Paul Scholes: Der Mann im Schatten

Von Stefan Moser
Paul Scholes (r., mit Wayne Rooney) steht seit 1992 bei Manchester United unter Vertrag
© Getty

Paul Scholes ist der stille Star von Wolfsburgs Champions-League-Gegner Manchester United (20.30 Uhr im LIVE-TICKER und auf SKY). Er gilt als Genie. Doch Scholes verträgt keine Sonne, hasst das Scheinwerferlicht - und ist der wohl meist unterschätze Spieler im europäischen Fußball.

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Kurz nachdem Cesc Fabregas im Frühjahr 2007 von seiner Nominierung für die Wahl zum Fußballer des Jahres erfahren hatte, stellte ein besonders trickreicher Reporter dem damals 19-Jährigen die folgende rhetorische Falle, um sein Selbstvertrauen auf die Probe zu stellen: "Wer ist nun wirklich der beste Spieler in England: Cristiano Ronaldo oder Didier Drogba?"

Fabregas: "Ich hoffe, ich erreiche eines Tages seine Klasse"

Fabregas zögerte keine Sekunde, winkte lässig ab und sagte ohne jeden Zweifel in der Stimme: "Es ist Paul Scholes. Denn der kann alles: Er spielt fantastische Pässe, macht selbst viele Tore und er ackert wie ein Gaul. Ich hoffe, ich erreiche eines Tages seine Klasse."

Vorschau: Wolfsburg vor dem Spiel in Manchester

Tatsächlich spielte Paul Scholes im Alter von knapp 33 Jahren vielleicht die stärkste Saison für Manchester United. Das war bemerkenswert, denn seine Karriere hing noch im Winter davor am seidenen Faden.

Im Dezember 2005 hatte der Mittefeldstratege im Liga-Spiel gegen Birmingham einen Schlag gegen den Kopf erlitten. Scholes sah daraufhin für mehrere Wochen doppelt, noch heute sieht er auf dem rechten Auge leicht verschwommen.

Scholes' Stärken: Hirn und Klasse

Nach sechs Monaten aber gab er sein umjubeltes Comeback, zog an der Seite von Michael Carrick sofort wieder die Fäden im Mittelfeld, führte United zum Titel - und wirkte stärker als je zuvor: "Er ist frisch und befreit, er scheint seinen Beruf noch mehr zu lieben als zuvor, er ist unser bester Neuzugang der Saison", schwärmte Alex Ferguson damals.

Und Manchesters Trainer machte nie einen Hehl aus seiner Bewunderung für Paul Scholes: "Er ist einfach fabelhaft, seinetwegen funktioniert meine Mannschaft. Er spielt lang oder kurz, dribbelt, greift an, kommt zum Abschluss. Paul hat sich schon immer durch zwei Dinge ausgezeichnet, die man selten vereint findet: Hirn und Klasse", so Ferguson.

Fußballer des Jahres freilich wurde trotz aller Lobeshymnen sein Teamkollege Cristiano Ronaldo vor Didier Drogba. Dass Scholes sich über seinen dritten Platz freute, darf man ihm durchaus glauben - denn der blasse Rotschopf steht buchstäblich gerne im Schatten.

UV-Strahlung und Scheinwerfer-Licht sind nichts für Scholes

Scholes verträgt kaum starkes Sonnenlicht, weil zu viel Hitze sein Asthma zusätzlich verstärkt. Seine Atembeschwerden in der portugiesischen Sonne waren ein Grund dafür, dass er bereits nach der EM 2004 seine Karriere in der Nationalmannschaft beendete.

Noch mehr als die UV-Strahlung meidet er allerdings das Scheinwerferlicht: "Eine öffentliche Person zu sein, ist für mich ein echtes Problem. Ich hasse es, über mich selbst zu reden, das ist mein größter Albtraum."

Fußballerisch, so sagt Scholes selbst, verdankt er viel seinem frühen Vorbild Eric Cantona. Charakterlich aber könnten die beiden United-Legenden unterschiedlicher nicht sein: Während der Franzose sein Image als Enfant terrible gerne pflegte, ist Scholes der Prototyp des bodenständigen Engländers.

"Er hat etwas Mystisches"

Er spielte sein ganzes Leben lang nur für Manchester United, er hat auch heute noch keinen Spielerberater, lebt zurückgezogen auf dem Land - und auf die Frage noch dem perfekten Tag antwortet Scholes ohne mit der Wimper zu zucken: "Am Vormittag Training, dann die Kinder aus der Schule holen, mit ihnen spielen, Tee trinken, die Kinder ins Bett bringen und dann ein wenig fernsehen."

Auch im Mannschaftskreis ist seine notorische Zurückhaltung inzwischen legendär: Selbst Gary Neville, der mit Scholes bei Manchester schon zusammenspielte, als beide erst 12 Jahre alt waren, gibt zu: "Er will immer gleich nach Hause. Auch ich weiß nicht viel über ihn, weil er kaum redet. Er hat etwas Mystisches."

Seine enorme Abneigung gegen jede Art von öffentlichem Aufsehen macht den gelernten Stürmer vielleicht zum meist unterschätzten Spieler im englischen Fußball. Denn obwohl er über ein Jahrzehnt lang den Rhythmus im Maschinenraum der Red Devils diktierte, wichtige Tore erzielte und dabei 26 (!) nationale und internationale Titel holte, stand er nie im Rampenlicht oder wurde von anderen europäischen Topvereinen umworben.

Ein Running Gag auf der Insel

Öffentliche Liebeserklärungen erntet er in der Regel nur von seinen Kollegen - die allerdings zuhauf. Von David Beckham bis Sir Bobby Robson: Jeder, der ihn mehr als einmal spielen sah, hält Scholes für einen der talentiertesten Fußballer in Europa.

Sein unglaubliches Gefühl für den Raum, für Tempo und Rhythmus; sein Spielwitz, seine Fähigkeit, den Ball zu behaupten, seine extreme Präzision und Passsicherheit, seine Handlungsschnelligkeit, seine Torgefährlichkeit: Paul Scholes gilt seinen zahlreichen Bewunderern als spielerisches Genie. Und das ist darüber hinaus mit einer beinah schon klischeehaft protestantischen Arbeitsmoral gesegnet: Seine Laufbereitschaft ist längst sprichwörtlich.

Ebenso charakteristisch ist mittlerweile aber auch seine vielleicht einzige echte Schwäche: Sein Timing im defensiven Zweikampf ist auf der Insel ein Running Gag. Scholes kommt beim Tackling gerne mal zu spät - und fliegt deshalb immer wieder vom Platz oder handelt sich unnötige Sperren ein.

Späte Genugtuung

Das schlechteste Timing bewies er dabei wohl am 21. April 1999. Manchester United gewann das Halbfinal-Rückspiel in der Champions League bei Juventus Turin mit 3:2, Paul Scholes sah eine überflüssige Gelbe - und musste seinen bis dahin größten Triumph von der Tribüne aus verfolgen: Den 2:1-Sieg im Finale gegen den FC Bayern München.

Neun Jahre lang verfolgte ihn dieser Makel in seiner Biografie - ehe er 2008 die Scharte höchstpersönlich auswetzen konnte. Ich Halbfinale der Königsklasse erzielte er das entscheidende 1:0 gegen Barcelona: United stand wieder im Finale, Scholes war mit von der Partie - und reckte anschließend endlich die Pokal in die Höhe.

Tabellenrechner: Wer kommt ins Achtelfinale?

Über ein dutzend Mal wurde Scholes anschließend gefragt, ob das nun eine besondere Genugtuung für ihn sei. Und über ein dutzend Mal antwortete er mit seinem ganz typischen Achselzucken: "Nein. Wieso? Ich bin einfach nur meinem Beruf nachgegangen."

Extra-Schichten nach dem Training

Und diesen Beruf nimmt er auch heute mit fast 35 noch überaus ernst. Nach jeder Trainingseinheit schnappt er sich den Ball und feilt an seiner Schusstechnik: "Ich will noch ein paar Trophäen holen, aber ich schieße weniger Tore als vor ein paar Jahren. Also versuche ich zurzeit, meinen Abschluss etwas zu verbessern."

Prompt erzielte er im ersten Gruppenspiel der Champions League gegen Besiktas Istanbul auch wieder einmal den Siegtreffer für Manchester United. Der VfL Wolfsburg sollte also gewarnt sein.

Paul Scholes ist noch immer hungrig und noch immer torgefährlich - auch wenn ihm Alex Ferguson zuletzt immer häufiger ein Päuschen gönnt. "Ich versuche immer noch, mich in jedem Training aufzudrängen, aber in letzter Zeit fragen mich die Coaches schon auffällig oft, wie ich mich fühle und ob ich mich nicht lieber mal einen Tag ausruhen will", sagt Scholes und setzt dabei eine fast spitzbübische Miene auf.

Mit seinem Alter kommt er offenbar bestens zurecht: "Ich weiß, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt", sagt er, nun wieder ganz leise und ernst: "Also versuche ich einfach, jeden Moment in jedem Training und jedem Spiel zu genießen."

Daten Wolfsburgs Champions-League-Gruppe B im Überblick