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Peter Bosz ist zur neuen Saison Trainer beim BVB in Dortmund
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Peter Bosz wird zur kommenden Saison Borussia Dortmund trainieren. Auf das Spiel des BVB warten unter Bosz große Anleihen bei Johan Cruyff. Genau deshalb ist man rund um Ajax Amsterdam jetzt traurig.

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Ralph Hasenhüttl schwang sich seinerzeit aufs Mountainbike, Peter Bosz war auf das Auto angewiesen. Ihr Ziel war dasselbe, nur die Distanz eine andere. Hasenhüttl radelte von Unterhaching nach München an die Säbener Straße, Bosz fuhr von Rotterdam nach Amsterdam - allerdings 15 Jahre früher.

Trainingseinheiten von Louis van Gaal zu beobachten, das übt auf angehende Trainer eine große Attraktivität aus. Bosz war zu jener Zeit Mitte der 1990er Jahre Spieler von Feyenoord, Ajax dominierte damals den Weltfußball. Es gehörte Mumm dazu, im alten Stadion De Meer unbeobachtet im PKW zu sitzen und dem größten Rivalen beim Trainieren zuzuschauen.

Bosz war ein solider, aber keinesfalls begnadeter Profi. Dazwischenhauen und zerstören, das war Boszs Spiel. Er reifte schon früh als Führungspersönlichkeit und wurde auf dem Platz zum verlängerten Arm seiner Trainer. Bereits mit 16 Jahren sei ihm bewusst geworden, sich später selbst einmal als Coach versuchen zu wollen.

Boszs schleppender Karrierestart

Daher führte Bosz frühzeitig penibel Buch und notierte jahrelang alles, was er von seinen Trainern und durch eigene Beobachtungen lernte. Und er las viel, saugte dabei vor allem die Inhalte von Johan Cruyffs Spielphilosophie auf. Cruyff ist und bleibt im niederländischen Fußball die oberste, beinahe gottgleiche Instanz, seine Lehre stellt international für viele die höchste Güteklasse der Fußballkunst dar.

Als 2002 drei Jahre nach seinem Karriereende als Profi Boszs Trainerlaufbahn in der Eredivisie bei BV De Graafschap begann, verliefen die ersten Jahre schleppend. In fünf Spielzeiten, vier davon bei Heracles Almelo und zwischenzeitlich für vier Jahre als technischer Direktor von Feyenoord unterbrochen, gelangen ihm 51 Siege in 170 Ligapartien.

Ab der Saison 2013/2014 kristallisierte sich Boszs Vision des Fußballs, so wie er künftig auch in Dortmund gelehrt wird, allerdings immer deutlicher heraus. In zweieinhalb Spielzeiten unter Bosz stand Vitesse Arnheim für strukturierten, vertikalen und offensiv ausgerichteten Ballbesitz mit hohem Fokus auf schnellem und kompakten Gegenpressing nach Ballverlust - ganz im Sinne von Cruyffs Prinzipien.

Bosz: Das wichtige Treffen mit Cruyff

In den Niederlanden scheint man sich einig, weshalb Bosz Vitesse im Winter 2016 plötzlich verließ. Er wollte sich direkten Zugang zur Cruyff-Familie verschaffen, Johans Sohn Jordi arbeitet seit 2012 als Sportdirektor bei Maccabi Tel Aviv.

Mit Maccabi holte Bosz die Vizemeisterschaft und verlor das Pokalfinale, doch sein primäres Ziel waren nicht unbedingt Titel. Bosz wollte über Jordi Zugang zu Johan bekommen - und durch ihn letztlich auch zu Ajax.

Das gelang. Bosz war im März 2016 einer der Letzten, mit denen Cruyff fachsimpelte. Beim Treffen in Tel Aviv kurz vor Cruyffs Tod am 24. März wurden Boszs Aufschriebe gewissermaßen obsolet. Mit Cruyff persönlich und ausführlich sprechen zu können, öffnete Boszs Augen ein weiteres Mal. "Ich habe in einer Woche genug für zehn Jahre gelernt", sagte er.

Bosz: "Du kannst meinen Fußball nicht spielen?

Nur Wochen später unterschrieb Bosz bei Ajax. Dort hatten sich die Granden des Klubs nach fünfeinhalb Jahren unter Legende Frank de Boer entschieden, die mit vier Meistertiteln in Serie erfolgreichste Epoche des neuen Jahrtausends zu beenden. Sie wollten einen neuen, alten Fußball sehen: nämlich den Cruyffschen Ajax-Fußball, dem Bosz unter allen niederländischen Trainern mittlerweile am nächsten kommt.

Es dauerte drei lange und an Ergebnissen bisweilen maue Monate, bis Bosz seine Vision im Amsterdamer Kader vollständig implementiert hatte und die Mannschaft ausbalanciert war. Von einem längeren Anpassungsprozess sollte man zur neuen Saison auch bei Borussia Dortmund ausgehen, viele von Boszs Prinzipien hat der BVB jedoch in ähnlicher Form bereits im Baukasten seines eigenen Spiels.

Doch auch in Dortmund werden sich die Spieler anpassen müssen. Bosz hat mehrfach unterstrichen, dass er von seiner grundsätzlichen Strategie nicht abweichen wird. "Du kannst meinen Fußball nicht spielen?", fragte er einmal rhetorisch auf einem Trainersymposium in Holland. "Dann kann ich mir dir nichts anfangen", lautete seine Antwort.

BVB: Welcher Fußball kommt mit Bosz?

Wie sieht dieser Fußball nun im Detail aus? Bei Ajax lauteten Boszs Spielprinzipien in Ballbesitz: Hohes Balltempo, breite Aufteilung des Spielfelds, schnelles Wechseln der Seiten, Läufe hinter die Abwehr. "Ich hasse es, wenn Mittelfeldspieler den Ball auf Höhe der Verteidiger abholen kommen", sagt Bosz und fordert vielmehr, dass sich die zentralen Offensivspieler zwischen den Linien anspielbar machen und nach Ballgewinn weit aufrücken.

Auf den Flügeln sieht man sie dagegen selten, denn diese besetzt Bosz mit breiten Außenverteidigern, die bisweilen auch in die Halbräume vorstoßen, und Flügelstürmern meist ohnehin doppelt. Auf diese Weise gelangen Ajax die meisten Durchbrüche.

Verliert sein Team den Ball, setzt Bosz auf hohe Kompaktheit bei intensivem Gegenpressing und versucht, mit den Bewegungen der gesamten Mannschaft das Feld so klein wie möglich zu halten. Die Grundregeln dabei: Die Entfernungen zwischen den einzelnen Verteidigern sollen jeweils zehn bis zwölf Meter, der Abstand zwischen Angriff und Innenverteidigern maximal 25 Meter betragen.

Boszs Anleihe bei Peps Barcelona

Bosz legt im Moment des Ballverlusts eine von Pep Guardiolas Barcelona abgewandelte Fünf-Sekunden-Regel zugrunde. "Der Gegner braucht fünf Sekunden, um sich wieder zu sortieren. In dieser Zeit müssen wir den Ball zurückerobern", gibt Bosz vor. Heißt: Die vier Spieler, die nach Ballverlust am nächsten zur Kugel stehen, attackieren den Ballführenden im Sprint. Alle anderen antizipieren und ziehen gemeinsam das Netz zusammen.

Die Grundfrage dieser Herangehensweise ist seit jeher dieselbe: Was passiert, wenn das Gegenpressing nicht greift, der Gegner wieder in die Positionen kommt und kontern kann? Mit der Antwort darauf beschäftigt sich Bosz vor allem seit der Lektüre des Buches "Herr Guardiola" von Pep-Intimus Marti Perarnau.

Dabei wurde ihm bewusst, wie wichtig es ist, die freien Positionen der Kontrahenten nach deren Ballgewinn zu analysieren. Zuvor, sagt Bosz, habe er sich lediglich ein paar Minuten mit der Gegneranalyse aufgehalten. Auch beim BVB sollte sich Bosz auf den Umschaltmoment gegen den Ball fokussieren, auf diese Weise kassierten die Dortmunder schließlich die Mehrzahl ihrer Gegentore unter Thomas Tuchel.

Bosz' Ziel: Immer weniger laufen

"Ich werde oft als naiv bezeichnet, aber das ist großer Blödsinn", sagt Bosz hinsichtlich der riskanten Spielweise. "Ich habe bei jeder Mannschaft, die ich übernommen habe, zuerst das Verteidigen trainiert - außer bei Ajax. Mein Ziel ist es, dass meine Spieler immer weniger laufen müssen."

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Dass die Balance seiner Truppe im Vorjahr stimmte, belegt ein Blick auf die Zahlen: 63 Prozent betrug der durchschnittliche Ballbesitz von Ajax, zugleich der höchste Wert in der Eredivisie seit der Saison 2011/2012.

Mit 709 (20,9 pro Partie) gab Boszs Team die meisten Torschüsse verglichen mit Mannschaften aus den Top-5-Ligen ab. Der FC Barcelona kam beispielsweise nur auf 649 Schüsse, obwohl man vier Ligaspiele mehr zu bestreiten hatte.

Ajax: Traurigkeit in Amsterdam

Obwohl Bosz mit Ajax einen Titel verpasste, sind es Zahlen wie diese, die ihn - den ehemaligen Rotterdamer - bei den Amsterdamer Fans extrem beliebt gemacht haben.

Mit Bosz sah man sich auf dem Weg zurück zur alten Ajax-Schule: junge Talente, die einen intensiven und attackierenden Pressing-Fußball auf Grundlage der Cruyffschen Lehre spielen. Dieser Weg hat nun ein jähes Ende genommen, das Amsterdamer Umfeld ist empört.

Es mag sich nach wie vor skurril anhören, doch seit Cruyff geht in Amsterdam die Schönheit des Spiels Hand in Hand mit dem erzielten Ergebnis. So wie es zuletzt vor über 20 Jahren unter van Gaal zu bestaunen war, als Bosz im Auto seine Notizblöcke vollschrieb.

Peter Bosz im Steckbrief

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