Auch blinde Jäger schießen mal ein Tor

Von SPOX
Roger Schmidt führte Bayer Leverkusen in seiner ersten Saison in die Champions League
© imago

Vom anfänglichen Hurrafußball unter Roger Schmidt hat sich Bayer Leverkusen mittlerweile verabschiedet. Nur der Trainer hält noch an seiner ursprünglichen Idee fest und verliert das Wesentliche dadurch aus den Augen. Vom sportlichen Kollaps ist die Werkself zwar noch weit entfernt - vom Maximum aber auch.

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Ein szenischer Einstieg in einen Bericht, in dem Roger Schmidt eine wesentliche Rolle spielt, ist einfach - sollte man meinen. Schließlich hat jeder Fußballfan die Bilder der letzten Saison vor Augen, als Bayer mit Leidenschaft, Power und vor allem Tempo überfallartig auf die Gegner losging und so häufig zum frühen Torerfolg kam.

Selbst dem neutralen Zuschauer machte es Spaß, der Werkself zuzuschauen. Seit Jürgen Klopps BVB hatte keine Mannschaft mehr in der Bundesliga einen so deutlichen Turnaround in Sachen Energie und Dynamik geschafft.

Doch auch das ist mittlerweile schon ein Jahr her. Spätestens seit dieser Saison scheint die Leichtigkeit des Leverkusener Seins verflogen, die Vollgas-Entwicklung stagniert. Betrachtet man heute ein Spiel der Werkself, bieten sich einem andere Bilder. Unterschiedliche Bilder. Mal ansehnliche, mal verwirrende. Und über alledem steht die Frage: Welches ist das wahre Bild von Bayer Leverkusen?

Die Frage der Konzept-Tauglichkeit

"Der Trainer hat ein tolles Konzept und beweist uns jeden Tag im Training, dass wir eine gute Entscheidung getroffen haben, mit ihm mittelfristig etwas aufbauen zu wollen", lauteten dieser Tage die Worte von Geschäftsführer Michael Schade. Doch wie toll ist dieses Konzept wirklich? Ist es überhaupt noch ausgereift?

Zwar hat Bayer am Wochenende mit dem 3:1-Sieg in Frankfurt den kleinen Umschwung nach zuletzt drei Pflichtspiel-Niederlagen in Folge geschafft. Fakt ist aber auch: Dass es diesen Umschwung überhaupt wieder einmal benötigte, ist für die letzten Monate bezeichnend.

Eine der akuten Baustellen ist aktuell die Spielausrichtung selbst. Schmidt beschrieb sie vor einigen Wochen im Interview mit 11Freunde folgendermaßen: "Bei gegnerischem Ballbesitz gehen wir gemeinsam auf die Jagd: Viele Hunde sind des Hasen Tod." Es ist sein Verständnis von temporeichem Fußball und daran will er kompromisslos festhalten.

Der vergessene nächste Schritt

Mit seiner taktischen Anordnung bringt Schmidt zwei Dinge zum Ausdruck: Mut und Vertrauen. "Für mich ist frühes Attackieren das beste Mittel zur Verteidigung", erklärt der Trainer, dem von Anfang an klar war, dass er mit dem hohen Aufrücken des gesamten Teams auch ein großes Risiko in Sachen Konteranfälligkeit einging.

Dass Bayer in dieser Hinsicht lange Zeit nur wenige Probleme hatte, führte Schmidt auf das "konsequente Verteidigen auf allen Ebenen" zurück. Und auf die "große Bereitschaft der überspielten Spieler, sofort nach hinten zu schließen". Seine Anweisung ist klar: Alle Spieler orientieren sich in erster Linie am Ball, dann am Mit- und zuletzt am Gegenspieler.

Gerade in der Anfangszeit unter Schmidt ging das gut, weil das Team darauf brannte, etwas anders zu machen als zuvor und den Gegner damit zu überraschen. Die Einzelnen stellten sich in den Dienst der Mannschaft und folgten den Vorgaben von außen. Stets unter der Prämisse, die individuellen Fähigkeiten erst einmal hinten anzustellen.

Bayer entwickelte sich gut und prägte diesen Spielstil im letzten Jahr wie keine andere Mannschaft. Doch dann vergaß Schmidt, den nächsten Schritt zu machen.

Ein unflexibles Gerüst

Denn der Leverkusener Kader ist zu viel mehr in der Lage, als nur stur dem Ball hinterher zu rennen und sich ausschließlich über den Kampf und Einsatz zu definieren. Mit Calhanoglu, Bellarabi und nun auch Mehmedi, Chicharito oder Kampl stehen Schmidt mehrere Spieler zur Verfügung, die nicht nur jagen, sondern auch spielen können.

Genau dieser Aspekt blieb in den vergangenen Wochen jedoch zu häufig auf der Strecke. Das Leverkusener Spiel nach vorne zeigt selten wiedererkennbare Muster. "Wenn wir als Mannschaft geschlossen agieren, sieht auch jeder einzelne Spieler besser aus", nahm Schmidt sein Team vor der Abreise zum Spiel in Borisov (18 Uhr im LIVETICKER) in die Pflicht. Doch darin allein steckt nicht des Rätsels Lösung.

Denn gerade Calhanoglu oder Bellarabi wollen den Ball am Fuß. Sie brauchen gewisse Freiheiten, in denen sie ihre Kreativität und Geistesblitze ausleben können. Oft macht es den Anschein, als fühlten sich einige Spieler jedoch zu sehr in ein unflexibles Gerüst gesteckt, das ihnen die Beweglichkeit und vor allem das Selbstvertrauen nimmt.

Auch blinde Jäger schießen mal ein Tor

Es ist nicht so, dass Bayer nicht kann oder nicht will. Das aktuelle Auftreten erweckt nur den Eindruck, als sei das von Schmidt vorgegebene Spiel alternativlos. Und so kommt es, dass sich die Elf auf dem Platz zwar bemüht, sich durch die fehlenden Muster im Offensivspiel jedoch ständig im Leerlauf befindet.

"Wir wollen das bestätigen, was wir in Frankfurt gut gemacht haben. Dort haben wir das mannschaftliche Funktionieren in den Mittelpunkt gestellt. Wir sahen insgesamt wieder besser aus, das war sicherlich ein Fortschritt", sagte Schmidt am Montag. Und doch wusste auch er, dass die Partie in Hessen noch weit weg von Leverkusens maximaler Leistungsfähigkeit war.

Schade machte vor dem Spiel in Borisov klar, dass die Trainerfrage bei Bayer "kein Thema" sei. Was Schmidt aktuell jedoch vor größerem Gegenwind bewahrt, sind vor allem die Individualisten im Team. Sie sind es, die trotz der zuweilen blinden Jagd ein Spiel durch Einzelleistungen auch ohne funktionierendes Konzept entscheiden können. Das Potenzial ließe aber noch viel mehr zu.

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