Zwischen Traum und Trauma

Von Stefan Rommel
Thomas Schaaf ist seit Mai 1999 Cheftrainer bei Werder Bremen
© Getty

Kaum ein Verein in der Liga ist derzeit so schwer zu greifen wie Werder Bremen. Der Klub stellt sich hinter den Kulissen völlig neu auf und geht neue Wege. Das Kerngeschäft aber obliegt weiter dem ewigen Thomas Schaaf, obwohl der seit geraumer Zeit kaum noch Ergebnisse liefert. Das Werder-Mantra, jahrzehntelang der Inbegriff der Kontinuität, erscheint momentan eher wie ein gefährlicher Bumerang. Der Trainer braucht Ergebnisse, auch gegen Hannover 96 (20.30 Uhr im LIVE-TICKER).

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Darum beneiden Thomas Schaaf alle Trainer der Liga: Mit einer solchen Bilanz wären in anderen Klubs wohl gleich zwei Kollegen geflogen. Werder Bremen hat das Kalenderjahr 2012 mit 35 Punkten aus 34 Bundesligaspielen abgeschlossen. Damit liegt Werder gerade noch so vor dem FC Augsburg mit 32 und 1899 Hoffenheim mit 34 Punkten.

Der Start in die Rückrunde missglückte bei null Punkten und 2:8 Toren komplett. Und trotzdem gibt es bei Werder Bremen niemanden, der auch nur ansatzweise eine Diskussion um den Trainer starten würde.

Im Niemandsland angekommen

Es ist der spezielle Standort Bremen, der den Gesetzen des Geschäfts nicht erst seit gestern trotzt. Seit über 13 Jahren ist Thomas Schaaf nun schon als verantwortlicher Coach der Profimannschaft angestellt. Er hat schwere Zeiten durchlebt, wie zu Beginn seiner Amtszeit. Und er hat Erfolge vorzuweisen wie vor ihm nur noch Otto Rehhagel.

Das sind ebenso belegbare Fakten wie die Zahlen der letzten zwei Spielzeiten, als Werder das Minimalziel Europa League als Dreizehnter (17 Punkte Rückstand) beziehungsweise Neunter (elf Punkte Rückstand) jeweils meilenweit verfehlte. So in etwa pendelt sich die Mannschaft auch derzeit in der Tabelle ein. Rang zwölf, sieben Punkte Rückstand auf Platz sechs, Tendenz fallend.

Emotionale Zwickmühle

Es gibt nicht wenige Fans, die sich deshalb seit Wochen in der emotionalen Zwickmühle befinden. Schaaf ist die zentrale Figur der letzten fast 15 Jahre, erst recht seit dem Weggang von Klaus Allofs.

Mit ihm sind die Triumphe der Vergangenheit verknüpft, das fantastische Kombinationsspiel, die Geburt oder Wiederauferstehung großer Spieler wie Johan Micoud, Ailton, Mesut Özil oder Claudio Pizarro.

Nur zählen die Meriten vergangener Tage nicht mehr. Der Kombinationsfußball war schon weg, als es die meisten noch gar nicht bemerkt hatten. Fünfmal in Folge zog Bremen in die Champions League ein. Das kann kein Zufall sein.

Dass besonders die letzten beiden Teilnahmen aber weniger einem funktionierenden Kollektiv, denn vielmehr der überragenden Klasse einiger Spitzenkräfte zu verdanken war - und der Tatsache, dass sich hinter Bayern München ein großes Vakuum innerhalb der Liga auftat, das Bremen als erster der Verfolger für sich zu nutzen wusste.

Fußball getragen von Individualisten

Dabei gab es nur kurz davor eine Zeit, in der Werder die klare Nummer zwei hinter den Bayern war. Die völlig überflüssig, weil in einem Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt am vorletzten Spieltag, vermasselte Meisterschaft 2007 war so etwas wie ein Wendepunkt. Ein zweiter Meistertitel innerhalb kürzester Zeit hätte einen noch nachhaltigeren Effekt gehabt, gerade für einen vergleichsweise kleinen Standort wie Bremen.

Seitdem spielte Bremen verhältnismäßig ordinären Fußball, gespickt mit vereinzelten Highlights und getragen von den Säulen der Mannschaft, die die nötigen Siege garantierten. In Erinnerung bleiben der Pokalsieg und die Tage vom Mai 2009, als der große Nachbar Hamburger SV in allen drei Wettbewerben gedemütigt wurde.

Reges Treiben hinter den Kulissen

Jetzt sind die alten Säulen nicht mehr da und die Verantwortlichen dabei, den Klub völlig neu auszurichten. Hinter den Kulissen werden Posten und Pöstchen geschaffen, die unter anderem den Weggang des omnipräsenten Klaus Allofs auffangen sollen.

Marco Bode rückte in den Aufsichtsrat auf. Frank Baumann wurde vom Assistenten der Geschäftsführung zuerst zum Leiter Scouting und nun Direktor Profifußball und Scouting ernannt. Klaus Filbry stieg vom Geschäftsführer Marketing, Management und Finanzen zum Vorsitzenden der Geschäftsführung auf.

Thomas Eichin kommt von den Kölner Haien und wird ab 15. Februar Geschäftsführer Sport. Tim Barten, davor im strategischen Marketing unterwegs, ist seit 1. Januar Teammanager der Profimannschaft. U-23-Trainer Thomas Wolter wird ab Sommer Sportlicher Leiter des Nachwuchsleistungszentrums und räumt seinen Stuhl für Viktor Skripnik, der von der U 17 aufrückt.

Es tut sich eine Menge in Bremen. Ziel der Umbaumaßnahmen ist die Entlastung der zentralen Figuren Schaaf und Eichin. Da hat Werder aus den alten Fehlern offenbar gelernt. Als Allofs nach der Demission von Jürgen L. Born immer noch mehr Aufgaben im Klub übernehmen musste, litten dessen Stärken zusehends. Das soll nun mit den neuen, alten starken Männern nicht noch einmal passieren.

Mannschaft hinkt hinterher

Das Problem ist nur, dass die Mannschaft dem angeschlagenen Tempo im Klub derzeit überhaupt nicht folgen kann. Eher im Gegenteil. Es hält sich hartnäckig der Verdacht, dass die Mannschaft auch nach 19 Spieltagen nur in Spurenelementen als solche funktioniert. Nicht nur Sokratis' wieder einmal klare Worte bestätigen diese Vermutung, wenn der Grieche sagt: "Einzelne spielen immer noch zu sehr für sich selbst. Wir müssen aber mehr als Mannschaft agieren. Das müssen wir schnell ändern."

Der Rest der Mannschaft und Trainer Schaaf verlieren sich in Worthülsen. Der Coach selbst wirkt derzeit wie zum gleichen Zeitpunkt vor einem Jahr: Weg ist die Euphorie des Sommers, als Schaaf voller Elan und auch Esprit seine Vorstellung propagierte. Und auch die Gelassenheit, die er noch vor wenigen Wochen im Trainingslager in Belek zur Schau stellte.

Die Mannschaft kann ihren Standard, der deutlich über Platz zwölf liegen muss, immer noch nicht konservieren. Das Leistungsgefälle im Team schwankt enorm, insgesamt ist der Kader in der momentanen Besetzung nicht genügend austariert und schon gar nicht in der Lage, Ausfälle wichtiger Spieler über einen größeren Zeitraum zu kompensieren. Noch muss der Blick nicht zwangsläufig nach unten gerichtet werden. Bis zur Abstiegszone sind es komfortable neun Punkte Vorsprung.

Ganz außer Acht lassen sollte man die Vereine unterhalb der Trennlinie aber nicht. Denn wenn Bremens Mannschaft eines bisher schon gezeigt hat, dann die Tatsache, dass sie für enge (Druck-)Situationen noch nicht weit genug ist.

Einige Baustellen im Team

Schaaf sieht sich oft dem Vorwurf mangelnder Flexibilität ausgesetzt und dass er an verdienten Spielern festhalten würde. Von denen ist nur noch Clemens Fritz geblieben, der in der Tat sehr oft Berücksichtigung findet. Die größte Baustelle innerhalb der Mannschaft ist der Kapitän aber nicht.

Sebastian Mielitz ist ein ordentlicher Bundesligatorhüter, die Lücke, die Tim Wiese hinterlassen hat, konnte der 23-Jährige aber noch nicht füllen. Die beiden letzten großen Transfers schleppen sich allenfalls durch ihre Zeit in Bremen. Mehmet Ekici und Eljero Elia, beide rund fünf Millionen Euro Ablöse teuer, bleiben bislang deutlich hinter den Erwartungen zurück.

Sokratis spielt nicht mehr so überragend wie in seiner Premieren-Saison, Nils Petersen trifft zwar ab und an das Tor, nimmt ansonsten aber nicht genügend am Spiel der Mannschaft teil und könnte seine Effizienz noch ordentlich verbessern.

Schaaf: Flexibilität oder Aktionismus?

Und Schaaf? Der probiert etwas aus und geht dabei mitunter auch ein großes Risiko. Gegen den BVB und in Hamburg versuchte sich Schaaf mit unterschiedlichen Strategien, beide Male ging das Experiment unterm Strich in die Hose. Da bleiben auch die wenigen positiven Randnotizen, wie das vernünftige Defensivverhalten der ersten Halbzeit in Hamburg, im Verborgenen.

Gegen Hannover 96 (20.30 Uhr im LIVE-TICKER) wird der Coach nun offenbar doch auf größere Experimente verzichten. Nachdem unter der Woche angesichts der beiden vakanten Positionen von Marko Arnautovic und Clemens Fritz (beide gesperrt) viel ausprobiert wurde, ließ Schaaf im Abschlusstraining am Donnerstag die A-Mannschaft im gewohnten 4-1-4-1 auflaufen, mit Mehmet Ekici auf der linken Mittelfeldseite und Alexander Ignjovski rechts in der Viererkette. Der zuletzt schwache Theodor Gebre Selassie bekam am Donnerstag kein gelbes Leibchen und fand sich in der B-Mannschaft wieder.

Schaaf-Befürworter erkennen bei den kleinen und großen Experimenten den Versuch, Dinge zu ändern und der immer wieder gepredigten Reflexion auch Taten folgen zu lassen. Die Kritiker hätten eine erneute Umstellung einer schon verunsicherten Mannschaft gegen eine konterstarke und effiziente Hannoveraner Mannschaft schnell als Aktionismus gebrandmarkt.

Fest steht, dass die Mannschaft auch im dritten Jahr in Folge kein vernünftiges Defensivkonzept auf den Rasen bringt. Hinter Hoffenheim (43) und gemeinsam mit Hannover (beide 37) hat Werder wieder einmal die meisten Gegentore der gesamten Liga hinnehmen müssen. In den Jahren davor hatten selbst einige Absteiger weniger Treffer kassiert.

Stimmung droht zu kippen

"Thomas ist ein super Trainer, ein absoluter Experte. Er würde bei jedem Klub ganz lange Trainer bleiben", sagt Mirko Slomka über Schaaf. Das Lob war Slomkas Replik auf die "kritische Berichterstattung" über den Kollegen. Dabei ist diese in Bremen im Vergleich zu anderen Klubs dieser Größenordnung geradezu paradiesisch.

Bremen ist stolz darauf, anders zu sein. Aber auch hier mehren sich die Anzeichen einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit Werder. Die bedingungslose Liebe der Fans gegenüber Schaaf ist einem immer noch großen Respekt vor dessen Verdiensten, aber eben auch einem Hinterfragen der aktuellen Arbeit gewichen.

Schaaf hat noch einen Vertrag in Bremen bis 2014, lehnte zuletzt eine Verlängerung darüber hinaus ab. Im Prinzip kann er sich nur selbst aus dem Spiel nehmen, wenn er im Sommer von sich aus kündigt.

Werder Bremen jedenfalls muss aufpassen, sich nicht zu sehr hinter dem proklamierten Umbruch zu verstecken. Den gehen auch andere Vereine notgedrungen an, auch die mit Schwankungen und Rückschlägen. Nur dauert die Umbauphase in Bremen schon deutlich länger. Und irgendwann müssen die Ergebnisse auch wieder stimmen. Aufzuwachen, wenn es schon zu spät ist, hat noch niemandem geholfen.

Das ist Werder Bremen