Die Sonne, die die Allianz Arena über diesen spätsommerlichen Nachmittag hinweg mit ihrer Anwesenheit beglückt hatte, verabschiedete sich langsam, als Corentin Tolisso auf Krücken zum Mannschaftsbus des FC Bayern hinkte. Kurz bevor sie sich vollends zurückzog, schickte sie die letzten Strahlen über die Baumwipfel, die die Silhouette des Franzosen umrahmten und der Szenerie etwas Bitteres und Romantisches gleichermaßen verlieh.
Er war zum traurigen Helden der rund eine Stunde zuvor beendeten Partie avanciert, hatte mit einem satten Außenristschuss den frühen Rückstand gegen Bayer Leverkusen wettgemacht und sich kurz vor der Halbzeit bei einem Zweikampf mit Kevin Volland schwerwiegend verletzt. Der Rekordmeister bestätigte das Befürchtete noch am selben Abend via Twitter: Kreuzbandriss, mehrere Monate Zwangspause.
Minutenlang hatte er am Boden gelegen, das Gesicht schmerzverzerrt. Umringt von Teamkollegen, Ärzten, Volland, der sich immer wieder entschuldigte, hielt Tolisso sich sein weltmeisterliches Knie, verzichtete aber im Anschluss auf die herbeieilenden Sanitäter samt Trage.
Corentin Tolisso auf dem Weg zum Star des Spiels jäh gestoppt
Unter dem Applaus der 75.000 Zuschauer verließ er den Platz, den er während seines Einsatzes zu seiner Bühne gemacht hatte. Erstmals in dieser Saison setzte Trainer Niko Kovac von Beginn an auf Tolisso, der nach dem WM-Triumph der Equipe Tricolore als letzter aller Bayern-Spieler, nämlich erst Mitte August, in die Vorbereitung eingestiegen war.
Den Trainingsrückstand ließ er sich gegen eine defensiv eingestellte Werkself, die in München offenbar keinerlei Ambitionen hatte, etwas Zählbares zurück mit ins Rheinland zu nehmen, nicht anmerken. Umtriebig und leidenschaftlich pflügte der 24-Jährige durchs Mittelfeld, diente stets als Anspielstation, behielt in nahezu allen Zweikämpfen die Oberhand, gab den Taktgeber und war auf dem besten Weg, sich den imaginären Titel "Mann des Spiels" zu sichern. Kurz gesagt: Tolisso vermittelte seinem Coach in aller Deutlichkeit, dass er bereit ist für alles, was da in den nächsten Wochen so kommt.
Bis zur 40. Minute eben, als das Schicksal es anders mit ihm meinte. Kein Wunder, dass der ungefährdete 3:1-Erfolg im Anschluss zur Randnotiz verkam und die Münchner Protagonisten trotz zurückerkämpfter Tabellenführung mit bedröppelten Mienen in der Mixed-Zone aufschlugen. "Das, was bleibt, sind die Verletzungen", sagte beispielsweise Manuel Neuer, der im Plural sprach, weil auch Rafinha nach einem brutalen Foulspiel von Karim Bellarabi vorzeitig ausgewechselt werden musste und ebenfalls länger ausfallen wird. Der Brasilianer trug eine Innenbandverletzung davon.
Neuer schob nach: "Sowas wünscht man sich natürlich nicht." Auch Arjen Robben zeigte sich vor den anwesenden Journalisten ernüchtert. Auf die Verletzung von Tolisso angesprochen, erklärte der 34-Jährige: "Es schaut nicht gut aus. Er ist ein sehr guter Spieler. Wir brauchen alle, besonders in solch einer Phase. Das ist ganz bitter, vor allem für ihn selbst."
FC Bayern München: Rafinha, Tolisso und Coman verletzt
Spieler | Position | Diagnose | vor. Rückkehr |
Rafinha | RV | Teilriss des Innenbandes im linken Sprunggelenk | unbekannt |
Corentin Tolisso | ZM | Kreuzband- und Außenmeniskusriss im rechten Knie | März 2019 |
Kingsley Coman | LA | Syndesmosebandriss im linken Bein | Dezember 2018 |
Niko Kovac und Uli Hoeneß kritisieren hartes Einsteigen der Leverkusener
Niko Kovac hatte seinem Schwermut auf der voran gegangen Pressekonferenz bereits Ausdruck verliehen. "Erst einmal bin ich sehr traurig. Wir haben zwar gewonnen, aber diese beiden Verletzungen trüben meine Stimmungslage." Zudem hatte der Übungsleiter die harte Gangart des Gegners angeprangert: "Wir haben den dritten Spieltag und ich habe das Gefühl, wir sind Freiwild."
Auch in dem Wissen, dass mit dem Start der Champions League intensive Wochen anstehen und die Personaldecke ausgerechnet jetzt dünner wird, führte Robben weiter aus: Wir haben in den nächsten 20 Tagen sieben Spiele, da braucht man alle Kräfte." Nur einer schien sich von der doppelten Hiobsbotschaft nicht beeindrucken zu lassen.
FCB-Präsident Uli Hoeneß, der rot-weiß beschalt vor die Reporter trat, wütete zunächst gegen Bayer-Übeltäter Bellarabi, dessen "geisteskrankes" Einsteigen gegen Rafinha an "Körperverletzung" grenze. Er ergänzte aber: "Wir haben noch einen Kader, der groß genug ist, um alles aufzufangen. Wir spielen ja nicht mit 17, sondern mit elf Spielern, oder?"
James Rodriguez und Renato Sanches als Nutznießer?
Tatsächlich verfügt Kovac mittlerweile lediglich über 16 einsatzfähige Feldspieler. Nutznießer des Tolisso-Ausfalls könnte James Rodriguez werden, der in der laufenden Spielzeit ebenfalls noch kein einziges Mal in der Startelf stand, bisher lediglich Kurzeinsätze verbuchte. Der Ex-Madrilene ersetzte seinen verletzten Kollegen und wusste durchaus zu gefallen, krönte seine Leistung am Ende sogar noch mit einem Kopfballtor.
Auch Renato Sanches darf mittlerweile auf seine ersten Pflichtspielminuten hoffen. Der Portugiese, der im Sommer nach einer mäßigen Leihsaison von Swansea City an die Isar zurückgekehrt war, hatte jüngst in einem Interview mit dem vereinseigenen Sender Ansprüche angemeldet und optimistisch verkündet, sich bei Bayern durchsetzen zu wollen. Aussagen, die Kovac schon vor dem Duell mit Leverkusen aufgriff und verkündete, dass der Europameister "sicherlich nicht als Reiseführer mit nach Lissabon" fahren würde, wo die Bayern am kommenden Mittwoch auf Sanches' Ex-Klub Benfica treffen.
Dennoch: Obwohl Kovac vor allem im Mittelfeld noch auf ausreichend und qualitativ hochwertiges Personal zurückgreifen kann, wiegt besonders die ernüchternde Diagnose bei Tolisso schwer. Bei einem Verein, dessen eigener Anspruch es ist, auf allen drei Hochzeiten nicht nur so lange es geht zu tanzen, sondern im Idealfall die Location als einzig Übriggebliebener mit drei Trophäen im Schlepptau abzuschließen, ist man auf einen möglichst breiten Kader angewiesen, das hatte der neue Coach immer wieder bekräftigt.
Umso schlimmer dann, wenn schon zu Beginn der Spielzeit vieles auf Kante genäht ist. Aus Sicht der Bayern bleibt zu hoffen, dass dieser traurig-romantische Abgang Tolissos, der mit Gehhilfen in der Abendsonne verschwand, nicht als Sinnbild in Erinnerung bleibt.