Baumjohann-Interview: "Vermisse diese Stimmung, auswärts schon beim Aufwärmen ausgepfiffen zu werden"

Von Michael Reis
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Baumjohann über seine Kindheit: "Hatte BVB-Milchtüten im Regal"

Sie wollten damals eigentlich zu Schalkes großen Rivalen wechseln, oder?

Baumjohann: Ich war großer BVB-Fan und in meinem Zimmer war alles schwarz-gelb. Sogar Milchtüten hatte ich im Regal. Die Verantwortlichen kamen aber einen Tag zu spät. Denn ich hatte schon Schalke mein Wort gegeben und zu dem stand ich. Auch wenn ich am liebsten wieder abgesagt hätte. Ich habe letztes Jahr Schalkes damaligen Nachwuchschef Helmut Schulte getroffen. Er erinnerte sich an damals. Beim Anblick meines Zimmers war er sich sicher, dass er mich niemals überzeugen würde, zu Schalke zu wechseln. Die Liebe zu Blau-Weiß entwickelte sich aber schnell, wenn man jeden Tag auf dem Vereinsgelände ist, später sogar im Internat lebt, in der Bundesliga im Stadion Balljunge ist und dann dort Profi wird. Und das ist bis heute so geblieben.

Wer bei Schalke ist Ihnen besonders in Erinnerung?

Baumjohann: Rudi Assauer war einfach ein Original. Als ich mit meinen Eltern zu ihm ins Büro musste, um den ersten Profivertrag zu unterschreiben, hätte er auch zehn Euro Gehalt in den Vertrag schreiben können. Auch das hätte ich gemacht. Er stand damals vor unserer Jugendmannschaft und hat auf die Berater geflucht. Er warnte uns, dass wir nie einen mitbringen sollten, da er immer mit einem Gewehr und Fernglas am Fenster stehen und alles auf dem Schalke-Gelände überwachen würde. Es macht mich sehr traurig, wie er die letzten Jahre verbracht hat.

Assauer hatte Sie auch als "nächster Michael Ballack" gefeiert, Sie galten als Jahrhunderttalent. War diese Bürde zu groß?

Baumjohann: Um ehrlich zu sein, habe ich das gar nicht so richtig mitbekommen. Von daher hat mich das auch nicht sonderlich unter Druck gesetzt.

Wer war schlimmer: Louis van Gaal oder Felix Magath?

Welche Rolle spielt Lincoln in Ihrem Leben?

Baumjohann: Zu Lincoln hatte ich bei Schalke sofort ein tolles Verhältnis. Ich habe zu ihm aufgeschaut. Er hat mich damals mit in den Urlaub nach Brasilien genommen. Zwei Wochen waren wir da. Keiner sprach Deutsch und so kam es, dass ich portugiesisch lernte. Heute spreche ich die Sprache, auch dank meiner Frau, perfekt. Lincoln war es auch, der mir die beiden Transfers nach Brasilien ermöglicht hat. Wir haben immer noch einen engen Kontakt.

Vom FC Bayern sind Sie zurück nach Gelsenkirchen gegangen. Haben Sie im königsblauen Trikot, beim 5:2 in Mailand, das beste Spiel Ihrer Karriere gemacht?

Baumjohann: Das Drumherum war wirklich speziell. Ich wurde von Felix Magath in die U23 verbannt. Dann kam Ralf Rangnick und es ging sofort wieder hoch. Ich durfte ohne Eingewöhnung in der Bundesliga gleich gegen St. Pauli ran und wenige Tage später in der Königsklasse in Mailand. Inter war damals Titelverteidiger in der Champions League. Die haben sich gefreut, dass sie Schalke fürs Viertelfinale gezogen haben. Und dann trifft Stankovic auch noch nach 20 Sekunden mit einem Traumtor von der Mittellinie. Aber Rangnick hatte uns super eingestellt und sind mit 5:2 ins Halbfinale eingezogen. Was die Champions League betrifft, was das sicherlich das beste Spiel der Vereinshistorie.

Was verbindet Sie noch mit Felix Magath?

Baumjohann: Im Nachhinein wäre es für meine Karriere besser gewesen, wenn ich erst Magath als Trainer gehabt hätte und dann Louis van Gaal bei den Bayern. Denn wenn man Magath als Trainer hatte, kann einen wirklich nichts mehr schocken. Aber andererseits habe ich sportlich auch eine Menge von ihm gelernt und ich bin froh über diese Erfahrung.

Baumjohann: "Heynckes war eine Art Vaterfigur"

Und wie stehen Sie zu Jupp Heynckes?

Baumjohann: Zu Jupp Heynckes habe ich eine spezielle Bindung. Er war im Fußball eine Art Vaterfigur und ich nenne ihn immer noch Trainer. 90 Prozent meiner Entscheidungen, die ich gefällt habe, habe ich vorher mit ihm besprochen. Er hat mich damals als 16-Jähriger bei den Profis mittrainieren lassen und mir nach zwei Einheiten gleich einen Profivertag angeboten. Das lief dann ein wenig unglücklich, weil er in meinem ersten Profijahr bereits nach drei Monaten entlassen wurde. In Mönchengladbach war es ähnlich, als er mich 2007 holte. Ein paar Wochen später war er da weg. Vielleicht hätte ich in München länger mit ihm gearbeitet, wenn ich dort geblieben wäre, denn er folgte ja auf van Gaal.

Wer war der beste Spieler, mit dem Sie zusammengespielt haben?

Baumjohann: Mit Raul zusammen zu spielen, war eine riesige Erfahrung. Er ist ein Vorbild auf und neben dem Platz. Ich habe nie einen Spieler erlebt, der bei all den Erfolgen und all den Millionen, die er verdient hat, so demütig und bodenständig geblieben ist. Er brauchte keine teuren Autos oder Designerklamotten. Ich hatte einen guten Kontakt zu ihm und wir haben uns auch nach der Schalke-Zeit noch geschrieben. Sportlich gab es auch keinen besseren. Er ist nicht besonders schnell, hat nicht den härtesten Schuss, aber er hat immer die richtige Entscheidung getroffen. Wenn er passen musste, hat er gepasst. Wenn er schießen musste, hat er geschossen. Er hat keine Fehler gemacht. Insgesamt hat Raul mich sehr geprägt, weil ich oft überlegt habe, was er in manchen Situationen gemacht hätte.

"Dortmund, Bayern, Gladbach oder auch Leipzig sind der Hertha Lichtjahre voraus."

Sie wurden 2017 bei Hertha BSC ohne Gründe abgesägt. Sind Nachrichten, wie die Posse um den Abgang von Jürgen Klinsmann, da eine Art Genugtuung?

Baumjohann: Nein. Aber wenn ich hätte raten sollen, bei welchem Bundesligaverein so etwas passiert, hätte ich sofort auf Hertha BSC getippt. Es wäre dennoch schön, wenn Hertha kontinuierlich auf europäischer Bühne spielen würde, genau wie es bei fast allen anderen Hauptstadtklubs in Europa der Fall ist. Leider sind die Top-Klubs der Bundesliga wie Dortmund, Bayern, Gladbach oder auch Leipzig der Hertha Lichtjahre voraus. Die haben über Jahrzehnte Weltklasse-Arbeit geleistet. Das beste Beispiel ist Borussia Mönchengladbach unter Sportdirektor Max Eberl. Das kann man nicht allein mit einem Investor und viel Geld in sechs Monaten aufholen.

Waren die beiden Kreuzbandrisse in der Hertha-Zeit die schlimmste Erfahrung Ihrer Karriere?

Baumjohann: Auf jeden Fall. Jeder der mich kennt, weiß, dass es für mich nichts Schöneres gibt, als jeden Tag auf dem Platz zu stehen. Auch in meinem Alter freue ich mich noch auf jedes Training. Und dann falle ich zwei Jahre aus, obwohl ich vorher fast keine Erfahrung mit Verletzungen hatte. Ich hatte große Angst, ob ich überhaupt noch einmal zurückkehren würde. Meine Familie hat mir sehr geholfen, das mental zu überstehen. Das hat mich stärker gemacht. Ich habe zum Glück nie wieder Probleme mit dem Knie gehabt.

Sie haben 2017 und 2018 für Coritiba und EC Vitoria in Brasilien gespielt. Sind Sie Ihrer Frau zuliebe dorthin gewechselt?

Baumjohann: Nein, der Wechsel nach Brasilien war allein meine Entscheidung. Ich liebe den brasilianischen Fußball und wollte sehen, wie es ist, dort zu spielen. Meine Frau liebt ihre Heimat auch, aber hinziehen möchte sie nicht mehr. Man fühlt sich dort einfach nicht sicher, auch wenn wir gern dort in unserer Wohnung in Belo Horizonte Urlaub machen. Wir haben das Leben in Australien schätzen gelernt und können uns gut vorstellen, zusammen mit unseren beiden Töchtern länger und auch nach meiner Karriere hier zu bleiben.

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