Der Unglaubliche

Von Fatih Demireli
Thiago Alcantara unterschrieb beim FC Bayern München für vier Jahre
© getty

Thiago Alcantara wechselt für vier Jahre zum FC Bayern München. Der deutsche Rekordmeister zahlt 25 Millionen Euro für ein Talent, das selbst die besten Spieler der Welt verzückt. Ein Schnäppchen. Die Sinn-Frage, ob Bayern ihn braucht, kann nur eine Antwort haben.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Noch hat sich Thiago Alcantara do Nascimento nicht zu seinem Wechsel zum FC Bayern München geäußert. Die ersten Worte des 22 Jahre alten Spaniers als Bayern-Profi kann sich aber wohl jeder zusammenreimen.

Er wird sagen, dass er stolz ist, bei einem Klub wie dem FC Bayern unterschrieben zu haben. Bei einem Klub, der so viel Tradition hat, zu den besten Klubs Europas gehört und jüngst die Champions League gewonnen hat. Und natürlich wird er sagen, dass er froh ist, wieder mit seinem Förderer Josep Guardiola arbeiten zu können.

Und irgendwann wird die Sinn-Frage kommen. Vielleicht wird sie nicht Thiago persönlich gestellt werden, sondern Matthias Sammer, der neben dem Neuzugang sitzen wird. "Herr Sammer, der FC Bayern hat so viele Mittelfeldspieler. Warum braucht Bayern Thiago Alcantara?"

Thiago spielt, Xavi und Iniesta auf der Bank

Und genau in diesem Moment wird sich Thiago Alcantara möglicherweise an den Sommer 2011 erinnern. Damals wurde den Verantwortlichen des FC Barcelona die gleiche Frage gestellt. Die Katalanen verpflichteten Cesc Fabregas vom FC Arsenal, obwohl sie im Kreativzentrum genug Alternativen hatten - und eben diesen Thiago.

Als Aufsteiger aus der eigenen Jugend brillierte er in seiner ersten Profi-Saison im Mittelfeld, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Barcelonas damaliger Trainer Guardiola konnte es sich sogar leisten, die Leistungsträger Xavi und Iniesta öfters auf die Bank zu setzen, weil Thiago das Tiqui-taca-Niveau hoch hielt. "Er kann unglaubliche Dinge", schwärmte Xavi damals. Was diese unglaublichen Dinge genau waren, erläuterte Xavi nicht. Nicht weil er faul war. Nein, weil es einfach zu viele waren.

Von Europas Fußballer des Jahres, Andreas Iniesta, war mal zu hören, dass er es "liebt", mit dem jungen Thiago zu spielen. Mit dem Unglaublichen.

Bayern hat keinen Thiago

Die unglaublichen Dinge macht der 1,72 Meter kleine Mann immer noch. Zuletzt war er bei der U-21-Europameisterschaft in Israel mit Abstand der beste Spieler des Turniers. Im Finale gegen Italien (4:2) erzielte Spaniens Kapitän drei Tore und rundete eine tolle Turniervorstellung beeindruckend ab.

Thiago zeigte in allen Spielen eine immense Präsenz, die sich in extrem vielen Ballkontakten definierte. Ganz nach dem Gusto Guardiolas, der diese Art und Weise in Barcelona lehrte. Dazu kommt die Fähigkeit, einen finalen Pass im richtigen Moment in die richtige Nahtstelle anzuvisieren.

"Bayern hat keinen Spieler wie Thiago. Bayern hat sehr gute Spieler, aber Thiago ist anders. Toni Kroos kommt ihm am nächsten, aber er spielt passiver, statischer. Müller ist dagegen ein guter 'Raumdeuter'", sagt Guardiola-Kenner Matias Manna im SPOX-Interview. Manna geht ins Detail: "Thiago ist ein sehr guter Mittelfeldspieler. Er verharrt nie in seiner Position, spielt mit hoher läuferischer Intensität, ist ständig in Bewegung und schafft Räume."

Thiago will spielen, Thiago wird spielen

Thiagos größter Vorteil - zumindest in den nächsten Monaten: Er kennt Guardiolas Idee wie kein anderer Bayern-Spieler. Er kann sofort loslegen, weil es ihm liegt, während andere Profis sich noch gewöhnen müssen. Frag' nach bei Franck Ribery, der nach einer Woche Pep-Schulung "ein komisches System" ausmachte. So verblüffend es auch klingt: Der Neueste aller Bayern-Spieler könnte den Etablierten in der Integration helfen, wenn er Guardiolas Philosophie auf dem Platz praktiziert.

Guardiola sieht in Thiago einen "super, super Spieler". Als er im Trainingslager erstmals sein Interesse öffentlich machte, erläuterte er auch, dass Alcantara Barcelona verlassen will, weil er spielen möchte. Der Raum für die Interpretation ist daher begrenzt: Thiago will spielen, Thiago wird spielen.

Trotz der Konkurrenz in München, die in Barcelona mitnichten minder war, sieht er dank Pep bessere Chancen, regelmäßig zu spielen und sich für den WM-Kader 2014 zu empfehlen. Im Land seines brasilianischen Vaters Mazinho, im Trikot seiner Wahlheimat Spanien.

Xavi: "Bleib' ruhig!"

In Barcelona sah er diese Möglichkeit nicht mehr gegeben. Spätestens seit dem 57-Millionen-Transfer Neymars war sich Thiago sicher, dass nur ein Wechsel helfen kann. In der vergangenen Saison kam er nur auf 27 Einsätze, wobei Thiago nur acht Mal durchspielen durfte. Seine temporäre Bedeutung nahm eher ab denn zu, obwohl die Wertschätzung für den Youngster nie nachgelassen hat.

Und deswegen hatte man beim FC Barcelona bis zuletzt doch noch gehofft, dass er sich für einen Verbleib entscheidet. "Ich hoffe, er bleibt ruhig. Er ist ein Spieler, der Barcelona prägen kann, weil er außergewöhnlich ist", sagte Xavi. Doch Thiago wollte nicht warten, bis Barcelonas geistlicher Führer seine Karriere ausklingen lässt.

"Xavi hat als Jugendlicher in einer ähnlichen Situation auch Ruhe bewahrt und hat letztlich eine Ära geprägt", sagte Pique. "Der Verleib in Barcelona wäre die bessere Wahl." Doch da hatte sich Thiago längst in den Kopf gesetzt, einen Neuanfang zu starten.

Immerhin: Thiago-Bruder Rafael verlängerte vor einer Woche seinen Vertrag in Barcelona bis 2016. Vor wenigen Tagen gab er dann seinen Leih-Wechsel zu Celta Vigo bekannt. Via Twitter verkündete er: "Mama, ich komme zu dir." Nach dem Sinn fragt keiner, sie lebt in Vigo. Und auch Thiago sollte, wenn es gut geht, bald nicht mehr die Sinn-Frage gestellt werden.

Thiago Alcantara im Steckbrief