Wie Hamilton Ricciardo fast den Sieg brachte

Von Dominik Geißler
Ricciardo und Hamilton belegten die Plätze zwei und drei in Singapur
© getty

Der neue WM-Führende Nico Rosberg gewann den Großen Preis von Singapur hauchdünn vor Daniel Ricciardo. Vorausgegangen war ein Strategiepoker, der dem Mercedes-Piloten im Kampf gegen Red Bull die Hände band - und von Teamkollege Lewis Hamilton erst ausgelöst wurde.

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Kann ein einzelner Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen?

Mit dieser Frage beschäftigt sich die Theorie des "Schmetterlingseffekts". Darin heißt es, dass durch eine Kettenreaktion selbst die kleinste Veränderung der Anfangsbedingungen große Folgen haben kann. Bewegt ein Schmetterling also seine Flügel, entstehen Luftströme, die wiederum neue Wirbel verursachen und letztlich zu einem Tornado führen können.

Überträgt man dieses Konstrukt auf den Großen Preis von Singapur, bedeutet das: Lewis Hamilton war mit seinem spontanen Strategiewechsel der Schmetterling. Ein elektrisierendes Rennen, das Nico Rosberg fast noch den Sieg gekostet hätte, der Tornado.

Aber der Reihe nach. Es dauerte keine zehn Runden, bis die Sorgenfalten am Kommandostand der Silbernen größer wurden. Die Bremsen von Nico Rosberg und Lewis Hamilton überhitzten in der tropischen Nacht von Singapur. Die Renningenieure Tony Ross und Peter Bonnington hielten ihre Fahrer über Funk an, früher vom Gas zu gehen, um das Problem so zu managen. "Wir waren mit den Bremsen sehr grenzwertig unterwegs", bestätigte Motorsportchef Toto Wolff.

Hamilton mit Taktikkniff

Die Folge? Das Mercedes-Duo konnte sich - auf Platz eins und drei liegend - nicht von seinen jeweiligen Verfolgern lösen. Besonders im zweiten Stint schrumpften die Lücken zwischen Kimi Räikkönen und Hamilton sowie zwischen Daniel Ricciardo und Rosberg immer weiter ein.

Räikkönen setzte den Weltmeister sogar so sehr unter Druck, dass sich dieser verbremste. Eine Gerade später ging der Finne vorbei. Nachdem Räikkönen auch nach dem zweiten Stopp vor Hamilton lag, schien der Brite das Podium endgültig verloren zu haben. Doch dann schlugen die Mercedes-Ingenieure das erste Kapitel im Taktikpoker auf.

Mercedes setzte Hamilton 17 Runden vor Schluss spontan auf eine Drei-Stopp-Strategie. Mit diesem Plan B wollte man Ferrari unter Druck setzen - und tat das mit Erfolg. Die Scuderia reagierte auf den Hamilton-Stopp fast schon panisch und rief auch Räikkönen zum dritten Stopp herein.

Problem: Räikkönen hatte vor den Stopps nur mehr 2,1 Sekunden Vorsprung auf Hamilton. Mit den alten Reifen hatte er keine Chance, seine Position zu retten. Zu schnell war der Mercedes-Pilot in seiner Outlap. Ein Taktikfehler, der den ohnehin nicht gerade euphorischen Iceman bitter aufstieß: "Wir haben es geschafft, ihm den Platz wieder zurückzugeben."

"Mathematisches Modell zusammengekracht"

Während sich zu diesem Zeitpunkt alles auf den Kampf um den letzten Podiumsplatz konzentrierte, witterte Red Bull plötzlich seine Chance auf den Sieg. Durch die nach hinten entstandene Lücke war Ricciardo frei, 16 Runden vor Rennende ebenfalls einen dritten Stopp einzulegen und so Rosberg nochmal unter Druck zu setzen.

"Lewis war im Grunde derjenige, der das ausgelöst hat. Er hatte einen freien Stopp, den Kimi gecovert hat. Wir hatten dann nichts zu verlieren und haben auch gecovert", erklärte Red-Bull-Teamchef Christian Horner das Szenario.

Im Normalfall hätte Mercedes diese Taktik einfach kopiert. Rosberg wäre einen Umlauf später an die Box gekommen und dann problemlos zum Sieg gefahren. Doch: In diesem Rennen waren dem Deutschen die Hände gebunden.

Ricciardo im Eiltempo

"Wir konnten nicht in die Box, weil ich auf der Runde Verkehr hatte und wirklich langsam war. Er hätte mich geschlagen", sagte Rosberg, der vor Ricciardos Stopp nur noch 2,6 Sekunden Vorsprung auf den Australier hatte. Wolff pflichtete bei: "In den ersten Runden war Danny drei, vier Sekunden schneller und da ist unser ganzes mathematisches Modell zusammengekracht. Besonders die Runde aus der Box raus war so sensationell stark, dass es sich nicht mehr ausgegangen wäre."

Bedeutet im Klartext: Wäre Rosberg in die Box abgebogen, hätte Red Bull mühelos die Führung übernommen. Der Mann mit der Startnummer 6 musste auf der Strecke bleiben. Und Ricciardo? Für den hieß es ab diesem Zeitpunkt: Volle Attacke!

"Ich habe mich nur darauf konzentriert, ihn zu kriegen und ihn unter Druck zu setzten. Mir war klar, dass sein Ingenieur ihm über Funk sagen würde: 'Ricciardo macht zwei Sekunde pro Runde auf dich gut'. Das hört man nicht gerne. Ich habe also alles gegeben und gehofft, ihn zu einem Fehler zu zwingen", beschrieb der WM-Dritte seine Herangehensweise.

Einen Fehler machte Rosberg nicht. Trotzdem schrumpfte die Differenz zu Ricciardo binnen weniger Runden von über 20 Sekunden auf gerade einmal 0,488 Zehntel bei der Zieleinfahrt. "Die Jungs in der Fabrik haben uns ausgerechnet, dass wir in den letzten beiden Runden auf eine Sekunde ranfahren können. So sollte die Formel 1 auch eigentlich sein - dass die ersten beiden nach zwei Stunden nur noch eine halbe Sekunde trennen", sagte Horner über das knappste Rennende seit langem.

"Bester Rosberg überhaupt"

"Wir haben uns wirklich in die Hose gemacht", gab Wolff die enorme Anspannung in der Mercedes-Garage zu: "So muss Formel 1 sein. Das war ein Rennen, wo alles drin war. Wir müssen vor Red Bull den Hut ziehen. Das Feuerwerk, das Ricciardo am Ende abgefackelt hat, war Wahnsinn. Sie haben uns unter Druck gesetzt."

Dass Rosberg bei seinem 200. Formel-1-Start nicht nur seinen 22. GP-Sieg einfuhr, sondern auch die Weltmeisterschaftsführung von Hamilton zurückeroberte, lag für Mercedes-Aufsichtsratschef Niki Lauda in erster Linie an dessen fahrerischer Leistung: "Hätte er ein, zwei Zehntel irgendwo im Rennen verloren, dann hätte er nicht gewonnen. Er ist am Limit gefahren, deshalb verdient er den Sieg."

In einer Medienrunde nach dem Rennen stimmte Wolff seinem österreichischen Landsmann zu: "Ich kenne Nico Rosberg seit 2013 und heute habe ich den besten Nico Rosberg überhaupt gesehen."

Ein Rosberg in dieser Verfassung lässt sich eben auch nicht von einem Schmetterling beeindrucken.

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