Kurz nach kurz vor zwölf

Stefan Kießling hadert seit geraumer Zeit mit seiner Torquote
© getty

Bayer Leverkusens Angreifer Stefan Kießling stand im Sommer kurz vor dem Karriereende, arbeitet jedoch aufgrund einer besonderen Therapie an einer Fortsetzung seiner Laufbahn bis 2018. Sportlich tritt der Torschützenkönig von 2013 seit anderthalb Jahren auf der Stelle und ist mit einer ungewohnten Situation konfrontiert - persönlich wie mannschaftlich.

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Stefan Kießling dreht ab, rennt in Richtung Eckfahne und küsst seinen Unterarm mit den tätowierten Namen seiner Kinder Tayler und Hailey.

Soeben hat er Bayer Leverkusen zum Sieg geköpft. Auf Schalke. In der 89. Minute. In einem wegweisenden Spiel zweier Mannschaften, die bis zu diesem Zeitpunkt Mitte Dezember enttäuscht haben.

Ein befreiender Moment für den Verein, aber auch für Kießling selbst. Allzu viele Anlässe, auf dem Fußballplatz seine Tattoos zu küssen, hatte der Angreifer in den letzten Monaten nicht. Die Partie gegen den FC Schalke 04 war Kießlings erster Startelfeinsatz der Bundesligasaison, der Siegtreffer sein erstes Saisontor.

Kießlings ernüchterndes Zwischenfazit

Bis in den späten März sollte es jedoch auch sein einziges Erfolgserlebnis bleiben. Vor der entscheidenden Saisonphase fällt das Zwischenfazit des 33-Jährigen ernüchternd aus: 303 Einsatzminuten in der Liga, nur ein Spiel über 90 Minuten, ein Tor.

Die in den letzten Jahren konstant fallende Karrierekurve des Knipsers ist am Tiefpunkt angelangt. 2013 noch mit 25 Treffern Torschützenkönig, erzielte er in den Folgesaisons erst 15, dann neun, in der vergangenen Spielzeit sogar nur noch fünf Treffer.

Dass der Publikumsliebling immer mehr von seiner Torgefahr einbüßte, kostete ihm bereits im Laufe der vergangenen Saison unter Roger Schmidt seine Unantastbarkeit. Er verlor seinen Nummer-eins-Status an Chicharito, stand im Winter kurz vor einem Wechsel zu Hannover 96: "Ich war selber nach Hannover gefahren, um mir alles anzuhören, das Angebot lag vor. Ich kenne ja Manager Martin Bader noch aus Nürnberg. Wenn ich gegangen wäre, dann nur zu 96 - das hätte gepasst", erläuterte er seinerzeit.

Die Hüfte stoppt den Weg zurück zu alter Stärke

Ein Schicksalsspiel im Dezember 2015 veränderte letztlich die Situation. Kießling traf beim 5:0 gegen Borussia Mönchengladbach doppelt und legte zwei weitere Tore auf.

Das Aufbäumen eines strauchelnden Riesen. Plötzlich drehte sich der Wind. Kießling abgeben? Eine der großen Identifikationsfiguren im Verein? Nicht mit uns! Fans und Vereinsführung stärkten ihm demonstrativ den Rücken. Und er blieb.

Tatsächlich ging Kießling mit Rückenwind in die Rückrunde, machte die ersten fünf Spiele alle von Beginn an und war an drei Treffern direkt beteiligt.

Doch im Februar wurde der Weg zurück zu alter Stärke jäh gestoppt. Die Hüfte machte Probleme. Erst eine Prellung. Dann monatelang massive Probleme - bis in den Sommer hinein: "Es war kurz vor zwölf für mich", sagte Kießling kürzlich in einem Interview mit der Bild: "Ich hatte plötzlich jeden Tag Schmerzen in der Hüfte."

Gedanke ans Karriereende "erdrückend"

Mit langwierigen Verletzungen hatte sich Kießling zuvor seit einem Syndesmosebandriss im September 2010 nicht mehr herumschlagen müssen. Die hartnäckigen Hüftprobleme brachten nun sogar Überlegungen über ein Karriereende auf die Agenda: "Der Gedanke, dass die Karriere auf der Kippe steht und ich nicht wusste, wie es weiter geht - das war erdrückend."

Durch den Einsatz von Schmerzmitteln und eine spezielle Therapie wendete Kieß den Worst Case ab: "Ich mache jeden Tag meine Übungen, einmal in der Woche Yoga. So habe ich die Probleme in den Griff bekommen und mich wieder rausgeboxt. Seitdem geht es mir gut. Ich kann wieder super schlafen."

Zweimal 90 Minuten in vier Tagen "nicht mehr machbar"

Komplett spielfit war er in der Hinrunde allerdings nie. Gegenüber dem kicker gab er zu, dass zwei aufeinanderfolgende Spiele über die volle Distanz "nicht mehr machbar" seien: "Dass ich in der Hinrunde erst gegen Monaco und dann vier Tage später auf Schalke gespielt habe, war schon sehr viel. Als der Trainer mir einen Tag vorher gesagt hat 'Kieß, du wirst auch auf Schalke spielen', da habe ich gedacht: Was? Zweimal 90 Minuten in vier Tagen? Ein drittes Spiel hätte danach nicht kommen dürfen."

Aussagen, die ein Karriereende im Sommer nahelegen. Dieses kommt für Kießling allerdings nicht infrage: "Ich will definitiv noch bis 2018 spielen. Ich habe seit Winter praktisch komplett mittrainiert", sagte er zur Bild.

Nichtsdestotrotz blieb zuletzt nur ein Platz auf der Bank. Auch Tayfun Korkut brachte ihn nach seiner Amtsübernahme lediglich in der Schlussphase - und das obwohl er gegen die TSG Hoffenheim Chicharito zunächst auf die Bank setzte. Statt Kießling beorderte er jedoch Admir Mehmedi und Kevin Volland in die Startelf.

Kießling: "Wenn ich fit bin, kann ich jeder Mannschaft helfen"

"Für mich ist es logischerweise schwer, die Rolle anzunehmen, die ich zuletzt auszufüllen hatte. Im Moment bin ich fit. Und wenn ich fit bin, kann ich jeder Mannschaft helfen", schätzt Kießling selbst seine Situation ein.

Dass der 33-Jährige - im abgedroschenen Fußballer-Sprech formuliert - "weiß, wo das Tor steht", zeigen seine Karriere-Werte: Mit 141 Treffern steht er in der ewigen Torschützenliste der Bundesliga auf Rang 16, unter den noch aktiven Spielern im Oberhaus liegt er auf Platz vier (hinter Pizarro, Gomez und Lewandowski), in der Leverkusener Vereinshistorie sogar auf zwei (hinter Ulf Kirsten).

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Demgegenüber steht in der laufenden Spielzeit allerdings auch eine schwache Schussgenauigkeit von 27 Prozent. Im Vergleich: Mehmedi steht bei 53 Prozent, Volland und Chicharito jeweils bei 57.

In seinen starken Jahren hat sich Kießling nicht nur durch seine Kaltschnäuzigkeit ausgezeichnet. Im Gegenteil: Vor allem die Kampfsau-Einstellung und die spielerischen Fähigkeiten taten dem Spiel der Werkself gut. In dieser Saison schneidet er bislang allerdings auch bei statistischen Werten wie Passquote oder Zweikampfquote schwächer als seine Sturmkollegen ab. Kennzahlen, welche natürlich mit der fehlenden Fitness des Routiniers zu erklären sind, auf der anderen Seite aber auch die Entscheidung beider Coaches legitimieren.

Gerät Kießling erstmals mit Bayer in den Abstiegskampf?

Neigt sich Kießlings Ära bei Bayer also dem Ende zu? Wenn es für seine Karriere im Sommer kurz vor zwölf war, ist es für seine Zeit bei der Werkself nun kurz nach kurz vor zwölf.

Neu-Trainer Korkut stellte dem Angreifer zumindest höhere Einsatzzeiten in Aussicht: "Stefan Kießling ist Stefan Kießling. Wir wissen, was wir an ihm haben, ich weiß, was ich an ihm habe. Es werden die Spiele kommen, wo die Mannschaft ihn braucht. Denn Stefan ist ein klassischer Strafraum-Spieler, er hat außergewöhnliche Qualitäten."

Diese "außergewöhnlichen Qualitäten" könnte Bayer gut gebrauchen. Als 15. der Rückrundentabelle droht nämlich etwas, was Kießling in seinen elf Jahren Werkself noch nie erlebte: Abstiegskampf. Der Vorsprung auf den Relegationsplatz beträgt nur noch vier Punkte.

In einer Phase, in der es vor allem darum geht, irgendwie Ergebnisse einzufahren, könnte Kießling zum MVP werden. Wenn, ja, wenn er eben zu 100 Prozent fit ist. Dann hat er mit seiner körperlichen Robustheit und vor allem der Kopfballstärke bei Standards den anderen Alternativen im Angriff etwas voraus. Wie er es im Dezember in der Partie gegen Schalke zeigte.

Stefan Kießling im Steckbrief

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