Das Mainz-Equilibrium

Von Haruka Gruber
Der 1. FSV Mainz 05 wurde in der abgelaufenen Bundesliga-Saison Tabbellenfünfter
© Getty

In den Tagen vor dem Start der neuen Bundesliga-Saison stellt SPOX alle 18 Klubs in einer Vorschau-Serie vor - mit allen Transfers, Hintergründen und der Saison-Prognose. Diesmal: der 1. FSV Mainz 05.

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Was bleibt, ist Galgenhumor. Während des unansehnlichen DFB-Pokal-Spiels der Mainzer beim Oberligisten SVN Zweibrücken begannen einige der sonst als friedlich bekannten 05-Fans zu randalieren, weswegen die Homburger Polizeibeamten erst ermahnen und wenig später 19 Chaoten in Gewahrsam nehmen, um diese zum Bahnhof zu eskortieren.

"Die Kollegen haben die Randalierer dort in die Obhut der Bundespolizei übergeben, von der sie bis nach Mainz begleitet wurden", sagte der Polizei-Pressesprecher und fügte süffisant hinzu: "Viel vom Spiel versäumt haben sie allerdings nicht."

Fürwahr: Der FSV hinterließ nicht nur wegen des Zwischenfalls einen ungewohnt schlechten Eindruck. Es hieß, dass der schwache LIGA-total!-Cup-Auftritt in neuer Arena der harten Vorbereitung geschuldet sei.

Doch das Remis gegen das rumänische Gaz Metan Medias in der Europa-League-Qualifikation (Rückspiel am Do., 18.45 Uhr im LIVE-TICKER) und das mühsame Weiterkommen im Pokal gegen Zweibrücken enttäuschte auch die Verantwortlichen.

Dennoch sagt Trainer Thomas Tuchel mit Blick auf den Bundesliga-Auftakt gegen Leverkusen: "Wir sind auf dem Weg, unser Niveau zu erreichen, und werden unser Potenzial abrufen."

Das ist neu

Der Wandel ist gewaltig. Zum Bezug der neuen Arena und des Ansteigens des Etats von 34 auf 54 Millionen Euro kam der Austausch des halben Kaders hinzu: Neun Abgänge, zehn Zugänge - kein anderer Verein verpflichtete mehr neue Spieler. Weil mit Andre Schürrle, Lewis Holtby und Christian Fuchs drei Leistungsträger sowie mit Miroslav Karhan und Zsolt Löw sportlich entbehrliche, aber erfahrene Kräfte den Verein verließen, befindet sich das Team in einer fußballerischen und zwischenmenschlichen Findungsphase.

Führungsspieler Bo Svensson warnte bereits Mitte Juli: "Es muss sich eine neue Hierarchie bilden, denn uns haben ganz markante Spieler verlassen. Diese Jungs waren auch für die Stimmung sehr wichtig. Das ist ein dramatischer Umbruch und wir haben nicht viel Zeit. Man fragt sich schon: Wie schaffen wir dieses, wie schaffen wir jenes?"

Für Tuchel und Manager Christian Heidel hingegen ist dies ein normaler Prozess im Fußball-Geschäft, der Chancen birgt für jene, die letzte Saison weniger beachtet wurden, oder in der Hoffnung auf den Durchbruch zum FSV gewechselt sind. Die Transfers machen Sinn: Die Neuen erfüllen Tuchels Wunsch nach taktischer Flexibilität, gleichzeitig haben Sie den Hunger nach Erfolg gemein.

Zdenek Pospech spielt mit 32 Jahren seine erste Saison in einer großen Liga, Eric Maxim Choupo-Moting und Deniz Yilmaz wollen sich endlich im Profibereich bewähren, Zoltan Stieber wurde einst bei Aston Villa aussortiert, ähnlich wie Julian Baumgartlinger bei 1860 München und Fabian Schönheim in Kaiserslautern. Nicolai Müller ist laut Tuchel ein Spätentwickler, Yunus Malli wiederum traute Gladbach nicht den sofortigen Sprung in die Bundesliga-Mannschaft zu.

Die Ansammlung interessanter Namen und das neue Stadion lösten in Mainz jedoch nicht die erwartete Begeisterung aus. Zur Partie gegen Gaz Metan waren nur 16.000 Zuschauer in der 34.000 Mann fassenden Coface Arena. Selbst zum Bundesliga-Start gegen Leverkusen waren am Montag noch 500 Karten zu haben - letzte Saison noch undenkbar.

Die Taktik

In seinen ersten beiden Jahren kannte Tuchel nur das Extreme: Vor seiner Premieren-Saison wurde er kurzfristig zum Cheftrainer befördert und hatte vier Tage mit der Mannschaft. Vor seiner zweiten Saison hingegen standen ihm wegen der WM über neun Wochen Vorbereitungszeit zur Verfügung.

In diesem Sommer ging es konventionell zu: Fünfeinhalb Wochen Vorbereitung sind im Ligavergleich nicht außergewöhnlich wenig oder viel. Nur: Ein Neuzugang benötigt in Mainz mehr Zeit als anderorts, um sich auf Tuchels Anforderungen einzustellen. "Wir haben ein System, das nicht viele andere Mannschaften spielen", sagt Heidel.

Ausgang des Tuchel-Fußballs bleibt das extrem frühe und kraftraubende Pressing sowie das sofortige Umschalten nach Ballgewinn. Die Formation hingegen passt er an, je nach Leistungskurve seiner Spieler, den Spielverlauf sowie die Ausrichtung des Gegners. Nahezu jeder Offensivspieler kann mehrere Positionen besetzen, so dass auch in dieser Saison ein 4-4-2 mit Raute genauso denkbar ist wie ein flaches 4-4-2, ein 4-2-3-1 oder ein 4-3-3.

Um noch weniger vorhersehbar zu sein als Anfang der vergangenen Rückrunde, misst Tuchel seinen Neuzugängen eine große Bedeutung zu: "Wir sind jetzt 100 Prozent anders. Wir sind ein schwer auszurechnender Gegner, wir bleiben konkurrenzfähig."

Der Spieler im Fokus

Anthony Ujah. Die ersten Eindrücke bestätigen seinen Ruf aus Norwegen: torgefährlich und vielseitig. Der 20-Jährige verfügt über einen guten Antritt, eine ordentliche Ballbehandlung und eine herausragende Sprungkraft. Seine Torausbeute für Lilleström: 36 Partien, 27 Treffer. Dass er ein spielender Stürmer ist, deuten vier Assists in zwölf Spielen der diesjährigen norwegischen Saison an.

"Ich will mit Mainz in der Bundesliga unter die ersten Vier - und den Europapokal gewinnen!", sagt Ujah. Welch hohe Wertschätzung er bei der FSV-Führung genießt, beweist eine Anekdote: Um ihn von Mainz zu überzeugen, reisten Heidel, Tuchel und Co-Trainer Arno Michels eigens nach Norwegen. Ujah: "Das hat sonst keiner für mich gemacht."

Das Interview

SPOX: Herr Heidel, Sie sind ein rastloser Mensch. Konnten Sie dennoch die Eröffnungsfeier der Coface Arena genießen und angesichts des Erreichten etwas in sich gehen?

Manager Christian Heidel: Normalerweise stehe ich ja bei Spielen hinter dem Tor. Diesmal habe ich mal eine Stunde auf der Tribüne gesessen und mir das tolle Spektakel in aller Ruhe angeschaut. Vor meinem Auge lief dann ein Film ab, was in den letzten 20 Jahren hier so alles passiert ist. Es ging weniger um schöne Siege oder bittere Niederlagen, vielmehr schossen Bilder in den Kopf, wie sich die Heimstätte des FSV seit den 70er Jahren verändert hat und wie bezeichnend das ist für die generelle Entwicklung des Vereins.

Hier geht's zum kompletten Interview mit Christian Heidel!

Die Prognose

So aufregend der Sommer für den FSV war: Es bedarf einer großen internen Stabilität, um all die Veränderungen zu bewältigen. Das neue Stadion, das neue Team, die zusätzliche Belastung durch die Europa League. Hinzukommen noch die ungeklärte Torwart-Frage (Müller oder Wetklo) und der durchwachsene Saisonstart.

Für die meisten mittelständischen Profi-Klubs wären es zuviel der Fragezeichen, aber Mainz ruht in sich wie nur wenige Vereine. Mehr noch: Die Vergangenheit hat bewiesen, dass der Wandel ein Teil des FSV ist und ein Impuls war für Fortentwicklung. Jürgen Klopps Weggang, Jörn Andersens Entlassung: Jedes Mal kam Mainz stärker zurück.

Dabei geht es dieses Jahr weniger um eine Wiederholung der einmalig guten Saison 2010/11, sondern um eine Platzierung im sicheren Tabellen-Mittelfeld, weil alleine das schon den Anspruch unterstreichen würde, sich in der Bundesliga zu etablieren.

Das sollte mit zwei gleichwertigen Torhütern, einer tief besetzten Innenverteidigung (Noveski, Svensson, Bungert, Kirchhoff) sowie taktisch extrem flexiblen Mittelfeldspielern und Stürmern durchaus möglich sein, zumal die Leistung im Pokal nicht überbewertet werden sollte.

Das sagt zumindest Heidel: "Wir haben in der letzten Saison bei AK Berlin auch nur mit Hängen und Würgen 2:1 gewonnen und in der Bundesliga einen Startrekord mit sieben Siegen hingelegt."

Der Kaders FSV Mainz 05 im Überblick