Mythos Wembley: Todgeweihte leben länger

Von Arne Behr
Das Wembley-Stadion ist der Austragungsort des Champions-League-Finals 2012/2013
© Getty

Am 25. Mai 2013 werden Borussia Dortmund und der FC Bayern München das erste rein deutsche Finale um den Champions League-Pokal im Londoner Wembley-Stadion austragen (Sa., 20.30 Uhr im LIVE-TICKER). Ein Endspielort, von dem schon immer eine ganz besondere Aura und Magie auszugehen schien. Doch wie wurde aus einer Sportstätte, die eigentlich gar keine werden sollte, das legendäre Wembley? Zur Geschichte eines Mythos.

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Im Grunde beginnt die Legende von Wembley schon, lange bevor überhaupt ein Gedanke daran entstanden war.

Denn bereits seit den 80er Jahren des vorletzten Jahrhunderts soll auf dem Grund des Stadions im Londoner Stadtbezirk Brent Fußball gespielt worden sein. Als das Wembley-Stadion 1923 zunächst unter dem Namen "British Empire Exhibition Stadium", oder einfach "Empire Stadium" erbaut wurde, hatte es somit bereits bei seiner Entstehung eine überlieferte Vergangenheit.

Ursprünglich jedoch sollte das 750.000 Pfund-Projekt nach der britischen Kolonialausstellung 1924/25 direkt wieder abgerissen werden. Glücklicherweise sollte das noch einige Zeit dauern.

Das "White Horse-Final" 1923: Die Geburt eines Mythos

Das erste Fußballspiel im Empire Stadium war das FA-Cup-Endspiel zwischen den Bolton Wanderers und West Ham United 1923.

Da man im Vorfeld der Partie aufgrund des niedrigen Interesses die Werbetrommel gerührt hatte, drängten an diesem Nachmittag des 28. April 1923 nach späteren Schätzungen weit über 200.000 Menschen in die Arena. Das Fassungsvermögen des neuen Stadions lag damals bei ungefähr 120.000.

Vor den Augen von König Georg V., der den Siegerpokal übergeben sollte, drohte dem Endspiel die Verlegung, bis berittene Einheiten der Metropolitan Police die Massen schließlich langsam und behutsam wieder an den Rand des Spielfeldes drängen konnten.

In Erinnerung an Police Constable George A. Scorey und seinen Schimmel "Billy" ging das erste Fußballspiel in Wembley als "White Horse Final" in die Geschichte ein. Es gab rund 1.000 Verletzte, aber keinen einzigen Toten. Das Stadion jedoch hatte seine erste Geschichte und seine besondere Aura, noch bevor die Kolonialausstellung überhaupt stattfand.

Titel, Tränen, Triumphe

Wembley ist bis heute nie Heimstatt eines Vereins gewesen, sondern war stets nur für die wirklich wichtigen Veranstaltungen vorgesehen.

Doch die Arena muss keine Angst haben, jemals zu einem der vielen weißen Elefanten zu werden, also der Stadien rund um den Erdball, die nach einem Großereignis nutzlos in der Landschaft stehen und langsam verrotten. Im Gegenteil: Vielleicht nirgendwo sonst sind Titel und Triumphe so großartig und zeitlos, Tränen der Niederlage so bitter und endgültig wie auf dem "hallowed turf".

Für den großen Pele, der selbst nie dort gespielt hat und das bis zum heutigen Tag bedauert, war Wembley immer die Kirche und das Herz des Fußballs. Mehr Erhabenheit geht wohl nicht.

Große Spiele, große Spieler: Von Sir Stanley bis Oliver Bierhoff

Legenden müssen in Wembley siegen. Das gilt natürlich in besonderem Maße für Legenden britischer Herkunft.

Trotz des einzigen Hattricks in einem FA-Cup-Finale des alten Wembley von Stan Mortensen fand das 1953er-Finale des FA-Cups als "Matthews-Finale" Eingang in die Geschichtsbücher.

Denn Blackpools rechter Außenläufer Stanley Matthews durfte bei seinem dritten und letzten Versuch endlich den Pokal in den Londoner Himmel strecken - der entscheidende Makel von Europas erstem Fußballer des Jahres war endlich beseitigt. Vier Jahre später sollte er von Königin Elisabeth II. in den Adelsstand erhoben werden.

1966: Englands Sternstunde

13 Jahre später wird Wembley dann endgültig zum Mythos, als der englische Fußball gegen Deutschland seinen größten Sieg feiert und das berühmteste Tor der Fußballhistorie erzielt. Geoff Hurst überwindet Hans Tillkowski, der Ball springt von der Latte auf den Boden und wieder ins Feld zurück, Bulle Weber köpft ins Aus.

Schiedsrichter Gottfried Dienst entscheidet nach Rücksprache mit Linienrichter Bachramow auf Tor für England. Die meisten Fußballfans, selbst die, die damals noch nicht auf der Welt waren, können die Namen und den Tathergang dieser entscheidenden Augenblicke des WM-Finales 1966 noch immer im Schlaf aufsagen.

Berühmt auch die Aufnahme des völlig niedergeschlagenen Uwe Seeler, der nach dem soeben verlorenen Finale mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern vom Feld trottet. Gibt es überhaupt ein Bild, das die grenzenlose Enttäuschung und Trauer klarer ausdrückt als diese Ikone des Fußballsports?

1996: 22 Spieler und immer die Deutschen

Erst dreißig Jahre später konnten die Deutschen ihr Wembley-Trauma halbwegs überwinden. Im Halbfinale der Europameisterschaft traf das Team von Bundestrainer Berti Vogts in London auf die englische Auswahl um Paul Gascoigne und Alan Shearer.

Die Niederlage nach einem dramatischen Spiel im Elfmeterschießen etablierte das englische Stigma vom Elfmetertod gegen die Deutschen endgültig in den Köpfen der Briten. Auch Wembley hatte nicht helfen können. Mit dem ersten und einzigen Golden Goal durch Oliver Bierhoff aber war der erste deutsche Titelgewinn auf dem heiligen Rasen perfekt.

Das Ende der Twin Towers

Im Jahr 2003 schließlich hatte das letzte Stündlein für das altehrwürdige Wembley Stadium geschlagen. Schon seit Ende 2000 wurden dort keine Spiele mehr ausgetragen, drei Jahre später folgte der Abriss der legendären Sitzplatz-Arena und der Twin Towers im 80. Jahr ihres Bestehens. Für manchen Nostalgiker ist mit dem alten Stadion ein Stück Fußballgeschichte unwiederbringlich dahin gegangen.

Und das neue Großprojekt hatte einen denkbar schlechten Start: Die Kosten des Baus mussten mehrmals von ursprünglich 326 Millionen Pfund Sterling auf schließlich 800 Millionen Pfund an reinen Stadionkosten korrigiert werden, die Gesamtkosten werden auf 1,4 Milliarden Euro geschätzt. Die Wiedereröffnung der neuen Arena verzögerte sich zudem um ein Jahr bis zum 23. März 2007.

Das neue Wembley-Stadion

Schließlich wird ein komplett neues Stadion präsentiert, das rein äußerlich nichts mehr mit seinem Vorgänger zu tun hat. Die neue hypermoderne Sportstätte fasst jetzt 90.000 Menschen und ist nach Camp Nou in Barcelona das zweitgrößte Stadion in Europa. Weithin sichtbar ist der 133 Meter hohe Leuchtbogen, das neue Wahrzeichen Wembleys.

Zur Royal Box sind es nun nicht mehr 39, sondern 107 Stufen. Einzig das Museum, in dem unter anderem auch die Torlatte von '66 ausgestellt ist sowie die "White Horse Bridge", eine Fußgängerbrücke, die über den Bahnhof Wembley zum Stadion führt, erinnern an vergangene Zeiten.

Dabei verdient selbst die White Horse Bridge ihren Namen eigentlich nicht, denn als bei einer Umfrage auf der Internetseite der Baufirma über einen Brückennamen abgestimmt werden durfte, fand sich zur Überraschung vieler der Vorschlag "Dietmar Hamann Bridge" wieder.

Die Freude der sicherlich zum großen Teil deutschen Teilnehmer muss diebisch gewesen sein, als sie erfuhren, dass ihr Vorschlag, benannt nach dem letzten Torschützen vor dem Abriss, gewonnen hatte. Der Sieger schaffte es letztlich nicht einmal in die Endauswahl, was zu erwarten gewesen war und den Triumph eher noch vergoldet haben dürfte.

Der Mythos lebt weiter

Wie allgegenwärtig die Geschichte und wie ungebrochen die Strahlkraft Wembleys ist, war auch beim zweiten Länderspiel der Three Lions nach der Wiedereröffnung 2007 gegen Deutschland zu spüren. Konnten die deutschen Anhänger am 7. Oktober 2000 noch "We won the last game in Wembley" skandieren, hieß es sieben Jahre später folgerichtig "We won the first game in Wembley".

Der heilige Rasen ist eben noch immer heilig, das Stadion nach wie vor ein sublimer und mythischer Ort, an dem man das englische Fußballherz schlagen hört.

Spät, vielleicht sehr spät abends am 25. Mai 2013 wird die Kirche des Fußballs also um ein besonderes Kapitel reicher sein. Denn unglaublich, aber wahr: Die Niederlage von 1860 München gegen West Ham United im Finale des Pokalsiegerwettbewerbs 1965 wird bis dahin das einzige Europapokal-Endspiel in Wembley gewesen sein, an dem eine deutsche Mannschaft überhaupt beteiligt war. Die 60er verloren damals mit 2:0.

Wer auch immer also dann den Henkelpott in den Nachthimmel strecken darf, es wird der erste deutsche Wembley-Sieger auf Vereinsebene sein.

Es bleibt die sehr berechtigte Hoffnung, dass diesem Moment ein Spiel vorausgegangen sein wird, das es wert ist, in die Annalen von Wembley aufgenommen zu werden

Dortmund - Bayern: Daten und Fakten zum Spiel