Besuch beim Frisör

Von Stefan Rommel
Die Ostkurve vertraut sich und der Mannschaft auch in diesen schwierigen Zeiten
© getty

Entkernt, aber noch lange nicht saniert: Werder Bremen tut sich auch im dritten Anlauf mit seinem Umbruch schwer. Momentan erscheint die Unwucht im Gefüge größer denn je. Die Probleme sind allesamt hausgemacht, Trainer und Sportdirektor stehen vor einer ungeheuer kniffligen Aufgabe. Thomas Eichin geht aber zumindest verbal voll in die Offensive.

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Drei Niederlagen in Folge machen noch keine Krise aus. Manchmal passiert so etwas binnen acht Tagen und kaum jemand würde auf die Idee kommen, daraus einen echten Tiefstand abzuleiten. Schon gar nicht in Bremen.

"Langfristiger Plan" mit Trainer Dutt

Das Problem ist aber, dass diese kurzzeitige Malaise nicht abgekoppelt für sich gesehen werden darf. Sie muss im Kontext zu dem stehen, was in Bremen seit ein paar Jahren abläuft. Der sukzessive Niedergang, verwaltet und betreut durch Klaus Allofs und Thomas Schaaf, gipfelte zweimal fast in einem Abstieg.

Der im Sommer nach der unfreiwilligen (Allofs) und freiwilligen (Schaaf) Trennung der beiden Verantwortlichen ausgerufene Umbruch ist nun schon der dritte seiner Art. Nach zwei kläglich gescheiterten Anläufen ist es nun an Robin Dutt, aus dem Erbe der beiden ehemaligen Granden wieder mehr zu machen, als einen darbenden Erstligisten mit Hang zur zweiten Liga.

"Wir haben einen langfristigen Plan mit ihm. Er kriegt alle Zeit der Welt, umzusetzen, was er sich vorstellt", sagte Sportdirektor Thomas Eichin nach dem 0:3 zu Hause gegen Eintracht Frankfurt.

Die Verantwortlichen werden nicht müde zu betonen, dass heftige Rückschläge wie der am vergangenen Samstag unumgängliche Bestandteile der Neuausrichtung seien. Für die um sich greifende Negativstimmung hat Eichin deshalb überhaupt kein Verständnis.

Eichin rügt das Umfeld

Mit dem Abstand von drei Tagen war es dem 46-Jährigen besonders wichtig, darauf nochmals ausdrücklich hinzuweisen. "Wer nach fünf Spieltagen den Kopf in den Rasen steckt, verliert die Richtung aus den Augen", sagte Eichin in einem Gespräch, veröffentlicht auf Werders Homepage. Und weiter: "Man kann über dieses Spiel richtig sauer sein, aber diese Untergangsstimmung, dieses negative Denken hier im Umfeld bringt niemanden weiter."

In der "Bild" legte er dann am Donnerstag sogar noch nach. "Diese Verunsicherung wird doch von außen herangetragen. Ich hasse diese Weltuntergangsstimmung. Dieses: 'Um Gottes Willen! Was passiert hier bloß, wo soll das nur hinführen?' ist mit mir nicht zu machen - egal ob von Spielern, Fans oder Medien."

Aus seiner Warte verständliche Worte. Aber Eichin übersieht dabei, dass die Fans seit mittlerweile über zwei Jahren auf eine feststellbare Veränderung warten und nun fürchten, auch von ihm und Dutt herbe enttäuscht zu werden. Das Protokoll sähe eigentlich vor, dass diese Spielzeit zur Neustrukturierung genutzt wird. Nicht wenige befürchten aber jetzt schon den reinen Abstiegskampf bis zum letzten Spieltag. Die Stimmung rund um Werder ist dementsprechend widersprüchlich.

Eichin: "Was wir überhaupt nicht brauchen, ist immer zu gucken, was die letzten drei Jahre war. Keiner kann hier erwarten, dass wir nach einem Fast-Abstieg eine Mannschaft hinzaubern, die alles in Grund und Boden haut. Das wird ein harter Weg, der dauert wahrscheinlich länger als nur ein Jahr."

Fans sind hin- und hergerissen

Die Kurve verabschiedete die Mannschaft nach dem Spiel gegen die Eintracht mit warmem Applaus. Es sind jene Teile der Fans, die sehr nachsichtig sind mit ihren Spielern. Für den einen oder anderen sogar zu nachsichtig.

Große Teile des Stadions waren aber bereits eine Viertelstunde vor dem Abpfiff leer. Und auch das ist ungewöhnlich für Bremen: Schon nach 16 Minuten knallte die Haupttribüne ihrem Team böse Pfiffe entgegen. Sebastian Prödl hatte einen Bastard von einem Pass entsandt, der zwei Meter über dem Kopf von Clemens Fritz ins Seitenaus segelte.

Die Fans suchen wie ihre Mannschaft nach Orientierung. Halt finden sie bei einem Spieler wie Aleksandar Ignjovski. Der spielte gegen die Eintracht nur 45 Minuten. Alleine dass Ignjovski Laufbereitschaft, Kampfgeist und Aggressivität auf den Platz brachte, genügte aber schon, um aus der trägen Masse seiner Kollegen als engagiert herauszustechen.

Kader ohne Individualisten

Dutt hat die Umbaumaßnahmen so begonnen, wie das zu erwarten war und schlüssig erscheint. Er beginnt mit der Neuordnung der Defensivabläufe. Einige Dinge sind schon gut zu erkennen, an der Ausführung durch die handelnden Personen aber hakte es zuletzt gewaltig. Wenn der Spielaufbau des Gegners etwa in bestimmte Zonen des Spielfelds gelenkt werden soll, erfolgt dort der nötige Zugriff nicht oder begehen einzelne Spieler schwere individual- oder gruppentaktische Fehler.

Der Trainer gab nach dem 0:1 in Dortmund vor drei Wochen zu, dass an eine konzentrierte Arbeit im Offensivbereich bisher noch kaum zu denken wäre. Die rudimentär bestandenen Abläufe aus der Schaaf-Zeit sind fast völlig verschwunden - überdies gibt der zünftig abgespeckte Kader auch keine Individualisten mehr her, die fehlende programmatische Abläufe durch eine Einzelaktion oder eine überraschende Idee würden kompensieren können. Also muss das Kollektiv mehr denn je funktionieren.

Kein Ersatz für De Bruyne und Arnautovic

Die teilweise maßlose Geldverbrennung in den guten Zeiten der dauernden Champions-League-Teilnahmen mit teuren Transferflops wie Carlos Alberto, Wesley, Marko Marin, Marko Arnautovic und aktuell noch Mehmet Ekici und Eljero Elia hat Eichin als handelnde Person zu einer Grundentkernung des Kaders gezwungen. Für die Verfehlungen der Vergangenheit kann Eichin nichts.

Dass er aber entgegen seiner Versprechen, einen Ersatz für den abgewanderten - und für diesen Kader überqualifizierten - Kevin de Bruyne zu holen, nicht gehandelt hat, ist zumindest fragwürdig. Dass dann in Arnautovic einer der letzten Kreativen - sofern der einen guten Tag erwischte - auf den letzten Drücker verkauft und kein Ersatz in der Hinterhand bereitgehalten wurde, verschlimmert die Situation in der Offensive nochmals.

Zählt Dutt auf die falsche Achse?

Dutt dagegen sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob sein Vertrauen in die neue Achse der Mannschaft auf Dauer gerechtfertigt wird. Sebastian Mielitz, Sebastian Prödl, Clemens Fritz und Aaron Hunt hat Dutt als Führungsspieler ausgemacht. Keiner der Vier konnte diesem Anspruch bisher genügen. Der heimliche Taktgeber der Mannschaft ist Zlatko Junuzovic und der fällt momentan verletzt aus.

Dem Betrachter offenbart sich ein schiefes Bild. Die Defensive ist umformiert und noch nicht mal halbfertig, mittlerweile hat Bremen schon wieder acht Gegentore kassiert - genauso viele wie zum gleichen Zeitpunkt der abgelaufenen Saison. Und noch schlimmer: die alten, und längst abgestellt geglaubten Fehler häufen sich wieder. Etwa die Anfälligkeit für Konter nach einem eigenen Standard. Dutt steht deshalb die kompletten 90 Minuten an der Seitenlinie, er dirigiert und weist an wie bei einem Trainingsspiel. Sehr oft vergeblich.

Offensive findet kaum statt

Von der offensiven Schaffenskraft der Bremer ist im Gegenzug nicht viel geblieben. Im Grunde gar nichts mehr. Die Mannschaft ist bei eigenem Ballbesitz komplett verunsichert, es ist keine Basis dessen zu sehen, was an einen geordneten Spielaufbau erinnert. Lediglich 21 Torchancen notiert der "Kicker". Nur Aufsteiger Braunschweig hat mit 17 nach fünf Spieltagen weniger kreiert. Und die Hälfte der Bremer Chancen ergab sich nach einem ruhenden Ball. Aus dem Spiel heraus, als Produkt einer gelungenen Kombination, ist Bremen harmlos wie zuletzt Ende der 90er Jahre.

Früher war der Eventfußball zu Gast im Weserstadion, fast jedes Heimspiel eine kleine Sensation. Heute ist eine Ballstafette über mehr als vier Stationen eine mittelprächtige Überraschung. Daran muss man sich als Fan erstmal gewöhnen. Nicht jedem gelingt das auf Anhieb.

Die Mannschaft ist schon mit dem kleinen Einmaleins des modernen Fußballs aus dem Konzept zu bringen. Gegen das Pressing der Frankfurter (und Augsburger, Gladbacher, Dortmunder) etwa fand Werder kaum ein Mittel.

Gekoppelt an die numerische Unterlegenheit nach Franco di Santos Platzverweis hielten die Statistiker gegen die Eintracht fest: Unter den fünf Spielern mit den meisten Fehlpässen war die gesamte Viererkette vertreten. Die Schwierigkeiten von Clemens Fritz (elf Fehlpässe), Luca Caldirola (elf), Assani Lukimya (acht) und Sebastian Prödl (sieben) in der Spieleröffnung waren frappierend.

Dutt zieht die Zügel an

"Man darf nicht jede Leistung unter das Alibi der Entwicklung stellen", findet Dutt und kappt eine der vielen Ausflüchte für seine Spieler. Aber der Trainer sieht auch, dass derzeit eine enorme Unwucht besteht im Gefüge. Sie bedeutet den Stillstand. Und den darf es nicht geben - weil Mannschaften wie Freiburg, Frankfurt, Augsburg schnellere und größere Fortschritte machen.

Wie zur Veranschaulichung klärte der Stürmer Elia zuletzt zwei Meter vor dem gegnerischen Tor im Stil eines Verteidigers und Abwehrspieler Prödl versenkte auf der anderen Seite so sicher wie gelernt. Es ist einiges durcheinandergeraten, halbgar, nicht fertig. Wohl gut konzipiert, aber ganz sicher schlecht ausgeführt.

Ein Besuch beim Frisör lässt inmitten der Aufräum- und Umbauarbeiten ein ähnliches Bild zu. Auch da passt nichts zusammen, sieht vieles wild und unförmig aus. Am Ende aber fügt sich doch das eine zum anderen. Im besten Fall.

Derby gewinnt enorm an Brisanz

"Es hat sich das ganze Jahr über etwas festgesetzt, was man aufbrechen muss. Mit jeder Niederlage ist momentan viel psychologische Arbeit gefragt", sagt Dutt und verweist auf einen Schwerpunkt der Trainingswoche vor dem Derby beim HSV.

In Bremen legen sie jede Menge Hoffnung in diese Partie, die vor gar nicht so langer Zeit noch alle deutschen Fußball-Fans mobilisierte. "Schlagen wir den HSV, ist Schluss mit der miesen Stimmung. Du kannst alles drehen und drei Niederlagen in Folge völlig vergessen machen", vermutet Eichin.

Aus dem ehemaligen Spitzenspiel ist ein Kellerduell geworden. Zuletzt standen beide Mannschaften vor über 40 Jahren beim Aufeinandertreffen in der Tabelle schlechter da. Der Verlierer bleibt bis auf Weiteres im unteren Drittel der Tabelle hängen. Dann könnte man vielleicht auch anfangen, von einer echten Krise zu reden.