Die Toten sollen begraben bleiben

Von Haruka Gruber
Ryan Babel (r.) bejubelt sein 1:0 gegen Wolfsburg. Marvin Compper beschreit es eher
© Imago

1899 Hoffenheim ist wieder das Synonym für Offensiv-Spektakel. Das Stanislawski-System funktioniert und das 4-2-4 könnte zu einem Markenzeichen werden - und doch ist der Trainer sauer. Mit Vedad Ibisevic gibt es einen großen Verlierer.

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Manchmal erfahren die kleinen Helden des Alltags doch so etwas wie Anerkennung für Fleiß und Anstand. "Happy birthday to you, happy birthday to you", stimmten einige Hundert unter den 26.850 Zuschauern in der Hoffenheimer Arena an, als die Partie gegen den VfL Wolfsburg angepfiffen wurde.

Dominik Kaiser ist ein Anti-Star der Bundesliga. Ein Arbeiter, der schon als Jugendlicher gelernt hat, mangelndem Talent und fehlender Körpergröße mit Kampfeswillen zu begegnen. In der B- und A-Jugend sollte er bei der unterklassigen Normannia Gmünd aussortiert werden, in Hoffenheim wiederum konnte er sich glücklich schätzen, für die zweite Mannschaft berücksichtigt worden zu sein.

Jener Kaiser, sonst Lehramtanwärter für Mathe und Sport sowie Mitglied der deutschen Studentennationalmannschaft, trifft mit seinem wenig glamourösen, dafür grundehrlichen Spielstil aber offensichtlich den Nerv der Hoffenheimer Fans, weswegen sie ihm einen Tag nach seinem 23. Geburtstag das Ständchen widmeten.

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"Es macht wieder Spaß"

90 Spielminuten später wurde weniger gesungen als lautstark gejubelt: Mit einem 3:1 über Wolfsburg gelang 1899 der beste Saison-Start seit dem Bundesliga-Aufstieg vor drei Jahren. Sechs Partien, vier Siege, zwölf Punkte, Platz vier. "Es macht wieder Spaß", titelte die "Rhein-Neckar-Zeitung".

Es hätte durchaus sein können, dass sich die Mannschaft von Berichten über Millionen-Verluste des Vereins oder der Geräusch-Attacke auf gegnerische Fans ablenken lässt. Nichts dergleichen: Mit zwölf geschossenen Toren stellt Hoffenheim die zweitbeste Offensive, mit lediglich fünf Gegentoren die viertbeste Defensive der Liga.

Was jedoch am meisten verwundert, ist die Art des Fußballs. Nachdem sich Hoffenheim unter Marco Pezzaiuoli zu einem zauderhaften Etwas verwandelt hatte, spielt die TSG bereits nach sechs Spieltagen den Stil, der bereits recht nahe am Ideal von Trainer Holger Stanislawski sein müsste.

Stanislawski will kein Lob hören

Gegen Wolfsburg versuchte er sich erfolgreich an einer taktischen Neuerung, die er in den Partien zuvor nur für Phasen ausprobiert hatte: ein moderndes 4-2-4 mit einer offensiven Vierer-Reihe, in der die Angreifer ihre Positionen so flexibel und spielintelligent interpretieren, dass die Wolfsburger Abwehr überfordert von all der Rochade kapitulierte. Bei einer besseren Chancenauswertung hätte Hoffenheim mindestens zwei oder drei Tore mehr schießen müssen.

"Es ist ein Verdienst des Trainers, dass wir wieder begeisternden Fußball spielen", sagte Klub-Mäzen Dietmar Hopp. Hansi Flick, Assistent von Bundestrainer Jogi Löw, ergänzte: "Stanislawskis Handschrift und Philosophie sind bereits erkennbar."

Doch der Gepriesene selbst will all das Lob nicht hören. Stanislawski kann noch immer schelmisch lächeln und mag es zu scherzen - aber in seiner Diktion erinnert er fast schon an den ewig unzufriedenen Vor-Vorgänger Ralf Rangnick.

Seine Mannschaft hätte gegen Wolfsburg "zu langsam gespielt", das alles sei "nicht zielgerichet" und überhaupt: "Wir spielen in den Tag hinein", mahnte Stanislawski. Schon nach dem 4:0 in Mainz am Spieltag zuvor fand er ähnlich kritische Worte. "Ich bin nicht ergebnisfixiert. Entscheidend ist, dass sich die Mannschaft weiterentwickelt", sagt er.

Hoffenheims wiederkehrendes Übel

Was Stanislawski besonders aufstieß, war die zweite Hälfte gegen Wolfsburg, als es Hoffenheim versäumte, dem in allen Belangen unterlegenen Kontrahenten mit einem dritten Treffer zu entmutigen. Stattdessen geriet man nach dem Anschlusstor selbst in die Bredouille, bevor die Rote Karte für VfL-Keeper Marwin Hitz und das 3:1 durch Roberto Firmino die Entscheidung brachten.

"Wie so oft haben wir eine fast tote Mannschaft ins Spiel zurückgebracht", sagte Torwart Tom Starke und erinnerte an das wiederkehrende Übel der vergangenen Saison, als Hoffenheim wegen Gegentoren in den letzten 30 Minuten neunmal verlor und viermal nur Remis spielte.

Daher fordert Stanislawski mehr Konstanz: "Wir sind über 90 Minuten zu schwankend. Wir legen richtig gut los, müssen aber die guten Phasen länger halten, die schwächeren verkürzen." Und auch taktisch wäre die Mannschaft nicht so weit, wie einige vermuten würden: "Es dauert noch ein halbes Jahr, bis wir so weit sind."

Der Vierer-Bienenschwarm

Womöglich zog er die Lehren aus der Vergangenheit, als in Hoffenheim nach einigen gelungenen Spielen immer wieder der Reflex einsetzte, dass das Umfeld und die Mannschaft, aber auch die sportliche Führung samt Trainer zu sehr an sich selbst begeisterten und das Wesentliche vergaßen. Womöglich sieht er tatsächlich Anlass zur eindringlichen Mahnung.

Es gab zweifellos Nachlässigkeiten. Wie etwa, als Gylfi Sigurdsson aus zehn Metern freistehend Hitz anschoss. Als Andreas Beck beim Gegentor alleine das Abseits aufhob. Oder als Ryan Babel aus fünf Metern über das leere Tor zielte.

In Erinnerung bleibt trotz der Peinlichkeiten aber vor allem das beeindruckende Angriffsspiel der Hoffenheimer. Das variable Miteinander der vier Offensiven, die einem Bienenschwarm gleich aus allen Richtungen angriffen und nie zu greifen waren, weil sie keine festen Rollen zu besetzen hatten.

Babel begann in vorderster Linie, ließ sich aber häufig auf eine Linie mit Firmino zurückfallen, der wiederum je nach Spielsituation nach rechts ging und dafür Sigurdsson den Platz im Zentrum freimachte. Als Einziger hielt Chinedu Obasi anfangs den linken Flügel, mit zunehmender Spieldauer beteiligte auch er sich am Positionswechsel.

Hoffenheim light schon bei St. Pauli

Ähnliches schwebte Stanislawski bei seiner vorherigen Station bei St. Pauli vor, als er ein mutiges 4-1-4-1 aufbot mit einer offensiven Vierer-Mittelfeld-Reihe, in der sich die Spieler ebenfalls variabel zeigen sollten.

Wegen des unbeweglichen Mittelstürmers (Ebbers/Asamaoah) erwies sich das System aber als zu leicht durchschaubar, weil sich die gegnerische Abwehr auf ihn fixieren konnte. Außerdem mangelte es ohne einen zweiten Sechser an der Balance zwischen Angriff und Verteidigung.

In Hoffenheim aber steht ihm ein Kader zur Verfügung, um genau diese Schwächen auszumerzen. Die Doppel-Sechs aus Sebastian Rudy und Kaiser versteht es, den Ball zu erobern und diesen sofort zu verteilen. So fiel es kaum auf, dass Sejad Salihovic wegen einer Knöchelverletzung pausiert.

Die Offensivspieler wiederum sind technisch und taktisch hervorragend ausgebildet und bringen den nötigen Antritt mit, um je nach Spielsituation über die Flügel durchzustoßen oder einem Mittelstürmer gleich in den Strafraum zu ziehen.

Firmino etabliert sich als Leistungsträger

Neben dem deutlich verbesserten Babel ("Ich bin vom Kopf her und körperlich ganz anders drauf") verkörpert vor allem Firmino diesen Typus. Er ist wesentlich günstiger als sein Landsmann Carlos Eduardo, aber nicht minder effektiv: Mit seinem Doppelpack gegen Wolfsburg verbuchte er nach sechs Spielen bereits seinen fünften Scorer-Punkt (vier Tore, ein Assist).

Aber auch die anderen scheinen prädestiniert für das 4-2-4. Neuzugang Knowledge Musona fügte sich bei seinem Debüt gegen Wolfsburgs als Einwechselspieler exzellent ein, bereitete neben dem 3:1 weitere drei Torschüsse vor und scheint anders als Prince Tagoe mit seiner Kombinationssicherheit und dem sagenhaften ersten Schritt wie gemacht für den Stanislawski-Fußball. Genau wie Peniel Mlapa und Chinedu Obasi, beide gleichsam wirkungsvoll als Flügel- und Zentralstürmer.

Fabian Johnson, früher nur als Außenverteidiger bekannt, wurde bereits erfolgreich in einen vielseitigen Offensivspieler umfunktioniert, das Gleiche steht Daniel Williams bevor.

Sigurdsson versteht sich zwar als klassischer Zehner, aber mit der langsam zurückkehrenden Fitness dürfte ihm die Umstellung vom 4-2-3-1 aus der Vorsaison gelingen.

Ibisevic der große Verlierer?

Verbleibt der derzeit verletzte Vedad Ibisevic - der mögliche Verlierer des Hoffenheimer Aufschwungs. Als klassischer Mittelstürmer, der vor allem im Strafraum auf Zuspiele wartet, passt er nur bedingt zum temporeichen und auf Positionswechsel beruhenden 4-2-4.

Zumal es dem Bosnier nicht an Wettbewerbern mangelt. Zu Babel, Firmino, Obasi, Sigurdsson, Musona, Johnson und Williams gesellen sich noch der im Aufbautraining befindliche Boris Vukcevic sowie die Kandidaten aus der erfolgreichen U 23 von Hoffenheim.

Die zweite Mannschaft legte in der Regionalliga zuletzt eine Serie von fünf Siegen bei einer Differenz von 26:1 Toren hin. Am letzten Spieltag gab es ein 8:0 gegen Pfullendorf. Als fünffacher Torschütze zeichnete sich der wieder erstarkte Sven Schipplock aus, an dessen Leistung selbst Stanislawski nichts auszusetzten gehabt haben dürfte.

Kader, Ergebnisse, Statistiken: 1899 Hoffenheim im Steckbrief

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