Kai aus der Kiste

Der 17-jährige Kai Havertz sorgt derzeit bei Leverkusen für Aufsehen
© getty

Bayer Leverkusen findet sich abermals in einer turbulenten Saison wieder. Ausgerechnet der 17-jährige Kai Havertz ist bei der Mission, die Spielzeit zu retten, zum Silberstreif geworden.

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Am Freitagabend haben sie versagt, die Leverkusener. Beinahe alle.

Gut, alles lief nicht verkehrt an diesem Abend in Augsburg-Haunstetten-Siebenbrunn. 3:1 hieß es am Ende gegen die Fuggerstädter: der zweite Sieg in Folge, die europäischen Plätze beinahe wieder greifbar, dazu ein bisschen Geschichte geschrieben mit dem 50.000 Bundesligator.

Aber ausgerechnet Schmidt, der schon oft harschen Gegenwind ertragen musste diese Saison, legte das Versagen der Leverkusener in diesem einen speziellen Gebiet offen. Nicht nur von ihm, sondern beinahe allen im Klub. Seit Wochen köchelte es bereits, am Freitag erreichte es seine Blüte.

Es ging um Kai Havertz, als Schmidt sagte: "Wir wollen ihn nicht zu hoch loben." Und das ging so schief, wie das Vorhaben nur schief gehen konnte.

"Der kompletteste 17-Jährige ist, den ich je erlebt habe"

Dabei kam es den Leverkusenern noch zu Gute, dass nicht Havertz in der 7. Minute dieses 50.000 Bundesligator erzielte, sondern es "nur" von ihm vorbereitet und eine Viertelstunde später von Karim Bellarabi geschossen wurde.

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So wurde sich nach dem geschichtsträchtigen Kick emsig auf den Geschichtsschreiber gestürzt, Bellarabi durfte fröhlich von Mikrofon zu Mikrofon, von Kamera zu Kamera dackeln und über sein Tor sprechen. Kai Havertz, dafür sorgt Bayer Leverkusen, darf nur in Ausnahmefällen sprechen. So wurde er auch in Augsburg an all den Mikrofonen und Kameras vorbei gemogelt.

Verhindern, dass im Nachgang der Partie trotzdem jeder in Fußballdeutschland weiß - beziehungsweise sich fragt-, wer dieser Kai Havertz ist, konnte dieses Manöver freilich nicht. Dafür hatten zu viele Augen gesehen, was der 17-Jährige in Augsburg veranstaltet hatte. Und zu viele Mitspieler - und da sind ist wieder das eingangs erwähnten Thema - konnten sich gar nicht zügeln, wenn es um ihren jungen Mitspieler ging.

Einen "überragenden Techniker" sah Keeper Bernd Leno, "die Gabe, sehr gute Entscheidungen zu treffen", machte Roger Schmidt aus und Bellarabi gab zu Protokoll: "Wenn man sieht, wie er letzte Woche über 90 Minuten gespielt hat und diesmal wieder, dann muss man wirklich sagen: Respekt! Es kommt einem nicht so vor, dass er 17 ist." "Sagenhaft", befand dann noch Kapitän Lars Bender. "Ich glaube, ich habe schon in seiner ersten Trainingswoche gesagt, dass das so ziemlich der kompletteste 17-Jährige ist, den ich je erlebt habe."

Und dann kam die Seuche

Geplant war das alles überhaupt nicht. Havertz, der als Zehnjähriger von Alemannia Aachen gekommen war, spielte noch am Anfang der Saison in Leverkusens U19: A-Junioren Bundesliga West. Doch dann kam die große Seuche in der Offensive der Werkself. Am 3. Spieltag zog sich Bellarabi einen Muskelbündelriss zu, am 6. Spieltag brach sich Joel Pohjanpalo den Mittelfuß. Im Laufe der Hinrunde fehlte Kevin Volland zunächst wegen einer Sperre, dann mit einem Muskelfaserriss. Admir Mehmedi plagten immer wieder Muskelprobleme, Stefan Kießling schlug sich mit selbigen herum. Und seiner Hüfte.

Und so war Havertz, der keine drei Wochen zuvor noch im Jugendfußball-Zentrum Kurtekotten Mannschaften wie der U19 des Wuppertaler SV gegenübergestanden war, am 7. Spieltag plötzlich ein Bundesligaspieler. Mit 17 Jahren und 126 Tagen der siebtjüngsten Bundesligadebütant aller Zeiten.

Mit einem Dasein als Füllmaterial für den Kader hielt sich Havertz aber nicht auf. Mal im Zentrum, oft rechts, auch mal links im Mittelfeld - Schmidt hatte im eigenen Kinderzimmer eine echte Allroundwaffe gefunden, deren Einschlag aber vor allem sie selbst überraschte. "Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell gehen kann", sagte Havertz in einem seiner wenigen Medien-Gespräche im Winter dem kicker. "Es ist für uns alle ein bisschen überraschend", gab auch Schmidt zu, "dass er so schnell Fuß fasst".

So schnell, dass er nach 13 Einsätzen in der Bundesliga dort schon Spiele prägen und, auch wenn man das in Leverkusen wohl nicht laut heraussagen würde, auch entscheiden kann. Gegen Augsburg lief Havertz 11,7 Kilometer, mehr als alle anderen Leverkusener. Er hatte 74 Ballaktionen, suchte 32 Zweikämpfe, spielte 57 Pässe - Bestwerte der Werkself. Und dann waren da ja noch seine zwei Torvorlagen.

Sauber bleiben im Kopf

In einem halben Jahr macht Havertz sein Abitur. Schule, Training, Bundesliga, das ist für ihn mittlerweile zum Alltag geworden. Im Trainingslager in Florida musste er nach den Einheiten büffeln, während der Rest der Mannschaft das milde Wetter Floridas genießen durfte.

Es muss allerdings sehr viel passieren, dass Havertz in naher Zukunft Bewerbungen mit Schulnoten verschicken muss.

"Dieses Selbstverständliche, den Ball zu streicheln", bewundert Sportchef Rudi Völler und scheut dabei nicht vor einem Vergleich mit Havertz' Idol Mesut Özil. "Er hat einfach eine Gabe." Und "eine Ballbehandlung, die ist sensationell". Selbstverständnis, Technik, Ruhe, Dynamik und sogar Robustheit und Kopfballspiel: Mit der Ausnahme seines rechten Fußes bringt Havertz ein verdächtig komplettes Paket mit für einen 17-Jährigen.

Natürlich weiß auch Havertz: "Wir hatten Verletzungspech und das hat mir in die Karten gespielt." Doch auch jetzt, da der Kader wieder voller wird, gibt es wenig Grund für Schmidt, Havertz wieder wegzuschicken. Zumal durch Hakan Calhanoglus viermonatige Sperre gerade ein Stammplatz in der Leverkusener Offensive frei geworden ist - da, wo Havertz auf ungewohnter Position als hängende Spitze in den letzten beiden Spielen drei Tore vorbereitet hat.

Und wenn man allen Leverkusenern so zuhört, wie sie es nicht schaffen, ihren Havertz nicht zu hoch zu loben, könnte man beinahe das Gefühl bekommen, dass da noch einiges mehr kommt. An Einsätzen, an Assists und an Lob.

"Wichtig ist", sagte Leno schließlich am vergangenen Freitagabend in Augsburg-Haunstetten-Siebenbrunn, "dass er im Kopf sauber bleibt. Denn dann kann er ein ganz Großer werden."

Kai Havertz im Steckbrief