zwei starken Aktionen auch nicht immer lange Auszeiten nehmen. Sein Spiel muss dominanter werden.

Deutschland hat das Problem, das es neben Spanien die Mannschaft ist, die nicht diesen modernen Catenaccio spielen will, den jetzt fast alle anderen spielen. Deshalb vertraut Löw auch immer diesen 16, 17 Spielern und seiner Startelf. In einem Turnierspiel kann er kaum anfangen, die jungen Spieler wie Reus, Schürrle oder Götze plötzlich von Beginn an zu bringen. Das sind keine Testspiele gegen Brasilien Anfang August. Das ist die EM!

Dazu war ein Spieler wie Götze monatelang verletzt. Ich glaube dennoch, dass Löw, der bisher sehr konservativ aufgestellt und gewechselt hat, einen Plan im Kopf hat, wie er bei einem bestimmten Spielverlauf wechseln will. Dann hat er drei oder vier Spieler, die er je nach Situation bringen kann. Zudem darf man nicht vergessen, dass es bis zu einem möglichen Halbfinale wieder fünf Tage sind, also genügend Zeit zur Regeneration bleibt.

Sollte Deutschland dann auf Italien treffen, ist die Mannschaft Favorit. Sie kennt sich jetzt seit zwei Jahren, hat sich weiterentwickelt und ist im Stamm gewachsen. Italien ist gegen Deutschland immer gefährlich, aber Prandelli sucht noch nach der besten Formation. Da ist Deutschland einen kleinen Schritt weiter.

Es stockt im Mittelfeld

Cayetano Ros Palau ist seit 17 Jahren Sportredakteur bei der größten spanischen Tageszeitung "El Pais" und berichtet seit 1996 von allen großen Endturnieren. Bei der EM 2012 begleitet er die deutsche Mannschaft.

Deutschland hat bisher einiges gezeigt - aber noch lange nicht alles. Das Problem ist: ich bin mir nicht sicher, ob sie noch voll auf Touren kommen werden bei diesem Turnier. Ich sehe ein großes Problem im deutschen Mittelfeld, das bisher vielleicht 60 Prozent seines Potenzials abruft. Bastian Schweinsteiger ist nicht fit, das ist nicht der Schweinsteiger, den man kennt und fürchtet. Er läuft viel, aber er gibt der Mannschaft nicht den Schwung, den sie für ihr schnelles Angriffsspiel braucht.

Bisher stockt es im Mittelfeld, die Ballzirkulation ist zu langsam. Dazu sind die Außen Müller und Podolski noch nicht gefährlich genug. Ich will deshalb unbedingt auch Reus sehen! Das ist der etwas andere Spieler, er ist frisch, bringt neue Ideen. Insgesamt merkt man der Mannschaft an, dass sie die jüngste des Turniers ist.

Die Defensive ist im Großen und Ganzen okay, Holger Badstuber hat mich mit seinen Leistungen positiv überrascht. Aber in den kleinen Details sind sie verwundbar. Ich denke, ihnen fehlen zwei Spiele, um noch besser miteinander harmonieren zu können.

Das ist ein Ergebnis der kurzen Vorbereitung und jetzt muss Löw eben irgendwie damit klarkommen. Ich vertraue voll auf ihn und seine Ideen. Ich mag Löw, er ist ein Gentleman. Und ich mag seine Vision vom Fußball. Neben Spanien ist Deutschland die einzige Mannschaft in diesem Turnier, die von der 1. bis zu 90. Minute angreifen will.

Dazu hält sich die Mannschaft an Tugenden wie das Fairplay, sie respektiert ihren Gegner zu jeder Zeit. Das bringt ihr sehr große Sympathien ein, ich denke nicht nur in Spanien. Sollten sich Spanien und Deutschland im Finale treffen, wird die deutsche Mannschaft dieses Mal die große Chance haben, uns zu schlagen. Die Seleccion hat mehr Probleme als bei den letzten beiden Turnieren, besonders in der Defensive. Sie vermissen Carles Puyol. Ich denke, Jogi Löws Team wäre dieses Jahr einen Tick im Vorteil.

Die EM 2012 im Überblick

Artikel und Videos zum Thema