"Heute jagen sie Pokemons anstatt Bälle"

Ralf Rangnick begann seine Arbeit bei Red Bull Ende Juni 2012 als Sportdirektor in Salzburg
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SPOX: Vor allem bei den Profis geht die Spielphilosophie von RB Leipzig im ersten Moment davon aus, den Ball nicht zu haben, ihn dann aber möglichst tief in des Gegners Hälfte zu erobern. Inwieweit hat das auch damit zu tun, dass dieser Spielstil mit der Marke Red Bull, die sich ja ebenfalls sehr über Extremsportarten definiert, übereinstimmt?

Rangnick: Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann fällt mir schon auf: Bullen treten selten alleine auf, sondern meistens in einer Herde. Man spricht dann ja auch von einer Stampede. Dieses Herden- oder Schwarmverhalten, wie wir es nennen, ist schon ein elementarer Bestandteil unserer Spielweise. Gedanklich kann man da sicher gewisse Parallelitäten erzeugen, die jedoch nie Teil dessen waren, weshalb wir nun so spielen, wie wir spielen.

SPOX: Wie wichtig ist es für Sie, dass die gesamte Mannschaft dieses Schwarmverhalten ausstrahlt?

Rangnick: Wenn wir Technik trainieren, dann machen wir das nicht durch ständiges Wiederholen des einzelnen Spielers, sondern immer im Team. Auch Dribblings werden mindestens in einer Zwei-gegen-zwei- oder Überzahl-Unterzahl-Situation trainiert, denn alles im Fußball muss in Relation zu Mit- und Gegenspielern, zu Raum und Zeit, gesehen werden. Damit unterscheiden wir uns sehr stark von dem von Wiel Coerver entwickelten holländischen Drill-Training. Es weiß ja inzwischen jeder Lernpsychologe, dass einen stures Wiederholen von ein und demselben Bewegungsablauf nicht wirklich richtig weiterbringt. Im Basketball gab es mal zwei Testgruppen: Die eine hat 5000 Mal von der gleichen Stelle geworfen, die andere 5000 Mal von einer immer leicht veränderten Position. Und jetzt raten Sie mal, welche Gruppe sich nachweislich um 20 bis 30 Prozent verbessert hat? Wir halten vom repetitiven Lernen der immer gleichen Situation eher weniger.

SPOX: Zumal Ihrer Spielidee entsprechend die Tatsache, den Ball erst einmal nicht zu haben, nichts mit defensivem Fußball zu tun hat.

Rangnick: Ähnlich wie Jürgen Klopp in Dortmund und jetzt in Liverpool, teilweise auch bei Pep Guardiola zu Barca-Zeiten, betrachten wir unser Spiel aus der Perspektive: Was passiert, wenn der Gegner den Ball hat? Dieses Verhalten, gerade auch unser Gegenpressing, ist aber kein Abwehr-, sondern ein Angriffsmittel. Wir wissen aufgrund von Untersuchungen der Entwicklungen der letzten Jahre, je weiter vorne, je dynamischer und aggressiver wir den Ball erobern, desto größer wird daraus die resultierende Torchance. Das liegt nicht nur an der Unorganisiertheit des Gegners. Es hängt auch extrem von der Wucht und Dynamik der Balleroberung ab, denn diese Dynamik nimmt man dann ja auch sofort und automatisch in den Gegenangriff mit.

SPOX: Und man ist dann deutlich näher am gegnerischen Tor.

Rangnick: Ja, aber es macht tatsächlich einen Unterschied, wenn man den Ball an derselben Stelle mit weniger Wucht und Dynamik erobern würde. Dann sind nämlich Häufigkeit und Klarheit der Torchance geringer.

SPOX: In Leipzig wird bei der Kaderzusammenstellung auf junge und sehr athletische Spieler Wert gelegt, die schnell regenerieren und weniger verletzungsanfällig sind. Was ist denn mit dem klassischen Feingeist - stirbt der aus oder würde er einfach nicht zum RB-Spielstil passen?

Rangnick: Wenn er für unsere Spielweise trotzdem die richtige Mentalität mitbringt, würde sich das nicht ausschließen. Im Gegenteil: Ein Spieler mit Auge für den tödlichen Pass ist hilfreich und macht natürlich auch den Unterschied aus. Spieler wie Lionel Messi oder Franck Ribery sind deshalb genial, weil sie in ihren Aktionen immer unberechenbar bleiben. Arjen Robben ist eher jemand, der in der Regel das Dribbling sucht. Das macht er großartig, aber er ist dadurch auch leichter auszurechnen. Für unser Spiel ist diese Unberechenbarkeit wichtig. Und daher brauchen wir ein komplexeres Anforderungsprofil.

SPOX: Wie gewichtet man denn in Leipzig spielmachende Aspekte im Training?

Rangnick: Das ist ebenfalls wichtig, denn wir haben ja auch eigenen Ballbesitz. Jürgen Klopp hat vor ein paar Jahren erzählt, dass 80 Prozent seines mannschaftstaktischen Trainings mit dem BVB auf den Ballbesitz des Gegners ausgelegt und für ihn Gegenpressing der perfekte Spielmacher sei. Das ist zum einen natürlich eine enorm hohe Zahl, aber ich kann beide Aussagen zu ganz großen Teilen unterschreiben. Wir hatten in der Vorsaison gegen viele defensive Teams verstärkt den Ball. Und dafür braucht es ebenfalls gewisse Prinzipien, die sich umgekehrt dann wiederum auch positiv auf unser Gegenpressing auswirken.

Lesen Sie ab Mittwoch, 17. August, den zweiten Teil des Interviews mit Ralf Rangnick

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