Der Schrecker erfindet sich neu

Von Fatih Demireli
Manuel Neuer kassierte in der Bundesliga-Saison nur 18 Tore
© getty

Manuel Neuer war in dieser Saison weitestgehend beschäftigungslos. Eine Situation, die für den Torhüter des FC Bayern München nicht ganz unproblematisch ist, kann er sich doch zu selten auszeichnen. Die Krux: Die Beschäftigungslosigkeit ist auch ein Verdienst Neuers. Inzwischen hat er reagiert. Das Champions-League-Finale gegen Borussia Dortmund wird eine wichtige Rolle spielen.

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Frank McCay ist eine echte Institution. Er ist ein ausgewiesener Experte seines Fachs und deshalb ein Idol für viele Jungsspunde. McCay, auch "der Furchtbare" genannt, ist ein Profi-Schrecker. Er ängstigt Kinder und ist in dieser Disziplin der Beste der Welt.

Manuel Neuer ist ebenfalls eine echte Institution. Er ist ein ausgewiesener Experte seines Fachs und längst ein Idol für viele Jugendliche. Neuer ist Fußball-Torwart und gilt in diesem Ressort als einer der Besten der Welt.

Neuer und McCay haben im Grunde nichts miteinander zu tun. McCay ist eine fiktive Figur im neuesten Animationsstreifen "Monster Uni". Neuer gab der oktopusähnlichen blauen Gestalt mit den überlangen Armen seine Stimme. Geneigte Zuschauer können sich im Kino ab 21. Juni von den Fähigkeiten Neuers als Synchronsprecher und Schrecker überzeugen.

Statement-Spiel, die Nächste

Zuvor muss Neuer aber einen weitaus bedeutsameren Nachweis antreten. Das Champions-League-Finale im Wembley-Stadion am 25. Mai zwischen Bayern München und Borussia Dortmund bietet Neuer die erneute Chance, ein Statement-Spiel abzuliefern - auf dem denkbar höchsten Niveau.

Die ersehnte erste Meisterschaft hat er seit Wochen in der Tasche. Der FC Bayern stellte einen neuen Gegentor-Rekord auf, weil die Münchener nur 18 Tore zuließen.

Unnötig zu erwähnen, dass auch der Torhüter daran Anteil hat. Wie groß oder bedeutsam dieser eingeschätzt wird, hängt sicher von der Betrachtungsweise ab. Man kann es wohl niemandem verübeln, wenn er Neuer nicht als eine der Hauptfiguren im bajuwarischen Spitzenensemble identifiziert.

Schuld daran ist die Beschäftigungslosigkeit in vielen Spielen. In Neuers Kerngeschäft ist einfach nicht genug los.

Dem Bayern-Torhüter ist die Situation durchaus bewusst. "Ich freue mich, wenn ich mich auszeichnen kann", sagt Neuer zur seiner etwas seltsamen Situation. "Aber ich kann ja den Abwehrspielern nicht sagen: Jetzt lasst mal einen vorbei." Und wenn doch mal einer durchkam, blieben vor allem die (vermeintlichen) Fehler des Bayern-Torhüters im Gedächtnis hängen.

Fehler bleiben hängen

So wie in Nürnberg, als er einen Weitschuss von Markus Feulner nicht abwehren konnte. Neuer wollte damals keinen Fehler gesehen haben und reagierte patzig auf die Vorwürfe. Unstrittig die Situation beim 6:1 in Hannover, als er einen Freistoß seines Ex-Kollegen Christian Pander halbgar abprallen ließ, sodass Andre Hofmann nur noch abzustauben brauchte.

Gar Pfiffe erntete er für seinen dicken Patzer in der Nationalmannschaft gegen Kasachstan, als er nach einem Rückpass ein Dribbling versuchte und damit das Gegentor verschuldete. Selbst Oliver Kahn, eigentlich ein erklärter Fan seines Nach-Nachfolgers, kritisierte damals Neuers permanente Versuche, Situationen spielerisch zu lösen: "Torhüter entscheiden Spiele nicht dadurch, dass sie fußballerisch brillieren, sondern mit spielentscheidenden Reflexen und Paraden."

Bayerns Verantwortliche lassen auf Neuer dagegen nichts kommen. Trainer Jupp Heynckes sagte wiederholt: "Manuel spielt eine hervorragende Saison." Eine Aussage, die sich allerdings auf mehrere Facetten des Torwartspiels stützt.

Eine neue Rolle

Klar ist, dass Neuer, der noch nicht einmal in der Champions League gegen den FC Barcelona ordentlich zupacken durfte, mit anderen Maßstäben gemessen werden muss als mancher seiner Kollegen in der Bundesliga.

In einem Interview mit der "FAZ" nahm sich Neuer diesem Thema an. Angesprochen auf seine Rolle, die besser mit Abwehrorganisator als Ballfänger umschrieben ist, ließ Bayerns Schlussmann durchaus Interessantes verlauten: "Man braucht (als Torhüter) ein super Spielverständnis. Vielleicht gibt es auch Torleute, die dafür nicht so den Plan haben. Die sind stark im Hechten oder Ballrunterpflücken, aber das Spielverständnis spielt heute eine Riesenrolle."

Und er sagte auch: "Wenn du dem Mitspieler eine Fehlinformation gibst, steht er dadurch falsch. Man muss ein Spiel lesen können." Neuer musste sich beim FC Bayern als Torwart nicht neu erfinden, aber sein Aufgabenfeld neu ausrichten. Zum einen, um ganz einfach nützlich zu sein, aber auch um die Konzentration hochzuhalten.

Das Spiel mit den Balljungen

Neuer erzählt: "Für mich ist die Belastung eher eine psychische. Es gibt Spiele, in denen ich lange nichts zu tun bekomme. Ich halte mich dann durch das Sprechen mit den Vorderleuten, durch das Dirigieren und Organisieren wach."

Dass er sich in Spielen mit den Ersatzspielern und Balljungen beschäftigt, hat nichts mit Arroganz zu tun: "Wenn wir eine Ecke haben, schnappe ich schon mal einen Ball vom Balljungen und lasse den ein paar Mal aufticken, um das Gefühl zu behalten." Um dann in der nächsten Situation voll da zu sein.

Die mangelnde Herausforderung könnte zur Krux für Neuer werden, zumal auch die Entwicklung seiner Basisarbeit darunter leidet. Neuer ist womöglich der beste mitspielende Torhüter der Welt, in den torwartspezifischen Disziplinen ist Entwicklungspotenzial dagegen durchaus vorhanden. Neuer stimmt zu: "Wenn man aufhört, sich zu verbessern, hat man keinen Spaß mehr am Fußball. Ich versuche mich weiterzuentwickeln."

Buffon-Lob

Die internationale Anerkennung hat sich Neuer längst verdient. Juventus-Ikone Gigi Buffon, für viele jahrelang der beste Torhüter der Welt, ist sich sicher, dass Neuer "ein sehr guter und starker Torwart ist, der alle Fähigkeiten hat, um eine Epoche zu prägen".

Auch Nationaltrainer Joachim Löw schätzt Neuer. Selbst wenn inzwischen mit Rene Adler, Ron-Robert Zieler und Marc-Andre ter Stegen einige Konkurrenten Schlange stehen, ist die Rolle des Bayern-Stars unumstößlich. Als rund um das Kasachstan-Spiel Kritik aufkam, wütete der Bundestrainer über die Pfiffe, wie man es vorher noch nie erlebt hatte. Neuer solle sein Spiel "auf keinen Fall" umstellen.

Sollte der FC Bayern die Champions League gewinnen, wird Neuer - ob mit öffentlich wirksamen Paraden oder nicht - jede Argumentation um seine Person mit dem Verweis auf den Henkelpott widerlegen und das erwartete Statement abliefern können. Und sich dann genüsslich Frank McCay und dessen Freunde anschauen können.

Manuel Neuer im Steckbrief