Ein Spiel als Zeitraffer einer Saison

Borussia Dortmund feiert den direkten Einzug in die Champions League
© getty

Borussia Dortmund besiegte Werder Bremen am letzten Bundesliga-Spieltag mit 4:3 und sicherte sich somit die direkte Champions-League-Qualifikation. Das Spiel schrieb etliche Geschichten einer aufregenden Saison in Kurzform noch einmal. Oder weiter, oder zu Ende.

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Das Fußballspiel zwischen Borussia Dortmund und Werder Bremen dauerte eigentlich genau so lange, wie lange eben ein gewöhnliches Fußballspiel dauert: 90 Minuten plus ein bisschen was. Aber gefühlt dauerte es viel, viel kürzer. Oder viel, viel länger. Je nachdem.

Die Dichte an aufregenden Aktionen sorgte am Samstagnachmittag im Signal Iduna Park einerseits für eine beeindruckende Kurzweiligkeit und andererseits dafür, dass es den Fans vorkam, als säßen sie seit knapp neun Monaten im Stadion. Dieses Spiel wurde gefühlt am 27. August 2016 angepfiffen und eben nun, am 20. Mai 2017 wieder abgepfiffen. Es war der Zeitraffer einer Dortmunder Saison, die eine kaum zu übertreffende Dichte an aufregenden Aktionen zu bieten hatte.

Und als alles vorbei war, stand in Thomas Tuchel eben der Hauptverantwortliche da und sagte sichtlich aufgewühlt: "Es war eine wilde Fahrt." Vielleicht meinte er nur das Spiel gegen Bremen, vielleicht die ganze Saison oder auch einfach beides. Recht hätte er in jedem Fall. Dortmund patzte, Dortmund atmete auf, Dortmund haderte, Dortmund zitterte, Dortmund begeisterte und Dortmund erreichte letztlich sein Ziel.

Die Tränen des Marc Bartra

Es gibt so viele Geschichten dieser Saison, die dieses Spiel in Kurzform noch einmal schrieb. Oder zu Ende schrieb. Da wäre die Geschichte des Marc Bartra. Nach dem schockierenden Anschlag auf Borussia Dortmund am 11. April vor dem Champions-League-Spiel gegen Monaco musste sich der Verteidiger am Handgelenk operieren lassen, ehe sich 39 Tage später, am letzten Spieltag, der Kreis schloss - wegen eines erneuten Schocks: Kapitän Marcel Schmelzer hatte sich beim Aufwärmen verletzt, womöglich verpasst er nun sogar das Pokalfinale gegen Eintracht Frankfurt.

Bartra jedenfalls stand deshalb bei seiner Kader-Rückkehr direkt in der Startelf. "Besonders", nannte es Tuchel nach Abpfiff und Bartra stand alleine vor der Südtribüne und weinte, bis Tuchel kam und ihn auf die Wange küsste.

Zwei Stunden zuvor wurde das Spiel mit Bartra in der Startelf und Tuchel an der Seitenlinie angepfiffen und sieben Minuten später lag der BVB in Rückstand, schon wieder. Insgesamt passierte das den Dortmundern 14 Mal in dieser Bundesliga-Saison, acht Gegentore kassierten sie gar in den Anfangsviertelstunden ihrer Spiele.

Unaufmerksamkeiten war dieser frühe Rückstand gegen Bremen geschuldet und auch Pech. Roman Bürki klärte torlinientechnikentscheidungswürdig knapp hinter der Linie. Pech hatte der BVB auch kurz danach, als ihm nach einem Rempler von Niklas Moisander gegen Pierre-Emerick Aubameyang ein möglicher Elfmeter verwehrt wurde.

Die Comebacks und Torbögen

Dortmund war bis zu diesem Zeitpunkt des Spiels die bessere Mannschaft und sie war es auch weiterhin. "So wie wir gespielt und angegriffen haben, so wie wir uns Torchancen erspielt haben, war das schon sehr gut", sagte Tuchel. Der Rückstand tangierte den BVB eher nicht, er hat in dieser Saison ein Gefühl dafür entwickelt, zurückzukommen.

Im Champions-League-Achtelfinale lag der BVB nach dem Hinspiel mit 0:1 gegen Benfica Lissabon zurück und kam weiter. Im DFB-Pokal sowohl gegen Hertha BSC als auch gegen den FC Bayern. Beide Male kam Dortmund weiter. "Wir haben eine gute Reaktion gezeigt", sagte Tuchel über das Spiel gegen Bremen, aber es würde auch für die ganze Saison gelten. "Da war enorm viel Zug drin und ein enormer Wille, das Spiel zu drehen."

Und das Spiel wurde bekanntlich gedreht, aber nicht irgendwie, sondern in spektakulärster Manier. Genau wie Dortmund in dieser Saison für unerklärliche defensive Nachlässigkeiten steht, steht es für begeisternden Offensivfußball. Ousmane Dembele, Marco Reus, Shinji Kagawa, Raphael Guerreiro, Aubameyang und noch einige andere besitzen sagenhaftes Talent. Gegen Bremen zeigten sie es phasenweise in vollster Ausprägung.

Da steckte etwa Kagawa den Ball perfekt durch die Schnittstelle zu Reus, der ihn dann grazil über Werder-Keeper Felix Wiedwald lupfte. Da chippte Dembele die Kugel später über die Bremer Abwehrwand zu Aubameyang, als würde er einen Torbogen entwerfen. Vollendet wurde der Torbogen aber nicht, denn bevor er mit dem Boden schloss, erinnerte Aubameyang daran, dass der Sinn der Sache kein Torbogen ist und so beförderte er den Ball stattdessen volley ins Tor.

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Das Zittern um Marco Reus

Als alles geklärt schien, kamen aber wieder die defensiven Nachlässigkeiten zurück. Sekunden nach dem Wiederanpfiff rutschte Nuri Sahin an Max Kruse und dem Ball an dessen Fuß vorbei, wenig später stand es 2:2. Dortmund stand hoch, zu hoch und lag bald darauf erneut in Rückstand, diesmal schloss Kruse einen Konter selbst ab.

"Vogelwild", nannte Tuchel die zweite Halbzeit. Da seine Mannschaft aber erneut zurückkam, sprach er ihr "ein Riesenkompliment für ihren Kampfgeist, ihren Glauben und ihre Mentalität" aus. Es sind Worte, die auch für die zweite Halbzeit der Saison gelten könnten. Zwischenzeitlich drohte der BVB sein Saisonziel zu verpassen, doch er besiegte erst Hoffenheim im vermeintlichen Endspiel um Rang drei und brachte diesen dann ins Ziel.

Auch und vor allem dank Reus, der in den acht Pflichtspielen seit seinem Comeback sieben Treffer erzielte. Wochenlang zitterte der Verein zuvor um die Rückkehr der Identifikationsfigur und in Kurzform zitterte der Verein auch bei diesem Spiel gegen Bremen um Reus - im Hinblick auf das noch ausstehende Pokalfinale. Nach seinem zwischenzeitlichen Ausgleich krachte Reus gegen eine Torstange, mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte er sich aber bald auf und spielte dann doch weiter.

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Die Zukunft des Pierre-Emerick Aubameyang

Den Elfmeter kurz vor Schluss überließ der Teamplayer Reus dem Torjäger Aubameyang, der dafür sorgte, dass der BVB nicht mehr auf Augsburger Schützenhilfe bei Hoffenheim, dem Rivalen um Platz drei, angewiesen war. "Das Saison-Fazit fällt top aus", durfte Tuchel deshalb resümieren, nicht ohne auf den "größten Umbruch der letzten zehn Jahre" zu verweisen, den es im vergangenen Sommer in Dortmund zu managen galt.

Mit Mats Hummels, Henrikh Mkhitaryan und Ilkay Gündogan verließen drei prägende Spieler den Verein. Und nun droht mit Aubameyang erneut ein wichtiger Akteur den Klub zu verlassen. Die permanenten Spekulationen über die Zukunft des Stürmers verfolgten den BVB die gesamte Saison über und auch in diesem Spiel.

Die Adrenalin-Ausschüttung des Thomas Tuchel

Nachdem sich Aubameyang mit seinem siegbringenden Treffer zum alleinigen Torschützenkönig gekrönt hatte, nachdem das Spiel abgepfiffen war und auch nachdem Bartra weinte und der Sieg mit der ganzen Mannschaft vor der Kurve schon zelebriert worden war, lief Aubameyang nochmal zu den Fans, um ihnen zu winken. Oder, um sich von ihnen und dem Signal Iduna Park zu verabschieden. Dann sagte er, auf die Frage, ob er denn beim BVB bleiben würde: "Ich werde nächste Woche mit dem Klub sprechen und dann entscheiden." Er sagte es und es klang nach Verabschiedung.

Nach vermeintlicher Versöhnung sah es dagegen aus, als sich Tuchel Hans und Hans-Joachim Watzke nach dem Spiel umarmten. "Das ist selbstverständlich", sagte der Trainer danach zwar, aber wirklich selbstverständlich wirkte es nicht.

Nach all den Vorfällen und Anschuldigungen der vergangenen Wochen war es auch nicht selbstverständlich, dass Tuchel meinte, dass er "natürlich Lust" auf eine weitere Saison beim BVB hätte, trotz oder gerade weil ihn die zurückliegende emotional so mitgenommen hätte.

"Das sind Erlebnisse, da ist Adrenalin- und Endorphin-Ausschüttung im Überfluss", sagte Tuchel und blieb im Medizin-Sprech: "Es hat uns einiges an Nerven gekostet, aber es fühlt sich sehr, sehr gut an." Das Spiel. Und letztlich auch die Bundesliga-Saison. Und mit einem Pokalsieg womöglich alles.

Dortmund - Bremen: Die Statistik zum Spiel

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