Fußball-Kolumne: Warum Thomas Müller der Spieler des Jahres ist

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Am Ende des Katastrophenjahres 2020 muss man froh sein, dass es angesichts der Ausfälle noch nicht zu einer gigantischen Pleitewelle im Sport gekommen ist. Trotzdem findet man bei genauerem Hinsehen auch einiges Positives. Die Fußball-Kolumne kürt daher die Menschen des Jahres.

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Als ich im Januar die erste Kolumne schrieb, lautete der Titel: "Das größte Problem des deutschen Fußballs". Im Rückblick denkt man, welch schöne Zeiten das gewesen sein müssen, als der fehlende Nachwuchs tatsächlich noch das größte Problem war. Denn elf Monate später haben wir bekanntlich ganz andere Sorgen, auch im Fußball.

Der optimistische Ausblick nach einem so dermaßen desaströsen Jahr fällt wirklich schwer. Es besteht Hoffnung, dass 2021 auch im Sport vieles besser wird - ob allerdings etwa die EM in gleich zwölf Ländern und Olympia in Tokio vor Zuschauern und überhaupt stattfinden können, werden erst die nächsten Monate zeigen.

Vermutlich muss man es sogar noch positiv bewerten, dass die Corona-Pandemie nicht alles zerstört hat. Wenngleich der weltweite Lockdown und das damit einhergehende Sportverbot schon massive Schäden im Freizeit- und Breitensport nach sich gezogen haben. Und im organsierten Hochleistungssport, der aufgrund teilweise hervorragender Hygienekonzepte immerhin stattfinden kann, droht angesichts der fehlenden Zuschauer- und Einnahmeausfälle nach wie vor eine gigantische Pleitewelle.

Im Vergleich zu Basketball, Handball oder Eishockey ist der Profi-Fußball durch die Millionen aus den TV-Verträgen bislang vergleichsweise glimpflich davongekommen. Doch wäre der Spielbetrieb noch wenige Wochen länger ausgesetzt geblieben, hätten schon im Frühsommer 13 der 36 Erst- und Zweitligisten Insolvenz anmelden müssen.

Schalke 04 droht bei Abstieg Lizenzentzug

Angesichts der vermutlich bis Saisonende zu erwartenden Geisterspiele wird der Spielraum für die meisten Klubs immer enger, Notverkäufe von Spielern und Entlassungen auf der Geschäftsstelle werden ein Thema bleiben. Bei Schalke 04 beispielsweise gehen Insider davon aus, dass der Traditionsverein aufgrund von rund 240 Millionen Verbindlichkeiten bei einem Bundesliga-Abstieg für die 2. Liga keine Lizenz bekommen wird.

Die Umstände der Schalker Talfahrt haben übrigens dazu geführt, dass die Königsblauen in den Fußball-Kolumnen in diesem Jahr zu den häufigsten Themen gehörten - neben dem omnipräsenten Corona-Thema mit all seinen Auswirkungen und dem zweiten sportlichen und strukturellen Dauer-Krisenherd: dem DFB. Über alle drei Brennpunkte wird ziemlich sicher im nächsten Jahr genauso oft berichtet werden wie über den FC Bayern, der beinahe erwartbar ebenfalls in zahlreichen Kolumnen analysiert wurde.

Womit wir bei einem der wenigen Gewinner 2020 wären, denn dem Triple-Sieger aus München konnte national wie international niemand das Wasser reichen. Doch auch einige Personen gehörten für mich in den vergangenen Monaten zu den Gewinnern.

Die Gewinner im Fußball 2020

  • Mein Spieler des Jahres: Thomas Müller

Das Erfolgsrezept in einem Mannschaftssport ist ja, dass die Summe mehr ist als die einzelnen Teile. Weshalb bei der Weltfußballerwahl die Dauersieger Lionel Messi und Cristiano Ronaldo, die mit Barca und Juve nicht viel gerissen haben, von Bayern-Torjäger Robert Lewandowski entthront wurden. Denn die Münchner haben dank weiterer Teamplayer wie Manuel Neuer, Joshua Kimmich oder David Alaba alles gewonnen.

Mein Spieler des Jahres ist aber trotzdem Thomas Müller. Weil er sich zum x-ten Mal neu erfunden hat und weil sämtliche Abgesänge auf ihn in der Mülltonne landen mussten. Der Vorzeige-Bayer ist eine Identifikationsfigur, eine Stimmungskanone, ein echter Leader und vor allem nach wie vor ein absoluter Weltklasse-Fußballer. Um Vereinsboss Karl-Heinz Rummenigge zu zitieren: "Ich ziehe meinen Hut und sage Champs Elysees."

  • Mein Talent des Jahres: Florian Wirtz

Womit wir wieder beim Beginn des Textes wären, dem "größten Problem des deutschen Fußballs": Kein Nachwuchs mehr hinter dem letzten Hochbegabten-Jahrgang 1995/96 mit Kimmich, Süle, Sane und Co. Was in der Tendenz sicher auch richtig bleibt, aber manchmal reichen ja vier, fünf Toptalente, um für neuen Aufschwung zu sorgen. Neben dem zu Chelsea gewechselten "Altstar" Kai Havertz (21) aktuell etwa Youssoufa Moukoko (16/BVB), Jamal Musiala (17/Bayern), Maximilian Beier (18/Hoffenheim) oder Lilian Egloff (18/Stuttgart).

Oder eben Florian Wirtz, der Anfang des Jahres als (relativer) No-Name für erheblichen Wirbel sorgte, als Bayer Leverkusen ihn unter Umgehung eines Abwerbe-Agreements vom 1. FC Köln loseiste - weil es "fahrlässig gewesen wäre, ihn nicht zu holen", wie Rudi Völler damals zugab.

Nicht einmal ein Jahr später hat der erst 17 Jahre alte Mittelfeldspieler "unsere ohnehin großen Erwartungen in seinem ersten Jahr bei den Profis schon weit übertroffen", wie Leverkusens Sportchef nun bei der vorzeitigen Vertragsverlängerung mit dem Toptalent erklärte. Nach 27 Pflichtspielen national und international hat sich Wirtz als Stammkraft bei Bayer etabliert und gehört schon jetzt zu den Hoffnungsträgern für die Zukunft des deutschen Fußballs.

  • Mein Trainer des Jahres: Hansi Flick

Dass ich der festen Überzeugung bin, dass niemand anderes als Flick den Titel des Welttrainers verdient gehabt hätte, habe ich via Twitter schon unmittelbar nach der FIFA-Wahl von Jürgen Klopp kundgetan. Die Folge war ein veritabler Streit zwischen Dortmund-Fans, die ihr Idol angesichts der historischen Meisterschaft mit dem FC Liverpool als völlig verdienten Gewinner bezeichneten, und den Bayern-Anhängern.

Man muss aber nicht Sympathisant des Rekordmeisters sein, um Flick nach dem Triumphzug in allen Wettbewerben zum Trainer des Jahres zu küren. Denn der einstige Löw-Assistent ist nicht nur erfolgreich, was mit den Bayern schon viele seiner Vorgänger waren.

Nein, Flick ist zum einen bodenständig und sympathisch geblieben, auch im persönlichen Kontakt, zum anderen hat er mit seiner empathischen Menschenführung Struktur und Ordnung ins Team gebracht, dem er zudem höchst ansehnlichen Offensiv-Fußball verordnete - exemplarisch bewiesen beim 8:2-Kantersieg über den FC Barcelona. Mehr geht nicht.

  • Mein Mann des Jahres: Christian Seifert

Ehre, wem Ehre gebührt: Ohne DFL-Chef Christian Seifert, dem jahrelang nicht völlig zu Unrecht der Ruf eines aalglatten Verkäufers des Hochglanzprodukts Bundesliga vorauseilte, hätte der deutsche Profi-Fußball vielleicht den größten Schiffbruch seiner Geschichte erlitten. Es war ein Tanz auf der Rasierklinge und Seifert hat ihn meisterhaft bestanden: mit klugen Worten, zurückhaltenden Auftritten und entschiedenen Taten.

Ohne das zügige Erarbeiten eines Hygienekonzepts, dem letztlich erfolgreichen Werben bei den Entscheidern aus der Politik und der fast schon defensiv-demütigen Öffentlichkeitsarbeit wäre im Frühjahr auch ein dauerhafter Liga-Lockdown möglich gewesen. Dieser Worst Case wurde vor allem dank Seifert abgewendet. In Sachen Krisenkommunikation ein leuchtendes Beispiel für den DFB.

  • Mein Abschied des Jahres: Die Bender-Zwillinge

Wenn man sich die Verletzungshistorie von Lars und Sven Bender anschaut, dann verwundert der Entschluss der beiden Bayern nicht wirklich, im Sommer ihre Profi-Karriere zu beenden. Bedauerlich ist er gleichwohl, denn selten habe ich Spieler mit solch einem Einsatz und Engagement gesehen - und das gleich im Doppelpack.

Umso trauriger, dass die körperlichen Folgen ihres Powerfußballs dazu führten, dass beide weit weniger erfolgreich waren als sie es verdient gehabt hätten. Schon in ihren Junioren-Teams waren die Benders absolute Anführer, doch als Leader im Seniorenbereich verpassten sie mehr Titel als sie gewannen - immerhin Sven holte mit dem BVB zwei Meisterschaften und zwei DFB-Pokalsiege.

Vielleicht reicht es ja zum Abschluss mit Leverkusen auch für Lars doch noch mal zum großen Wurf in der Bundesliga - verdient hätten es die eisernen Zwillinge allemal.