Ex-Leverkusen-Profi Jens Nowotny im Interview: EM-Debakel? "Einige hätten es gerne gesehen, wenn sich zwei von uns erhängt hätten"

Von Dennis Melzer
nowotny-fans-600
© imago images
Cookie-Einstellungen

 

1996 folgte der Wechsel nach Leverkusen. Obwohl Bayer beinahe abgestiegen wäre und der KSC die Saison im Mittelfeld abgeschlossen hatte ...

Nowotny: Zum Zeitpunkt der Verhandlungen war noch nicht klar, dass die Wege der beiden Vereine derart auseinandergehen würden. Der erste Kontakt mit Leverkusen kam im November zustande. Damals lag Bayer in der Tabelle noch vor Karlsruhe. Insgesamt, vom Eindruck der Jahre zuvor, war das einfach der nächste logische Schritt. Zudem muss man bedenken, dass viele Leistungsträger den KSC nach und nach verlassen haben. Sternkopf, Kreuzer, Scholl, Kahn, sie alle gingen zu Bayern München, später folgten Michael Tarnat und Thorsten Fink. Der KSC war kein Verein, bei dem die Spieler länger geblieben sind, wenn es gut lief.

Mit Ihnen hat sich Leverkusen wieder gefangen. Eine Saison nach dem Fast-Abstieg war der Gewinn der Meisterschaft möglich. Ein 0:4, ausgerechnet im Derby beim Erzrivalen 1.FC Köln, hat das verhindert. Wie sind Sie damit umgegangen?

Nowotny: Mir hat es besonders für die Fans leidgetan, dass wir es nicht geschafft haben. Dass es ausgerechnet im Derby war, hat für mich keine Rolle gespielt. Das waren zwar immer schöne Spiele, egal, ob mit dem KSC gegen den VfB Stuttgart oder mit Leverkusen gegen Köln. Die Atmosphäre war besonders, aber ich persönlich war nicht besonders motiviert, weil es ein Derby war. Ich habe mich immer aus den Querelen zwischen den Fangruppen und den Anfeindungen im Vorfeld herausgehalten. Ich hatte das Gefühl, dass es für einige beim 1. FC Köln jahrelang wichtiger war, gegen Leverkusen zu gewinnen, anstatt die Klasse zu halten. Nach dem Motto: Wir können ruhig absteigen, aber Hauptsache, wir haben Bayer geschlagen. Das war für mich immer fern jeder Logik. Ich muss aber sagen, dass der Fußball in dieser Beziehung ohnehin schizophren ist.

Wie meinen Sie das?

Nowotny: Du spielst eine ganze Saison lang scheiße und stehst unten drin. Aber im letzten Spiel schaffst du es knapp, die Klasse zu halten. Alle jubeln dir zu und rufen: Super, geil, toll gemacht! Wenn du eine herausragende Saison spielst und am Ende die Meisterschaft verpasst, wirst du beschimpft und alles ist kacke. Ich kann mich daran erinnern, dass wir 1996 mit dem KSC vom Pokalendspiel zurückkamen, das wir 0:1 gegen Kaiserslautern verloren haben. Die eigenen Fans haben uns mit faulen Eiern beschmissen. Das finde ich schizophren. Das war damals schon ein Spiegel der Gesellschaft und das ist heute nicht anders.

Haben Sie im Laufe Ihrer Karriere noch andere, ähnliche Erfahrungen gemacht?

Nowotny: 2000, als wir gegen Unterhaching verloren haben. Mir wird eines immer in Erinnerung bleiben: die Häme von Stefan Effenberg. So etwas zeugt von enormer Charakterstärke ...

Lassen Sie uns zunächst im Jahr 1997 bleiben. Welchen Anteil hatte der damals neue Trainer Christoph Daum am Aufschwung Leverkusens?

Nowotny: Bei einem Uhrwerk ist jedes Rädchen wichtig, aber er war das wichtigste Rädchen. Man mag über seine Methoden kontrovers diskutieren, aber man kann ihm nicht vorwerfen, dass er nicht alles für die Mannschaft getan hat. Er ist immer auf Kritik eingegangen und hat stets versucht, etwas Positives daraus zu ziehen. Das war ganz großer Sport. Das haben viele, inklusive mir, damals gar nicht richtig wahrgenommen. Aber als ich im Laufe meiner Karriere weitere Trainer kennengelernt habe, ist mir aufgefallen, dass Christoph Daum im obersten Regal einzuordnen war.

Können Sie sich noch an eine ganz besondere Ansprache erinnern?

Nowotny: Wir haben gegen den KSC gespielt, der damals Thomas Häßler in seinen Reihen hatte. Bei uns stand Rüdiger Vollborn im Tor und Christoph hat in der Kabine zu ihm gesagt: 'Rüdi, denk dran, wenn der Icke einen Freistoß schießt, schießt er immer in die Torwartecke. Außer, er schießt in die andere.' Rüdiger hat Christoph fragend angeschaut, aber letztlich wussten wir alle, was er damit gemeint hat. Es gibt Situationen im Spiel, da hilft dir nur die Intuition. Du kannst dich auf gewisse Dinge einstellen, aber du musst selbst ein Gefühl dafür bekommen, was du machst. Wie bei Icke Häßler verhielt es sich mit Arjen Robben. Man wusste, dass er immer nach innen zieht, aber trotzdem hat er pro Saison über zehn Tore geschossen. Man wusste auch, dass Rudi Völler immer einen doppelten Übersteiger macht, aber trotzdem kam er vorbei. Christoph war immer sehr wissenschaftlich, aber manchen Dingen im Fußball ist wissenschaftlich nicht beizukommen. Das wollte er uns vermitteln.

Daum galt nicht nur als Fußball-Wissenschaftler, sondern vor allem als großer Motivator. Wie äußerte sich das?

Nowotny: Er hat uns einmal erklärt, dass wir die zweikampfstärkste Mannschaft der Liga seien. Wir haben uns dann gedacht: 'Ja, du kannst uns viel erzählen.' Plötzlich hat er die ran-Datenbank an die Tafel geschmissen und hat uns haarklein aufgezeigt, in welchen Bereichen wir mit guten Werten geglänzt haben. 'Hier, schaut hin. Ihr seid die besten Zweikämpfer. In der Luft und auf dem Boden, Ihr seid überragend in Eins-gegen-Eins-Situationen und Ihr benötigt ligaweit die wenigsten Chancen, um ein Tor zu erzielen.' Dann haben wir ihm geglaubt. Ob er die Statistik frisiert hat, weiß ich nicht (lacht).

Sie haben seine in Teilen diskutablen Methoden bereits angesprochen. Eine davon war das Laufen über Glasscherben. Was hatte es damit auf sich?

Nowotny: Davon habe ich sogar noch ein Foto. Die Aktion war mit Jürgen Höller abgesprochen. Das war so ein Tschakka-Motivationsguru, der damals die Dortmunder Westfalenhalle vollgemacht hat, danach pleiteging, aber immer wieder auf die Füße kam. Höller war ein Stehaufmännchen und ein Verkäufer vor dem Herrn. Es ging bei dieser freiwilligen Übung darum, ihm zu vertrauen. Die meisten in der Mannschaft waren offen dafür, andere haben gesagt: 'Was soll denn der Scheiß?'

Und tatsächlich hat sich niemand verletzt?

Nowotny: Nein, es hat funktioniert.

Sie haben Unterhaching bereits angesprochen. Leverkusen hat beim krassen Außenseiter die sicher geglaubte Meisterschaft am letzten Spieltag hergeschenkt. Wie war die Stimmung im Mannschaftsbus?

Nowotny: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin nach dem Spiel mit Reiner Calmund zurück nach Leverkusen gefahren, weil wir ein Live-Interview in der BayArena hatten. Die Mannschaft ist separat zurückgereist.

Es gibt sicherlich Angenehmeres als nach einem solchen Spiel mit dem Boss im Auto zu sitzen, oder?

Nowotny: Soweit ich mich erinnern kann, herrschte betretenes Schweigen.

Welchen Teamkollegen mussten Sie ganz besonders aufbauen?

Nowotny: Ulf Kirsten hatte als Bayer-Urgestein vielleicht am meisten zu kämpfen. Grundsätzlich glaube ich, dass jeder Spieler das für sich selbst verarbeiten musste. Nicht nur die Spieler, auch die Fans waren natürlich niedergeschlagen. Mein Bruder war an jenem Nachmittag auch im Stadion und hing heulend am Zaun. In solchen Momenten kann man gar nicht realisieren, was man eigentlich erreicht hat. Man beschäftigt sich nur damit, was man verloren hat.

Apropos verlieren: Auf die Enttäuschung von Unterhaching folgte für Sie als Teil des DFB-Teams im Sommer das EM-Debakel in den Niederlanden und Belgien. Was lief schief?

Nowotny: Wir waren keine Einheit. Das Trainerteam war nicht immer einer Meinung, die Mannschaft hat nicht richtig an sich geglaubt. Zusätzlich wurde darüber diskutiert, ob es richtig sei, Lothar Matthäus zurück ins Team zu holen. Die Bayern-Riege war sehr dominant. Wenn von elf Spielern drei oder vier auf dem Platz unzufrieden sind und nicht auf das vertrauen, was von draußen vorgegeben wird, kann man auf diesem Niveau nichts reißen.

Bundestrainer Erich Ribbeck wurde medial besonders kritisiert. Warum hat er die Mannschaft nicht erreicht?

Nowotny: Lassen Sie es mich so sagen: Bei Rudi Völler oder Jürgen Klinsmann und ihren jeweiligen Co-Trainern gab es eine einheitliche Philosophie, mit der alle konform gingen. Das gab es bei Erich Ribbeck und Uli Stielike nicht. Da ging der eine nach links und der andere nach rechts - dann haben sie sich umgedreht und geschaut, wo die Mannschaft bleibt. Wir standen in der Mitte und haben uns gefragt, was wir tun sollen. Jetzt könnte man argumentieren, dass wir alt genug waren, um selbst Verantwortung zu übernehmen. Das hat aber niemand gemacht.