Schmerzliebender Kilometerfresser

Von Tim Noller
Ivica Olic ist mit 34 Jahren immer noch der laufstärkste Spieler in Wolfsburg
© getty

"Verrückter", "Tier", "Fleiß-Opa". Ivica Olic hat in seiner bemerkenswerten Karriere schon viele Spitznamen gesammelt. Aktuell erwacht er beim VfL Wolfsburg zu neuer Blüte und speist die Hoffnungen aufs internationale Geschäft. In den kommenden Wochen wird sich die Zukunft des Kroaten entscheiden.

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07.Mai 2008, Nordderby in Hamburg. Jerome Boateng mit dem Befreiungsschlag. Wo viele Stürmer die Situation gedanklich bereits abgehakt hätten, nimmt die Nummer elf des Hamburger SV den Klärungsversuch seines Teamkollegen als Startsignal wahr. Ivica Olic zieht den Sprint an, überläuft Werder-Verteidiger Naldo. Eine Sekunde später windet er sich vor Schmerzen am Boden, nachdem ihn Tim Wiese mit dem inzwischen legendären Kung-Fu-Tritt niedergestreckt hat.

Viel bemerkenswerter als die Gelbe Karte, mit der Wiese davon kam, war die Tatsache, dass Olic nach einer kurzen Behandlung wieder munter auf dem Feld umherlief und bei der knappen Niederlage der Hanseaten sogar die komplette Spielzeit bestritt.

Diese Szene, die Wiese danach etwas realitätsfremd mit den Worten "Ich treffe zuerst den Ball. Sicherlich treffe ich ihn danach ein bisschen" kommentierte, ist sinnbildlich für Ivica Olic' Spielweise. Ein Typ, der 90 Minuten für sein Team ackert, rennt und sich mit voller Leidenschaft in Gefahrenzonen stürzt.

"Ich denke, er stirbt gleich"

Mario Gomez, der während seiner Zeit beim FC Bayern mit dem Kroaten gemeinsam im Sturm auflief, brachte die aufopferungsvolle Spielweise einst auf den Punkt: "Ein Verrückter. Manchmal steht er neben mir und ich denke, er stirbt gleich. Dann zieht er wieder 40 Meter zum Sprint an."

Doch genau diese Art, Fußball zu interpretieren, die Show den anderen zu überlassen, sich selbst zurückzunehmen und dem Teamgedanken persönliche Eitelkeiten unterzuordnen, erschwerte Olic den Karrierestart.

Als er 1998 bei der Hertha in Berlin anheuerte, galt er zwar als vielversprechendes Talent, überzeugen konnte er bis zur Rückkehr in seine Heimat im Januar 2000 jedoch nicht. Zu unauffällig, unbegabt und technisch limitiert erschien der damals 21-Jährige den Hertha-Verantwortlichen.

Steile Karriere in Osteuropa

Zunächst nur verliehen, wurde Olic im Sommer 2000 an seinen Jugendklub NK Marsonia Slavonski Brod verkauft, wo er auf Anhieb mit starken Leistungen auf sich aufmerksam machte. Ein Wechsel zu NK Zagreb war die Folge. Dann ging alles ganz schnell: Torschützenkönig, Nationalmannschafts-Debüt, Wechsel zum Lokalrivalen Dinamo, erneut Torschützenkönig und im Jahr 2003 lockte ihn der russische Meister ZSKA Moskau in die Premier Liga.

Als er mit dem Armee-Klub 2005 das Triple aus UEFA-Cup, russischer Meisterschaft und nationalem Pokal holte, geriet der Kroate plötzlich wieder ins Blickfeld einiger Bundesliga-Vereine. Schließlich kehrte er sieben Jahre nach seiner unglücklichen Zeit in Berlin nach Deutschland zurück und unterschrieb beim Hamburger SV.

Seine zweite Chance in der Bundesliga wusste Olic zu nutzen. Unter Trainer Huub Stevens stürmte der HSV auf Platz vier und qualifizierte sich auch dank der 14 Saisontore des Publikumslieblings für den UEFA-Cup, in dem man erst im Halbfinale an Werder Bremen scheiterte. Neun Tore in 14 Spielen auf internationaler Bühne. Diese Zahlen schienen auch die Verantwortlichen an der Säbener Straße zu beeindrucken.

Olic straft Experten Lügen

Sein Wechsel zum FC Bayern wurde von skeptischen Stimmen begleitet. HSV-Legende Willi Schulz brachte die öffentliche Meinung zum Transfer treffend zum Ausdruck: "Er muss wissen, was ihn bei Bayern erwartet - die Bank! Und in Kroatiens Nationalelf wird er nicht mehr Stammspieler sein. Außerdem muss er für Schweinsteiger und Co. die Koffer tragen."

Wie die Mehrzahl der Experten sah auch er sich getäuscht. Bayerns neuer Trainer Louis van Gaal schenkte dem Kroaten von Beginn seiner Amtszeit an sein Vertrauen. Dies stellte vor allem aufgrund der großen Konkurrenz im Sturm eine große Überraschung dar. Mit Miroslav Klose, Mario Gomez und Luca Toni standen dem Holländer keine schlechten Alternativen zur Verfügung.

Konnte man Olic' Nominierung für die Startelf im 4-4-2-System noch nachvollziehen - die Spielertypen Klose, Gomez und Toni ähnelten sich zu sehr - lief der Kroate teilweise sogar im 4-2-3-1-System als einzige Spitze auf und verdrängte seine teuren Teamkollegen auf die Bank.

Lob von Lahm und van Gaal

Van Gaal begründete sein Vertrauen damals folgendermaßen: "Er ist sehr beweglich. Er geht mehr in die Tiefe als dem Ball entgegen. Dadurch werden die Räume für uns größer und das brauchen wir." Auch Philipp Lahm war von den Qualitäten seines Mitspielers überzeugt. "Er ist sehr wertvoll, weil er ein extremer Arbeiter ist und ein ganz anderer Stürmertyp, als unsere restlichen Angreifer. Er trifft, er rackert - deswegen ist er für uns enorm wichtig", beschrieb er Olic gegenüber SPOX.

Vor allem in der Champions League stieg "das Tier", wie ihn Holger Badstuber einst bezeichnete, zum absoluten Leistungsträger auf. Nicht nur sein unermüdliches Anlaufen der Gegenspieler machte Olic in der heißen Phase der Saison unverzichtbar. Mit seinem Last-Minute-Treffer gegen Manchester United und dem Dreierpack im Halbfinal-Rückspiel gegen Olympique Lyon steuerte er auch immens wichtige Tore zum Finaleinzug der Münchner bei.

Holpriger Start in Wolfsburg

Die Niederlage im Endspiel gegen Inter läutete allerdings eine lange Phase voller Rückschläge ein. Mit Knieproblemen in die Saison gestartet, brach er sich zunächst das Nasenbein und musste kurze Zeit später wegen eines Knorpelschadens am Knie operiert werden. Als er nach zehn Monaten Verletzungspause in den Kader zurückkehrte, kam er nicht mehr über Kurzeinsätze hinaus und flüchtete am Saisonende zum VfL Wolfsburg.

In der VW-Stadt fand er sich zunächst auf der ungeliebten Position im linken Mittelfeld wieder. Felix Magath setzte bis zu seiner Entlassung im Herbst auf Bas Dost im Sturmzentrum. Nachdem Dieter Hecking das Team im Januar 2013 von Interimstrainer Lorenz Günther-Köstner übernahm, ließ auch er Olic zunächst den linken Flügel beackern.

Als dem Stürmer die Torgefahr vollkommen abhanden gekommen war, suchte Hecking das Gespräch, kam Olic' Wunsch nach und stellte ihn wieder im Sturmzentrum auf. "Das war die gravierendste Maßnahme, um Ivis Stärken besser für die Mannschaft zu nutzen. Er ist ein Instinkt-Stürmer. Wenn er häufig vor dem Tor auftaucht, kann er sein Näschen nutzen", erklärte der VfL-Coach in der "WAZ".

Top-Leistungen im Karriereherbst

Olic erwachte zu neuem Leben, schoss Tore und verlor mit den Wölfen keins der letzten zehn Spiele in der Bundesliga. In der laufenden Saison macht er genau da weiter, wo er in der vergangenen Runde aufgehört hat. Sieben Tore in der Hinrunde, besser war der Kroate nie.

Momentan vereint er die Lauffreudigkeit eines Youngsters mit der Kaltschnäuzigkeit eines erfahrenen Routiniers. Er reißt Lücken in gegnerische Defensivverbünde und verschafft seinen Teamkollegen Räume. Räume, die allen voran Maximilian Arnold zu nutzen weiß. Das Wölfe-Talent blüht an der Seite des Stürmers auf und entwickelt sich in rasantem Tempo. Nicht zuletzt das Verdienst von Ivica Olic.

Sicherlich nicht die schlechtesten Argumente für eine Vertragsverlängerung. Anfangs noch skeptisch beäugt, scheint der 34-Jährige seinen Trainer und auch Sportdirektor Klaus Allofs überzeugt zu haben. "Es macht uns riesig Spaß, was Ivi derzeit abliefert. Wir werden uns beizeiten mit ihm hinsetzen bzw. Klaus Allofs und dann gucken, wie es weitergeht", äußerte sich Hecking nach dem 3:0-Sieg gegen Freiburg mit deutlich mehr Zuversicht als noch im Oktober, als er eine Verlängerung öffentlich in Frage stellte.

Bleibt er oder geht er?

Olic würde gerne in Wolfsburg bleiben, fordert jedoch auch Planungssicherheit: "Bis zur Winterpause halte ich still. Aber wegen meiner Familie brauche ich irgendwann Klarheit." Sollte es mit den Wölfen keine Einigung geben, könnte der Familienvater sich auch einen Wechsel in die USA oder nach Dubai vorstellen: "Wenn ich nicht in Wolfsburg bleibe, dann ist das vielleicht das letzte Jahr Bundesliga. Aber es ist ganz sicher nicht mein Karriereende."

Seiner geliebten Spielweise will er jedenfalls treu bleiben: "Meinen Stil und meine Taktik werde ich nicht mehr ändern können. Aber ich bin froh, dass ich auch die jungen, gut ausgebildeten Spieler mit meiner Art noch überraschen und besiegen kann."

Ivica Olic im Steckbrief