BVB - Borussia Dortmund holt Lucien Favre als Nachfolger von Peter Stöger: Trainer am Limit

Von Jonas Rütten
Lucien Favre soll den BVB als neuer Cheftrainer wieder auf Vordermann bringen.
© getty
Cookie-Einstellungen

Taktik unter Lucien Favre: Diszipliniert bis in die Haarspitzen

Favres Teams stehen in der Regel tief, lassen dem Gegner bis kurz vor dem eigenen Sechzehner seine spielerischen Freiheiten, greifen dann jedoch resolut und entschlossen an. Die vielen Abschlüsse, die sich daraus zwangsläufig für den Gegner ergeben, sollen nur unter höchstem Druck erfolgen. Die Keimzelle sei für Favre das Eins-gegen-Eins, beurteilte Schmitz die Spielidee von Favre. Eine Tugend, die dem BVB nach Ansicht von Hans-Joachim Watzke unter Bosz und Stöger abhanden gekommen war.

Denn nicht umsonst forderte er beim Sky-Talk mit Jörg Wontorra Spieler, die ihre Präsenz auf dem Platz auch mal durch Körperlichkeit zum Ausdruck bringen: "Wir brauchen einen Spieler mehr, der etwas böser guckt, der auch mal einen wegsenst." In Favre hat der BVB nun einen Trainer, der gerade solche Spielertypen wertschätzt. In der letzten Saison unter Favre führte Borussia Mönchengladbach insgesamt 7.222 Zweikämpfe (52,2 Prozent gewonnen). Unter Stöger und Bosz kam der BVB im Kollektiv auf lediglich 4.547 direkte Duelle.

Der Fußball unter Lucien Favre ist ballbesitzorientiert, körperbetonter, abhängig von der disziplinierten Umsetzung der Raumdeckung und des kollektiven Verschiebens. "Wenn du mitziehst, macht dich Favre jeden Tag besser", beurteilte der Ex-Gladbacher Alexander Ring Favres Eigenschaften als Trainer im Interview mit SPOX. Er habe auf Kleinigkeiten geachtet, auf die andere Trainer nicht so achten: "Zum Beispiel erklärt er haarklein, wie man sich beim Blocken einer Flanke drehen muss, wie man zum Pass stehen und ihn dem Mitspieler in den richtigen Fuß spielen muss."

Favre und der BVB-Kader: Alte Freunde und die Jugend von heute

Spieler zu finden, die mitziehen, dürfte Favre beim BVB erstmal nicht schwer fallen. Mit Mahmoud Dahoud, Marco Reus und Lukasz Piszczek stehen beim BVB gleich drei Spieler im Kader, die bereits unter Favre gespielt haben, unter ihm aufgeblüht sind und seine Arbeitsweise im Training kennen. Spielzüge bis ins Detail in Zehn-gegen-Null-Spielformen einzustudieren ist ihnen genauso wenig fremd, wie Favres Pochen auf ein geduldiges, fast schon behäbiges Aufbauspiel aus der Mitte über die Außen.

Favre gilt außerdem als Förderer von ehrgeizigen Nachwuchstalenten. Das stellte er auch in Nizza mit Dalbert und Valentin Eysseric unter Beweis. Mit Alexander Isak, Christian Pulisic, Dan-Axel Zagadou, Jadon Sancho und Sergio Gomez stehen beim BVB gleich fünf U20-Spieler bereit, denen mehr oder weniger eine große Zukunft vorhergesagt wird und die sich unter Favre Hoffnung auf mehr Einsatzzeiten machen dürfen - Stichwort Weiterentwicklung.

Dazu müsste Favre aber bereit sein, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen und etablierte BVB-Spieler auf die Bank setzen.

BVB-Trainer Lucien Favre: Kein zweiter Thomas Tuchel

Mit Entscheidungen solcher Art hatte Tuchel beim BVB keine Probleme, allerdings sorgte unter anderem die Art und Weise, wie er diese Entscheidungen kommunizierte, teilweise für einen Bruch im Verhältnis zwischen Mannschaft, Trainer und Vorstand.

Dahingehend tickt Favre anders als Tuchel, weswegen Sorgen in BVB-Fankreisen über mögliche Parallelen der Ereignisse eigentlich unbegründet sind. "Das Wichtigste ist Ehrlichkeit. Einem Spieler zu erklären, warum er nicht spielt. Das gilt auch in die andere Richtung: Meine Tür steht immer offen, für jeden. Die Kommunikation ist sehr wichtig. Auch mit dem Vorstand, mit dem Sportchef, mit Mitarbeitern, dem Schiedsrichter oder anderen Trainern", erklärte Favre gegenüber der Sport Bild seinen Standpunkt.

Favre wird nicht nur bei solchen Entscheidungen auf die Rückendeckung der BVB-Führungsriege um Watzke, Michael Zorc und Sebastian Kehl angewiesen sein, sondern auch auf richtige Entscheidungen auf dem Transfermarkt. Für Favres System sind flexible und bewegliche Spitzen ebenso essentiell wie eine stabile Defensive. In beiden Mannschaftsteilen soll der BVB dem Vernehmen nach Neuverpflichtungen planen.

BVB und Lucien Favre: Guter Zeitpunkt für eine Gratwanderung

Das Konstrukt "Favre beim BVB" kann also funktionieren. Die Voraussetzungen dafür sind entweder schon gegeben, oder sollen geschaffen werden. Favre selbst hat sich seit seinem Abgang aus der Bundesliga geändert. Galt er früher noch in Krisenzeiten als nicht stressresistent und sprunghaft in seinen Entscheidungen, hat er in Nizza unter Beweis gestellt, dass er auch schwierige Phasen, in denen schon an seinem Stuhl gesägt wurde, mit Ruhe und Gelassenheit überstehen kann.

Dennoch ist sein Engagement sowohl für den BVB als auch für Favre selbst eine Gratwanderung, wenngleich beide Seiten zum richtigen Zeitpunkt zusammenfinden. Während Favre mit der Hertha, Gladbach und Nizza die klassischen Underdog-Teams trainierte, bei denen er ohne die ganz große Erwartungshaltung phasenweise das Maximum rausholte, ist sein Handicap zum Amtsantritt beim BVB ungleich größer. Er soll die Schwarz-Gelben zurück zu alter Stärke und mindestens auf Platz zwei in Deutschland führen.

Der BVB hingegen geht das Risiko ein, dass Favre mit dieser ihm unbekannten Drucksituationen nicht zurechtkommt und in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Es wird unter anderem davon abhängen, wie viel Zeit Favre eingeräumt wird, um bestehende Probleme beim BVB zu lösen. Der Trainer Favre erfordere Nerven und Energie, sagte Dieter Hoeneß, der als Manager der Hertha mit dem Schweizer Übungsleiter zusammenarbeitete: "Aber es lohnt sich."

Inhalt:
Artikel und Videos zum Thema