BVB - Borussia Dortmund verspielt sicheren Dreier gegen VfB Stuttgart: Verdientes Karma zum richtigen Zeitpunkt

Von Tim Ursinus
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Borussia Dortmund hat im Kampf um die Meisterschaft einen völlig unnötigen Rückschlag hinnehmen müssen. Gegen den VfB Stuttgart verspielte der BVB trotz einer 2:0- und 3:2-Führung den sicheren Dreier und damit auch die große Chance, mit dem schwächelnden FC Bayern in Punkten gleichzuziehen. Der Zeitpunkt dafür scheint aber der genau richtige zu sein.

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"Karma bezeichnet ein spirituelles Konzept, nach dem jede Handlung - physisch wie geistig - unweigerlich eine Folge hat", taucht als erster Treffer bei Google auf, wenn man nach dem besonders im Internet viel zitierten Begriff "Karma" sucht. Weiter heißt es: "Diese Folge muss nicht unbedingt im gegenwärtigen Leben wirksam werden, sondern sie kann sich möglicherweise erst in einem zukünftigen Leben manifestieren."

Am 28. Spieltag widerfuhr dem BVB das Phänomen (in freilich abgespeckter Version) aus den Religionen Hinduismus, Sikhismus, Buddhismus und Jainismus nach einer laut des weit verbreiteten Glaubens folgenschweren Handlung schon etwas als vier Minuten später. Nach dem vermeintlichen Siegtreffer zum 3:2 durch Joker Giovanni Reyna in der zweiten Minute der Nachspielzeit jubelte der ebenfalls eingewechselte Youssoufa Moukoko sehr aufreizend mitten ins Gesicht des kurz zuvor geschlagenen VfB-Torhüters Fabian Bredlow. Nach dem Schlusspfiff waren es jedoch Bredlow und seine Teamkollegen, die in verdutzte Gesichter blickten. Stuttgart war durch Silas Katompa Mvumpa (90.+7) wenige Sekunden vor Schluss tatsächlich noch zum Ausgleich gekommen - und das war in Anbetracht des Spielverlaufs mehr als verdient.

Der BVB hatte zur Pause mit 2:0 geführt und war nach der Gelb-Roten Karte für Stuttgarts Konstantinos Mavropanos ab der 39. Minute sogar noch in Überzahl. Dennoch brach die Borussia nach der Pause auf unerklärliche Weise ein und kassierte innerhalb von sechs Minuten zwei Gegentore. Dass Dortmund die im engen Rennen um die deutsche Meisterschaft so wichtigen drei Punkte dann auch nach der erneuten Führung nicht über die Zeit retten konnte, ist schlichtweg dilettantisch.

Entsprechend ratlos waren die BVB-Verantwortlichen auch nach dem Spiel. "Ich bin einfach nur sauer und spüre Frust! Wir haben eine große Chance verpasst", polterte Sportdirektor Sebastian Kehl hinterher. Trainer Edin Terzic schimpfte bei Sky: "Es ist schwer, Worte dafür zu finden. Wir dachten, dass wir schon das Dümmste erlebt haben mit der Niederlage zuhause gegen Werder Bremen (2:3 nach 2:0-Führung und drei Gegentoren ab der 89. Minute; Anm. d. Red.). Aber das toppt alles."

BVB ermöglicht VfB ein Comeback wie zuletzt vor 43 Jahren

Um ihre Unzufriedenheit zu unterstreichen, zogen beide auch noch ein wegen einer hauchdünnen Abseitsposition berechtigterweise aberkanntes Tor von Serhou Guirassy (52.), welches das 1:2 bedeutet hätte, als Beispiel heran. "Wir haben vier Gegentore kassiert, wenn man das Abseitstor mit reinnimmt, das muss man gegen zehn Mann erstmal schaffen", sagte Kehl.

Dass es sich dabei wahrlich um ein kleines Kunststück handelte, zeigen die Zahlen. Erst einmal gelang es dem VfB Stuttgart in der Bundesliga, drei Tore in Unterzahl zu erzielen: Vor knapp 43 Jahren im September 1980 gegen - und das ist der Gipfel der Ironie - den BVB, dem das Missgeschick ansonsten auch kein weiteres Mal passierte.

Zur ganzen Wahrheit gehört, dass der BVB auch schon in den ersten 45 Minuten einige gute Chancen gegen elf Stuttgarter zugelassen hatte. Umso fataler war der Einbruch nach der Pause gegen den dezimierten Tabellen-16. der Bundesliga. Dabei hatte Terzic seine Mannschaft in der Halbzeitansprache noch deutlich vor einer möglichen Trotzreaktion der Schwaben gewarnt.

Sein Team habe allerdings die "Disziplin" im Spiel gegen den Ball verloren, bemängelte der BVB-Coach und sprach von fehlendem Verantwortungsbewusstsein. "Wie wir es dann in der zweiten Hälfte mit Leben gefüllt haben, ist unerklärlich, sagte er und versuchte sich gar nicht erst an einem Erklärungsansatz für die vertane Chance: "Ich glaube, ihr werdet die richtigen Worte finden, aber verzeiht mir, dass ich das heute nicht tun kann für euch."

Dass die Probleme für den dritten Punkteverlust in den vergangenen fünf Bundesligaspielen (zwei Remis und die 2:4-Niederlage gegen den FC Bayern) auf der Hand liegen, dürfte Terzic aber sehr wohl bewusst sein. Die gerade nach der Weltmeisterschaft so stabile Defensive ist längst wieder in alte Muster verfallen. Zum sechsten Mal in Serie war die BVB-Abwehr nicht imstande, die Null zu halten - das gab es zuletzt zwischen Mai und Oktober 2021 unter Terzic und dessen Vorgänger Marco Rose.

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BVB: Die Defensive wackelt wieder gewaltig

Die beinahe vier Gegentreffer gegen den abstiegsbedrohten VfB waren natürlich auch dem Umstand geschuldet, dass in Niklas Süle (muskuläre Probleme) und Nico Schlotterbeck (Muskelfaserriss) die komplette Innenverteidigung fehlte. Doch auch das für den starken Rückrundenstart zu Recht gelobte Duo hatte schon beim letzten gemeinsamen Auftritt in München erheblich gewackelt. Bei den Schwaben wurden sie durch Mats Hummels und Emre Can ersetzt.

Dass mit Can der seit Wochen formstärkste Mittelfeldspieler in die Abwehr gezogen werden musste, tat der Stabilität im Zentrum einen erheblichen Abbruch. Noch mehr wurde die Defensive durchgewirbelt, weil Hummels in Folge eines Infekts mit Kreislaufproblemen zur Pause in der Kabine geblieben war. Der 34-Jährige hatte in der ersten Hälfte an der Seite von Can zwar eine gute Leistung gezeigt, an Ordnung fehlte es aber dennoch. Mit der Einwechslung von Soumaïla Coulibaly war jene überhaupt nicht mehr zu erkennen.

Es wäre aber auch vermessen gewesen, zu glauben, dass der 19-Jährige bei seinem Bundesliga-Debüt nach langer Leidenszeit (Kreuzbandriss und drei weitere Verletzungen), die BVB-Abwehr zusammenhält. Vielmehr waren seine Nebenmänner gefordert, die anrennenden Stuttgarter vom eigenen Tor fernzuhalten. Mit einer gut organisierten Defensive wäre es gar nicht erst so weit gekommen, dass Coulibaly am Ende zum großen Pechvogel des Spiels avanciert, weil er beim 3:3 denkbar unglücklich über den Ball haut. "Wir haben extrem nachgelassen und schlecht gestanden. Das geht nicht", kritisierte BVB-Keeper Gregor Kobel dahingehend.

Auch Salih Özcan sowie die Außenverteidiger Julian Ryerson und Raphaël Guerreiro trugen große Schuld an dem verschenkten Sieg. Jeder von ihnen war mindestens für einen Gegentreffer mitverantwortlich. Terzic nahm den untröstlichen Franzosen dementsprechend in Schutz. "Natürlich würden wir uns wünschen, dass Soumi den Ball mit dem rechten Fuß klärt und dann ist das Ding durch." Coulibaly sei aber der "letzte, den wir hier heute als Sündenbock haben wollen", ergänzte er: "Wir haben als Mannschaft eine riesige Chance liegen lassen und das ist brutal enttäuschend."

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BVB: Donyell Malen ist der nächste Lichtblick

Ohnehin war Terzic darauf bedacht, keine Spieler beim Namen zu nennen. Deshalb sah er auch von einer unmittelbaren Konfrontation mit seiner Mannschaft kurz nach dem Spiel ab. "Wenn ich in der Kabine all das ausdrücke, was ich gerade denke, das wäre nicht sonderlich gut." Er wolle es bei einer nüchternen Problem-Analyse belassen: "Ich gucke jetzt nicht auf das Ergebnis, nur auf das, was in der zweiten Hälfte passiert ist."

Allerdings würden in diesem Fall die positiven Aspekte, die für die kommenden Aufgaben durchaus Mut machen, auf der Strecke bleiben. Schließlich kann sich Terzic in diesen Tagen voll und ganz auf seine Offensive verlassen. Es scheint derzeit beinahe egal zu sein, auf welche Spieler er im Angriff setzt.

Sébastien Haller erzielte in bester Neuner-Marnier sein viertes Saisontor, Donyell Malen glänzte erneut und alle offensiven Einwechslungen (Marco Reus, Jamie Bynoe-Gittens, Giovanni Reyna und Youssoufa Mokoko) fruchteten. Lediglich Karim Adeymi fiel etwas ab.

Insbesondere die Leistungsexplosion von Malen könnte den BVB aus der kleinen Ergebniskrise hieven und die Mannschaft mitreißen - das war auch schon bei den Hochs von Julian Brandt und Guerreiro der Fall. Der Niederländer Malen zeigte gegen Stuttgart mit seinem wohl schönsten Treffer im BVB-Trikot und einem ebenso sehenswerten Assist endlich, warum einst 30 Millionen Euro Ablöse für ihn bezahlt wurden. In den vergangenen vier Spielen traf Malen jeweils einmal und bereitete zwei Treffer vor - das ergibt eine Torbeteiligung mehr als in den vorherigen 24 Bundesligaspielen.

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BVB: Edin Terzic hält beeindruckend ehrlichen Monolog

Auf das Mitreißen durch einzelne Spieler darf sich der BVB jedoch ebenso wenig verlassen wie die kommenden Gegner auf Karma oder dergleichen. Das stellte ein emotional aufgeladener Terzic auf der anschließenden Pressekonferenz auch eindrucksvoll klar. Sichtlich niedergeschlagen ließ er seinen Gedanken in einem über drei Minuten andauernden Monolog freien Lauf.

"Ich versuche jetzt, sehr ehrlich zu sein", leitete er ein, schluckte und ging auf die immer wieder aufkeimende Mentalitäts-Debatte sowie die Kritik an den defensiven Aussagen der BVB-Führung ein: "Es gibt Gründe, wieso wir es in den letzten zehn Jahren nicht geschafft haben, ganz oben zu stehen. Es gibt Gründe, wieso ich zuletzt so demütig war und dafür kritisiert wurde", erklärte er. Es falle ihm "schwer", seine Mannschaft zu beschützen, "weil es so unnötig und dumm ist, wenn man sieht, was wir seit dem 1. Juli für Probleme bewältigt haben (Verletzungen, Absturz auf Platz sechs)."

Seine Mannschaft habe sich aber mit viel "Fleiß und Wut" wieder hochgekämpft. "Jetzt schenken wir das heute einfach so ab", ergänzte Terzic und machte eine Kampfansage: "Wir, besonders ich, haben alle einen riesigen Wunsch! (...) Wir müssen endlich anfangen, aus den unnötigen Rückschlägen zu lernen. Das ist meine Verantwortung. Ich muss als Erster der sein, der mit breiter Brust vorangeht. Ich werde auch nächste Woche wieder bescheuerte Fragen beantworten müssen, es liegt nicht an euch (Journalisten; Anm. d. Red.), sondern an uns."

Markante Worte, die den Eindruck erwecken: Rund sieben Wochen vor dem großen Saisonfinale scheint der BVB wohl endgültig begriffen zu haben, dass die Dominanz der Bayern durchbrochen werden kann - und dafür brauchte es wohl nochmal einen "dummen" Aussetzer.

BVB vs. FC Bayern: Das Restprogramm in der Bundesliga

SpieltagBVBFC Bayern
29Eintracht Frankfurt (H)Mainz 05 (A)
30VfL Bochum (A)Hertha BSC (H)
31VfL Wolfsburg (H)Werder Bremen (A)
32Borussia M'Gladbach (H)Schalke 04 (H)
33FC Augsburg (A)RB Leipzig (H)
34Mainz 05 (H)1. FC Köln (A)