"Klubs wie 1860 sind interessanter"

Jens Lehmann spielte von 2003 bis 2008 in der Premier League beim FC Arsenal
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SPOX: Im deutschen Profi-Fußball gibt es bei den Entscheidungsträgern offenbar nur zwei Extreme: Hier der Ex-Profi, der vordergründig dank seiner vergangenen Erfolge und Erfahrung an einen Job kommt. Und dort der Quereinsteiger, der sich theoretisch Wissen angeeignet hat und sich hochdient. Sehen Sie sich in der Mitte, weil Sie beides verbinden?

Lehmann: Ich bin immer tolerant und kein Fan von Schwarz-Weiß-Denken. Gleichzeitig bin ich kein Fan von der Theoretisierung des Fußballs. Aus meiner Sicht ist das keine Erfolgsstory und deswegen glaube ich, dass der deutsche Fußball mehr und mehr in ein Problem hineinläuft. Viele Ex-Profis haben vielleicht nicht die Zeit oder die Lust, den enormen Zeitaufwand eines Trainers oder Managers auf sich zu nehmen. Mit der Konsequenz, dass Theoretiker ihre Chance bekommen, die sich sehr damit beschäftigen, wie der Fußball funktionieren könnte - aber es selbst nie erlebt haben. Diese Theoretiker kommen zunehmend in den Fußball und es ist klar, dass dadurch die Qualität nicht besser wird.

SPOX: Als Sie in Stuttgart spielten, war der VfB regelmäßig international vertreten, nun droht erneut der Abstiegskampf. Was auffällt: Die Top-Positionen werden mittlerweile nicht mehr von einem Ex-Profi bekleidet. Ein Grund für den Niedergang?

Lehmann: Es ist sicherlich einer von vielen Gründen. Es gibt ein Akzeptanzproblem für die Spieler, wenn im Misserfolg ein Trainer oder ein Manager oder ein Präsident in die Kabine kommt, der selbst so etwas nie mitgemacht hat. Wie will man dann vor den Spielern Glaubwürdigkeit ausstrahlen? Wobei Stuttgart ja nur eines von vielen Beispielen ist. In England finde ich das noch extremer. Fast der gesamte Fußball wird von Leuten gemanagt, die selbst nie auf einem hohen Niveau gespielt haben. Zum Vorteil der anderen Ligen, weil die englischen Teams viel zu hohe Preise für Spieler zahlen, die völliger Quatsch sind. Man kann nicht unbedingt sagen, dass dort sehr schlau eingekauft wird. Nur: Woher sollen es die Verantwortlichen besser wissen? Betriebswirtschaftlich formuliert: Sie wissen nicht, ein Produkt richtig zu bepreisen, weil sie branchenfremd sind. Kostet der Neuzugang 20 Millionen oder 40 Millionen? Die anderen Ligen nehmen das Geld dankend an, wohl wissend, dass es viel zu viel ist.

SPOX: Ist die Erfahrung als Ex-Profi so wichtig?

Lehmann: Bayern München ist sicherlich ein gutes Beispiel, da dort ehemalige Fußballer, sogar ehemalige Top-Fußballer, die Entscheidungen treffen. Es gibt viele Vereine, die ein zumindest ähnliches Potenzial besitzen und bei weitem nicht ausnutzen, weil sie einfach nicht gut genug aufgestellt sind.

SPOX: Andersherum gefragt: Fehlt vielen Ex-Profis das Knowhow, der Eifer und das Netzwerk, um sich besser zu positionieren?

Lehmann: Bis zu einem gewissen Teil bestimmt. Daher bleibt der Fußball ein geschlossener Kreis, so dass es einigen Ex-Profis sehr schwer fällt, da einzudringen. Zumal es ja auch einige Trainer und Manager gibt, die zwar nie selbst hoch gespielt haben, aber dennoch gut arbeiten und sich oben halten. Trotzdem glaube ich: Die Wahrscheinlichkeit, richtige Entscheidungen zu treffen, ist größer, wenn man selbst Fußball auf hohem Niveau erlebt hat.

SPOX: Sie besitzen den Trainerschein. Sehen Sie sich als Coach?

Lehmann: Grundsätzlich ist Trainer der spannendere Job.

SPOX: Warum?

Lehmann: Man muss permanent damit leben, bei Erfolg schnell die Karriereleiter zu erklimmen und bei Misserfolg schnell weg zu sein. Das ist spannend.

SPOX: Entspricht das Ihrem Charakter?

Lehmann: Ich stand als Fußballer häufig unter Druck und genoss es, weil unter Druck die Leistung besser war.

SPOX: In England könnten Sie beides verbinden: Als Manager wären Sie Trainer und Sportdirektor in einem. Ist eine Rückkehr denkbar?

Lehmann: England ist der prinzipiell interessanteste Markt, weil er der größte ist. Ob es sofort interessant ist, weiß ich nicht. Es hängt ein bisschen davon ab, wo genau in England. Es ist nicht so wie in Deutschland, wo man in vielen Städten tolle Arbeitsbedingungen vorfindet. Es gibt England und es gibt London, das ist ein großer Unterschied.

SPOX: Bei allen Transferausgaben: Wie sehen Sie die Leistungsstärke des englischen Fußballs? Droht er, seinen Status zu verlieren?

Lehmann: England hat keinen Status zu verlieren, weil es sportlich keinen herausgehobenen Status besitzt. Die englische Nationalmannschaft war von der Heim-EM abgesehen bei den Großturnieren der letzten 30, 40 Jahre nie gut. Und der englische Klubfußball ist international eine große Enttäuschung, wenn man wie in der letzten Saison vier Teams in der Champions League stellt und kein Team trotz der Mittel ins Viertelfinale kommt. Über kurz oder lang wird es eine Umstrukturierung nach sich ziehen müssen. Wie gesagt: Das englische Geld ist nicht das schlauste Geld. Es ist nur in Unmengen da.

SPOX: Jürgen Klopp schließt ein Engagement in England nicht aus. Trauen Sie ihm die Premier League zu?

Lehmann: Ich kann die Frage weder mit ja noch mit nein beantworten. Er hat in Dortmund fantastische Arbeit abgeliefert, doch das ist Geschichte. Ob es in ungewohnter Umgebung, wo immer es sein wird, ähnlich passt, kann ich schwer vorhersagen. Aber warum nicht England? Es wäre ein wichtiges Signal, wenn ein Deutscher zu einem ausländischen Topklub gehen würde. Das gab es seit Jupp Heynckes und Real Madrid nicht mehr. Wir sagen immer, wie großartig unsere Trainerausbildung ist. Das Problem ist, dass das nicht mit Beweisen unterfüttert wird. Da müssen wir hinkommen. So könnte Klopp im Ausland das Aushängeschild für die deutsche Trainergilde werden.

SPOX: Sie selbst sind 1998 aus dem vertrauten Schalke zum AC Milan gewechselt und kehrten nach nur einem halben Jahr nach Deutschland zurück. Im Nachhinein sagten Sie, dass Sie es bereuen würden und Sie sich gewünscht hätten, länger bei Milan geblieben zu sein. Was raten Sie Paris' Kevin Trapp und Barcelonas Marc-Andre ter Stegen? Sie patzten zuletzt und werden von den Medien kritisiert.

Lehmann: Ter Stegen ist Champions-League-Sieger geworden, ich wüsste nicht, was es da zu kritisieren gibt. Trapp benötigt eine Eingewöhnungszeit. Er ist ein guter Torwart, aber er muss ein sehr guter Torwart werden. Das dauert und ist in seinem Alter normal. Ich würde ihnen raten, geduldig zu bleiben. Fehler werden sie wie alle Torhüter immer machen, dennoch verfügen sie über tolle Voraussetzungen. Ich wäre an ihrer Stelle optimistisch.

Seite 1: Lehmann über Flüchtlingshilfe, sein Laures-Projekt und einen Job im Fußball

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