Langsam wird der Minimalismus unheimlich

Robert Lewandowski glich in der 96. Minute für die Bayern aus
© Getty

Mit dem spätesten Bundesliga-Tor seit detaillierter Datenerfassung hat der FC Bayern nach einer schwachen Leistung gegen Hertha BSC doch noch einen Punkt gewonnen. Während die Berliner mit dem Bayern-Bonus und dem ungeschriebenen Gesetz der Unbesiegbarkeit hadern, feiern die Münchner wieder einmal ihre Last-Minute-Qualitäten. Einmal mehr fällt auf: Das Bundesliga-Gesicht der Bayern ist keine Schönheit - doch es reicht.

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Fast auf den Tag genau acht Jahre nach dem letzten Bundesligasieg gegen den FC Bayern sieht alles danach aus, als könne Hertha BSC die Münchner endlich mal wieder besiegen. Das Tor von Vedad Ibisevic aus der 21. Minute hat noch immer Bestand.

Die fünf Minuten Nachspielzeit, die der vierte Offizielle angezeigt hat, sind vorbei. Doch die Bayern dürfen einen Freistoß links vom Sechzehner noch ausführen. An der Seitenlinie tobt Pal Dardai, der Schiedsrichter müsse abpfeifen. Er scheint zu ahnen, was ihn erwartet.

Und dann passiert es tatsächlich noch: Thiago legt in den Rückraum, wo Arjen Robben völlig frei zum Schuss kommt. Mittelstädt klärt noch auf der Linie, doch der eingewechselte Robert Lewandowski staubt zum 1:1 ab. Nach 95 Minuten und 59 Sekunden schlägt es im Netz ein. Noch nie seit Beginn der detaillierten Datenerfassung (2004/2005) ist ein späteres Tor gefallen.

Hertha macht das Spiel des Lebens

"Ich glaube, dass wir das Spiel unseres Lebens gemacht haben. Aber es ist wohl ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir gegen Bayern nicht gewinnen können", sagte Sebastian Langkamp wenige Minuten nach Abpfiff mit hängendem Kopf. Er konnte gar nicht so richtig glauben, was eben passiert war.

Sein Trainer Pal Dardai polterte an den Sky-Mikrofonen: "So viel Nachspielzeit zu geben, sorry, aber das ist der Bayern-Bonus. Tut mir leid, da kann jeder beleidigt sein. Aber wir sind hier ja nicht bei einem Pokalspiel."

Das Last-Second-Tor trieb den Münchner Bundesliga-Minimalismus der letzten Wochen auf die Spitze.

Mehr als ein Drittel aller Pflichtspieltore 2017 erzielten die Bayern ab der 88. Minute (fünf von 14). Ein beinahe surrealer Wert. In der Bundesliga sicherte der Spitzenreiter in dieser Saison bereits neun Punkte nach der 80. Spielminute. Immer wieder stottert der Bayern-Motor, läuft auf der Zielgeraden aber heiß.

Logisch, dass Spieler und Verantwortliche einmal mehr die starke Mentalität beschworen: "Ich weiß nicht, ob es der Wahnsinn ist. Wir wollten unbedingt - das hat man das ganze Spiel über gesehen", sagte Thomas Müller.

Last-Minute-Treffer beinahe das Normalste auf der Welt

"Die Mannschaft glaubt bis zum Ende dran", bekundete Philipp Lahm. Die Aussagen ähneln sich seit Wochen. Die Protagonisten kommentieren emotionale späte Tore, als wären sie das Normalste auf der Welt.

Das Unheimliche aus Sicht der Liga ist: Langsam fühlt es sich beinahe wirklich wie das Normalste auf der Welt an, dass die Bayern am Ende irgendwie noch treffen.

Nach der 5:1-Gala am Mittwochabend im Hinspiel des Champions-League-Achtelfinals gegen Arsenal schalteten die Bayern am Samstagnachmittag im Berliner Olympiastadion wieder in den Bundesliga-Modus. Und das heißt in diesen Tagen drei Gänge zurück.

Über beinahe die gesamte Spielzeit wirkte das Münchner Spiel pomadig. In den Offensivbemühungen fehlte es an Rhythmuswechseln, Tempo und Explosivität. Bis zum direkten Freistoß von David Alaba in der 88. Minute (!) hatten die Bayern keine richtig große Torchance.

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Herthas Plan geht auf - bis zur Nachspielzeit

Der Plan der Hertha dagegen ging voll auf: Defensiv standen die Berliner wie ein Bollwerk. Dardais Maßnahme, auf ein 4-1-4-1 umzustellen und mit den drei Arbeitsbienen Darida, Stark und Skjelbred das Zentrum dicht zu machen, griff. Dazu köpften die langen Innenverteidiger Brooks und Langkamp alles aus der Gefahrenzone, was die Bayern nach innen flankten. 64 Prozent gewonnene Luftzweikämpfe sprechen eine deutliche Sprache.

Offensiv setzten die Hausherren vor allem in der ersten Halbzeit immer wieder Akzente, gaben bis zum Seitenwechsel 7:5 Torschüsse ab.

Die Hertha zeigte den stärksten Pflichtspielauftritt 2017 und stand kurz davor, im zehnten Heimspiel der Saison den neunten Sieg einzufahren. Völlig unverdient wäre es nicht gewesen.

Allerdings: "Wir haben es verpasst, das zweite Tor zu machen. Die Chancen hatten wir", resümierte Dardai.

Fluch und ungeschriebenes Gesetz

So kam es, wie es kommen musste. Was sich in der Nachspielzeit abspielte, hatte aus Sicht der Hertha tatsächlich etwas von Fluch oder ungeschriebenem Gesetz. Und irgendwie auch aus Sicht der ganzen Liga.

Dass überhaupt fünf Minuten nachgespielt wurden, lag am Berliner Zeitspiel in der Schlussphase. "Hertha hat versucht, das Spiel langsam zu machen - über die Nachspielzeit braucht sich keiner beschweren", kommentierte Mats Hummels.

Wegen zweier Spielerwechsel in der 92. und der 94. Minute entschied sich Schiedsrichter Patrick Ittrich schließlich dafür, den finalen Freistoß noch ausführen zu lassen. Aus Sicht der Berliner ist der Frust darüber verständlich. Die angezeigte Nachspielzeit ist und bleibt jedoch eine Empfehlung. Es liegt im Ermessen des Schiedsrichters, eine Standardsituation noch ausführen zu lassen.

Elf Herthaner im Strafraum, aber Robben völlig frei

Weniger verständlich war es allerdings, wie frei Arjen Robben nach Thiagos Freistoß zum Schuss kam. Elf Herthaner im Strafraum - und ausgerechnet Robben hat so viel Platz. Und dann passte es auch noch dazu, dass der Ball im Ping-Pong-Stil irgendwie auf dem treffsicheren Schlappen von Lewandowski landete und so den Weg ins Tor fand.

Das Bundesliga-Gesicht der Bayern war wieder einmal keine Schönheit, doch es war genug, um nicht zu verlieren. In der gesamten Saison überzeugte der Titelverteidiger nur selten über 90 Minuten, zumindest über Nacht beträgt der Vorsprung auf den Tabellenzweiten RB Leipzig jedoch acht Punkte.

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Dass die Bayern die Liga trotz durchwachsener Leistungen dominieren und sich offenbar wieder einmal eine Aura der Unbesiegbarkeit erarbeitet haben, sorgt für zunehmenden Frust bei der Konkurrenz und den Fans. Das entlud sich am Samstagnachmittag nach Abpfiff.

Zum einen auf dem Platz, als Rune Jarstein den Ball aus der Emotion heraus davondreschen wollte und Xabi Alonso traf: "Das gehört sich einfach nicht. Das hat mit Fairness nichts zu tun. Wenn man einen Spieler absichtlich mit dem Ball abschießt, dann ist man kein gutes Vorbild", beschuldigte Manuel Neuer seinen Torhüterkollegen. Der Bayernkeeper hatte die Situation aus nächster Nähe erlebt, schließlich war er bei dem Freistoß in der gegenerischen Hälfte gewesen, um Unruhe zu stiften.

Auch neben dem Platz kam es zu einem Eklat: Gegenüber der ARD bestätigte Carlo Ancelotti, von einem Fan angespuckt worden zu sein und diesem im Anschluss den Mittelfinger gezeigt zu haben.

Abneigung gegen "Dusel-Bayern" ist zurück

Der Italiener wird für diese Geste aller Voraussicht nach mindestens mit einer Geldstrafe, wenn nicht sogar mit einer Sperre belegt werden. Die vorausgegangene Spuckattacke zeigt jedoch: Die Abneigung gegen die "Dusel-Bayern" ist zurück in den deutschen Stadien.

Den Münchnern wird das egal sein. Die Tabelle gibt ihnen recht. Und wenn es einmal nicht so läuft, ist es offenbar das Normalste auf der Welt, dass es in letzter Minute sowieso noch klingelt. Irgendwie unheimlich...

Hertha - Bayern: Daten zum Spiel

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