Neues Gesicht in alter Rolle: Leon Goretzkas Situation beim FC Schalke 04

Von Christian Schmidt
Leon Goretzka ist beim FC Schalke 04 seit Beginn dieser Saison wieder verstärkt in der Defensive gefordert
© getty

Spätestens nach dem Abschied von Benedikt Höwedes ist Leon Goretzka mehr denn je als Führungsspieler und Identifikationsfigur beim FC Schalke 04 gefordert. Auf dem Fußballplatz lässt sich vor dem Spiel gegen den FC Bayern (Di., 20.30 Uhr im LIVETICKER) eine erste Tendenz erkennen, dass im Vergleich zur Vorsaison wieder andere Qualitäten des Mittelfeldspielers gefragt sind.

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"Zieht den Bayern die Lederhosen aus", schallte es noch Minuten nach Abpfiff durch das Bremer Weserstadion. Kurz zuvor hatte sich der FC Schalke durch eine Willensleistung den dritten Sieg im vierten Saisonspiel erkämpft, was zu euphorischen Gesängen unter dem eigenen Anhang führte.

Nicht von ungefähr war dabei Goretzka das viel umjubelte Siegtor vorbehalten, als ihm sieben Minuten vor Spielende bei einem Eckstoß der Ball vor die Füße fiel und er zum 2:1-Führungstreffer vollstreckte. Zuvor wusste er bereits als Antreiber und Herzstück im Gelsenkirchener Mittelfeld zu überzeugen - und wies die meisten Pässe und Balleroberungen innerhalb seiner Mannschaft auf.

Aufgrund bislang spärlicher offensiver Akzente in der noch jungen Saison wurde Goretzka im Vorfeld der Partie bereits ein Leistungstief nachgesagt. Mit seinem persönlichen Scorerrekord in der Spielzeit 2016/17 hatte der Mittelfeldspieler selbst eine mediale Erwartungshaltung geschürt, der er in seiner neuen Rolle unter Domenico Tedesco gar nicht gerecht werden kann.

Goretzka unter Weinzierl in offensiverer Rolle

Nachdem Goretzka jahrelang zum Inventar der Schalker Doppelsechs gehört hatte, brach Markus Weinzierl diese bewährten Strukturen in der Vorsaison dauerhaft auf und stellte dem gebürtigen Bochumer im lange Zeit praktizierten 3-5-2-System zwei Akteure in der Mitte des Spielfeldes an die Seite. Dies hatte zur Folge, dass sich der 22-Jährige auf einer vorgezogenen Position wiederfand und seine offensiven Qualitäten stärker als bislang in das Spiel seiner Mannschaft einbringen konnte.

Mit fünf Treffern und fünf Vorlagen stellte Goretzka in der abgelaufenen Saison so einen neuen persönlichen Bestwert auf und zählte in einer misslungenen Schalker Saison zu den wenigen Lichtblicken. Auch nach der Umstellung auf eine Viererkette zur Mitte der Rückrunde waren weiterhin Goretzkas Offensivqualitäten gefragt, die er nun regelmäßig als Spielmacher auf der Zehnerposition unter Beweis stellte.

Goretzka als Hoffnungsträger für Deutschland

Mit der Neudefinition seines Stellenprofils in der Vorsaison erfuhr Goretzka plötzlich auch von Seiten der Öffentlichkeit eine neue Wahrnehmung. "Die mediale Aufmerksamkeit aufgrund der Torbeteiligungen war in diesem Jahr größer, deswegen kommt es in der öffentlichen Wahrnehmung vielleicht so rüber, als sei ich jetzt viel besser als im letzten Jahr gewesen. Aber auch die Vorsaison war sehr gut", ordnete Goretzka Mitte Juni im Gespräch mit der FAZ das gestiegene Interesse an seiner Person ein.

Anfang Juli erreichten die medialen Lobeshymnen ihren Höhepunkt, als Goretzka beim Confed Cup als Schwungrad der neu zusammengestellten deutschen Mannschaft überzeugte und mit drei Toren und einer Vorlage wesentlich zum Turniersieg beitrug. Plötzlich war der Mittelfeldspieler auch auf internationaler Bühne präsent und wurde mit Blick auf die 2018 in Russland anstehende Weltmeisterschaft sogar in die Rolle des Hoffnungsträgers im Mittelfeld des DFB-Teams gehoben.

Im Zuge der gestiegenen Erwartungshaltung und der medialen Aufmerksamkeit entwickelten auch die Spekulationen über die Zukunft des Schalkers eine rasante Eigendynamik. Neben dem nationalen Primus FC Bayern, der sich zwischendurch in der Pole Position im Werben um den Mittelfeldspieler zu befinden schien, wurde der Nationalspieler nun auch mit Schwergewichten außerhalb der Landesgrenzen wie dem FC Barcelona oder Real Madrid in Verbindung gebracht.

Angesichts des x-ten Umbruchs, den die Gelsenkirchener in diesem Sommer zu bewältigen hatten, machten die Vereinsverantwortlichen aber bereits frühzeitig ihre Nicht-Bereitschaft zu Transferverhandlungen deutlich.

Goretzka als neues Schalker Gesicht

In dem langjährigen Kapitän Benedikt Höwedes, Sead Kolasinac, Klaas-Jan Huntelaar und Atsuto Uchida verlor Schalke in der zurückliegenden Sommerpause gleich vier langjährige Publikumslieblinge und eine gehörige Portion Identifikation. Dies war dabei nur die Fortsetzung einer Entwicklung, die bereits 2014 ihren Anfang nahm: Standen damals noch 17 Spieler im erweiterten Profikader, die im eigenen Nachwuchs ausgebildet wurden, finden sich aktuell mit Ralf Fährmann, Thilo Kehrer, Max Meyer,Weston McKennie und Fabian Reese nur noch fünf Spieler wieder, die der viel gerühmten Knappenschmiede entstammen.

In Zeiten, in denen der Anhang dem fortschreitenden Verlust der Identifikationsfiguren zunehmend kritisch gegenübersteht, war Goretzka von den Vereinsverantwortlichen schnell als neues Gesicht des Vereins und als Schlüsselspieler zum Gelingen des neuerlichen Umbruchs auserkoren worden.

Neben öffentlichen Bekundungen der Wertschätzung durch Christian Heidel, der Goretzka in Gesprächen mit dem Spiegel und der Vereinshomepage abwechseln als "vielleicht wichtigsten Spieler für uns" und "den besten Mann, den man nicht ersetzen kann" rühmte, wurde Goretzka als Zeichen seines gestiegenen Stellenwerts auch zum Vertreter von Kapitän Fährmann ernannt. Zeitgleich bekam Goretzka unter dem neu installierten Coach Tedesco erneut eine veränderte Rolle auf dem Fußballplatz zugeteilt.

Wieder mehr Defensivaufgaben für Goretzka

Nachdem Goretzka in der vergangenen Saison regelmäßige Glanzlichter in der Offensive setzen konnte, scheinen unter Tedesco nun wieder die Defensivkünste des gebürtigen Bochumers in den Vordergrund zu rücken. Im 3-4-3 bzw. 3-4-2-1 System ist Goretzka seit Beginn der neuen Spielzeit wieder verstärkt als Abfangjäger und zweikampfstarker Balleroberer einer Doppel-Sechs gefragt, bei der sich der ehemalige Bochumer die Ausflüge in die Offensive mit Nabil Bentaleb aufteilt.

Die zusätzliche Absicherung in Person von Johannes Geis oder Benjamin Stambouli ist nicht mehr vorhanden, sodass sich Goretzkas hauptsächliches Einsatzgebiet wieder deutlich mehr in die eigene Hälfte verlagert hat und er seltener in vielversprechende Abschlusspositionen kommt. Verbesserte Werte bei der allgemeinen Zweikampfführung (54,1 % 2017/18 zu 45,4 % 2016/17) und den Luftzweikämpfen (64,7 % 2017/18 zu 40,5 % 2016/17) zeugen von Goretzkas verändertem Einsatzgebiet.

Mit der zurückgezogenen Rolle Goretzkas stieg auch die Anzahl der Regelverstöße, von denen er sich in vier Spielen bereits zehn Stück leistete. In der kompletten Vorsaison standen für Goretzka 40 Foulspiele zu Buche.

Dadurch, dass der 22-jährige wieder mehr als Zweikämpfer und Balleroberer gefordert wird, trat er mit Ausnahme des Siegtreffers gegen Bremen offensiv noch nicht in dem Maße der Vorsaison in Erscheinung, was in Teilen der Öffentlichkeit direkt als Formtief ausgelegt wurde. Angesichts des 2018 auslaufenden Vertrags dürfte den Vereinsverantwortlichen ein Abebben des zwischendurch regen Medieninteresses an ihrem Hoffnungsträger aber nur allzu gelegen kommen.

Goretzka steht vor Grundsatzentscheidung

Um Goretzka langfristig an Schalke zu binden, wäre Schalke laut einem Bericht des kicker bereit, über die finanzielle Schmerzgrenze zu gehen und ihre Nummer acht mit einem Jahressalär von zehn Millionen Euro zum Rekordverdiener der Vereinsgeschiche zu machen. Jedoch sind den Königsblauen angesichts des auslaufenden Vertrags und der mittlerweile auch international hohen Reputation des Spielers die Hände gebunden, sollte ein größerer Klub im Laufe der Saison sein Interesse intensivieren.

Für Goretzka selbst wird die Frage nach der Vertragsverlängerung zur Grundsatzentscheidung: Will er als Gesicht der Schalker Mannschaft die nahe Zukunft des Vereins auf dem angestrebten Weg zurück in die europäische Königsklasse mitprägen? Oder wählt er den Weg zum deutschen Rekordmeister respektive einem internationalen Schwergewicht, wo womöglich eine größere Chance besteht, selbst zu glänzen?

Im Gespräch mit der SZ ließ Goretzka Mitte Juni bereits durchklingen, dass er seine persönliche Zukunft eng mit dem Schicksal des Vereins verknüpft sieht, das nach den Misserfolgen der jüngeren Vergangenheit die Rückkehr in die nationale Spitzengruppe sein soll. "Er will auch die sportliche Entwicklung abwarten und ein Gefühl entwickeln", bekräftige Manager Heidel gegenüber Reviersport.

Nachdem Goretzka innerhalb von vier Jahren bereits fünf verschiedene Übungsleiter an der Seitenlinie und fast genauso viele ausgerufene Neuanfänge miterlebt hat, könnte der lange herbeigesehnte Einzug von Kontinuität zum entscheidenden Faktor im Vertragspoker werden.

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