Julian Koch im Interview: "Ich wartete wie ein Süchtiger, dass die Schmerzpumpe wieder funktionierte"

Julian Koch feiert am 11. November 2020 seinen 30. Geburtstag.
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War es ein bewusster Mechanismus, die Geschichte mit all ihren Details und Grausamkeiten gewissermaßen zu verdrängen, um nicht daran kaputt zu gehen?

Koch: Ich glaube schon und merke gerade, dass es eigentlich noch immer so ist. Ich sträube mich innerlich, darüber zu reden, weil es mich weiterhin emotional belastet. Es bleibt eben ein unauslöschlicher Teil meiner Vergangenheit. Trotz der anfangs niederschmetternden Diagnosen der Ärzte habe ich vom ersten Moment an versucht, nach vorne zu schauen. Dieser Blickwinkel hat mich wahrscheinlich auch gerettet. Dadurch habe ich es wirklich noch einmal geschafft.

Inwiefern waren Sie denn auch zu verbissen, so dass der Gedanke an ein vorzeitiges Karriereende gar nicht Oberhand gewinnen konnte?

Koch: Das ist gut möglich. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, sondern immer weiter Fußballspielen. Deshalb kam mir dieser Gedanke nie in den Sinn. Hätte ich jedoch nicht die Menschen um mich herum und auch die tolle tägliche Betreuung in Dortmund und Duisburg gehabt, wäre ein Comeback wahrscheinlich unmöglich gewesen.

Julian Koch wird nach seiner Verletzung in Oberhausen 2011 behandelt.
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Julian Koch wird nach seiner Verletzung in Oberhausen 2011 behandelt.

Wie sind Sie mit Ihren damals 20 Jahren psychisch damit fertig geworden?

Koch: Psychologische Betreuung bekam ich nicht angeboten, aber das hätte ich wohl ohnehin nicht angenommen. Ich wollte ja schließlich nicht darüber reden und hätte daher auch nicht mit mir reden lassen wollen. Ich war teils wirklich sauer, dass mich Familienmitglieder aufgefordert haben, mir Gedanken zu machen, was ich ohne Fußball tun möchte. Was mich damals immer und bis heute noch extrem bewegt und auch angetrieben hat, waren die leidenden Gesichter meiner Familie und Freunde, als sie mich ständig im Krankenzimmer besuchten. Ich habe die Angst bei meinen Eltern gesehen, dass ich so schwer verletzt bin und mein Bein hätte verlieren können. Ich habe daher auch versucht, für sie stark zu sein, weil ich wusste, wie stolz sie auf mich sind.

Sie sagten, dass Sie Besuch gestört habe, weil Sie dort immer ein wenig zu Ihrem Gesundheits- und Gemütszustand geflunkert hätten. Inwiefern?

Koch: Ich habe mich schwer getan, Schmerzen zu zeigen. Ich weiß nicht, wie gut mir das gelungen ist, da ich ja meist extrem unter Schmerzmitteln stand. (lacht) Ich wollte aber einfach keine Schwäche zeigen, doch das hat mich ziemlich schnell ganz schön belastet. Eines Nachts rief ich meinen Vater an und wollte, dass er ins Krankenhaus kommt. Ich konnte einfach nicht mehr, weil es mir mit der Zeit total schwer fiel, für alle anderen stark zu sein. Ich habe mich dann bei ihm enorm ausgeheult. Er meinte, ich solle damit aufhören und meine Schwächen gegenüber anderen zulassen. Das hatte eine sehr befreiende Wirkung auf mich und half mir, wieder positiver nach vorne zu schauen.

Koch: "Die erste Info war, dass ich mein Bein verloren hätte"

Wäre Ihr Vater nicht gewesen, hätte man Ihnen das Bein vielleicht tatsächlich abnehmen müssen. Er war es, der nach der ersten Nacht darauf bestanden hat, ins Krankenhaus zu fahren, weil sich das Blut oberhalb Ihres Knies staute und der Unterschenkel nicht mehr durchblutet wurde. Der ursprüngliche MRT-Termin wäre erst am Nachmittag gewesen.

Koch: Ich bin früh morgens mit extremen Schmerzen aufgewacht. Das Knie war so dick, dass man die Umrisse davon kaum mehr gesehen hat. Mein Vater meinte, das wäre nicht normal und er wird jetzt Dortmunds Mannschaftsarzt Doktor Braun anrufen. Ich habe ihm den Vogel gezeigt, weil der BVB an diesem Tag beim FC Bayern spielte und der Doc bestimmt andere Sachen als einen Leihspieler wie mich im Kopf hatte. Mein Vater hat es trotzdem versucht und ihn um halb 8 morgens erreicht. Er meinte, das würde sich wie ein Kompartmentsyndrom anhören, wir sollten lieber ins Krankenhaus fahren. Um halb 9 kamen wir dort an und die Notärzte sagten sofort, dass eine Not-OP vonnöten wäre. Als ich davon aufgewacht bin, war quasi die erste Information, die ich erhielt, dass ich mein Bein verloren hätte, wenn wir erst zum eigentlichen Termin um 15 Uhr gekommen wären.

Wie sehr hat Sie diese Nachricht ausgeknockt?

Koch: Als ich Freitagnacht bei meinem Vater ankam, hoffte ich immer noch, dass es nicht so schlimm ist und ich Mitte der nächsten Woche im Pokal-Halbfinale gegen Cottbus spielen kann. Als ich dann einen Tag später diese Einschätzung der Ärzte hörte, war ich wie eingefroren. Mir kam zunächst nur in den Kopf, dass ich beim wichtigsten Spiel meiner Karriere nicht dabei bin. Ich konnte das nicht glauben und habe bitterlich geweint. Es war surreal für mich.

Und es blieb surreal: In den ersten zwei Wochen wurden Sie siebenmal unter Vollnarkose operiert. Sie lagen vier Wochen lang nur auf dem Rücken, konnten nicht auf die Toilette gehen und hatten eine Schmerzpumpe über Ihrem Bett, mit der Sie sich alle acht Minuten einen Schuss setzen konnten.

Koch: In dieser Zeit war das Bein fast täglich offen, das war unglaublich schmerzhaft. Ich wartete wie ein Süchtiger darauf, dass die Schmerzpumpe wieder funktionierte, weil ich es nicht ausgehalten habe. Es war, als würde ich meine Würde verlieren. Es dauerte, bis ich mich damit abgefunden hatte, in eine Ente pinkeln zu müssen. Als das Bein geschlossen war, reduzierten sich die Schmerzen zum Glück deutlich. Nach den ersten drei, vier Wochen kam es mir jedoch so vor, als hätte ich ein halbes Jahr im Krankenhaus gelegen.

Was heißt das genau, das Bein war geschlossen?

Koch: Da mein Knie ungelogen angeschwollen war wie ein Fußball, ging es darum, den Druck herauszunehmen. Dazu wurde mir der Unterschenkel vom Knie abwärts bis zum Knöchel innen und außen aufgeschnitten. Diese Spalte wurde dann mit jeder OP immer weiter zusammengezogen. Ich hatte mich gefühlt einen Tag von der vorherigen OP erholt und schon lag ich wieder unterm Messer. Einmal war es so, dass sie das Bein schon geschlossen hatten, ich aber nach dem Aufwachen nichts mehr gespürt habe. Also folgte direkt die nächste OP, um es wieder leicht zu öffnen.

Koch: "Fast beschämend, sich Doublesieger nennen zu können"

Anschließend begann Ihre Reha, die über ein Jahr andauerte. Mit dem MSV verpassten Sie in dieser Zeit das DFB-Pokal-Finale 2011 und als Sie zur neuen Saison nach Dortmund zurückkehrten, wurden Sie dort ohne ein absolviertes Spiel Doublesieger. War das wenigstens ein kleiner zwischenzeitlicher Trost?

Koch: Nein. Es war fast beschämend und fühlt sich immer noch falsch an, sich Doublesieger nennen zu können. Ich habe ja absolut gar nichts dazu beigesteuert und noch nicht einmal eine einzige Trainingseinheit absolviert. Als Teil des Teams fühlte ich mich schon, aber ich habe diese beiden Titel eher als Fan denn als Spieler verfolgt. Die Medaillen fand ich wieder, als wir nach Budapest umgezogen sind. Jetzt weiß ich wenigstens, wo sie sind. (lacht)

Ab wann war denn überhaupt klar, dass das Wunder wohl doch eintritt und Sie wieder Profifußball spielen werden können?

Koch: Ab Mitte 2011. Nach der Zeit im Krankenhaus standen weitere OPs an. Manche Ärzte haben sich nicht so richtig getraut und meinten, die Sache wäre ihnen zu kompliziert. Schließlich fand ich einen Arzt, der meinte, wir könnten das hinkriegen, so dass ich vielleicht wieder kicken kann. Es hat mich total gepusht, das auch einmal von außen zu hören.

Im Mai 2012 verlängerte der BVB Ihren Vertrag bis 2014 und lieh Sie anschließend erneut nach Duisburg aus. Wie sehr hat Sie dieser Vertrauensbeweis der Dortmunder überrascht?

Koch: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der BVB nach dieser Geschichte noch an mich glaubt. Ich empfand natürlich eine große Dankbarkeit. Es war aber auch ein Signal für mich, weil man dort offenbar sah, dass ich gut kicken kann. Ich dachte, vielleicht setze ich mich ja wirklich noch bei Dortmund durch.

Beim MSV mussten Sie jedoch kurz vor Saisonstart wegen eines Meniskuseinrisses erneut operiert werden.

Koch: Die Naht von damals riss im allerersten Spiel der Vorbereitung leider auf, was unter großer Belastung einfach passieren kann. Der Meniskus wurden dann teilentfernt. Das hat mich im ersten Moment extrem heruntergezogen, da ich die Reha ja endlich hinter mir hatte und voller Hoffnung war. Ich konnte aber nach rund sechs Wochen wieder spielen. Diese für meine Verhältnisse kurze Ausfallzeit habe ich daher souverän auf einer Arschbacke abgesessen.

Julian Koch im Trikot des BVB im Jahr 2012 mit der Meisterschale.
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Julian Koch im Trikot des BVB im Jahr 2012 mit der Meisterschale.

Erstmals wieder auf dem Platz standen Sie dann im Oktober 2012 und liefen nach 609 Tagen für die zweite MSV-Mannschaft in der Regionalliga West auf. Eine Woche später folgte das Comeback bei den Profis. Wie groß war damals Ihre Befürchtung, dass wieder etwas passieren könnte?

Koch: Durch die lange Reha, in der ich viel gelaufen bin und auch gegen den Ball getreten habe, bekam ich großes Vertrauen in mein Knie und hatte von Tag eins an keinerlei Angst. Mich haben sie damals in den ersten Trainingseinheiten angeschaut und gesagt: Hallo, was ist verkehrt mit dir? Fahr' mal ein bisschen runter.

In Duisburg lieferten Sie auf Anhieb wieder ordentliche Leistungen ab, so dass im Sommer 2013 tatsächlich noch einmal der Sprung in die Bundesliga gelang und Sie sich dem 1. FSV Mainz unter Thomas Tuchel anschlossen. Wie lief Ihr erstes Treffen mit ihm?

Koch: Es war so ein cooles Gespräch, das hat mich echt umgehauen. Er war komplett weltoffen und hat mir erklärt, was für ein Mensch er ist. Er hat total viel erzählt, auch von Dingen außerhalb der Fußballwelt. Es hat mich gefreut, wie er mich wahrgenommen und über mich gesprochen hat. Er beobachtete mich schon im ersten Jahr in Duisburg und wollte mich als Persönlichkeit und Mentalitätsspieler haben. Als ich mit meinem Berater aus dem Raum ging, habe ich ihm direkt gesagt, dass ich nur zu Thomas Tuchel möchte.