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100 Jahre BVB


Gründer: UnrealFabian | Mitglieder: 299 | Beiträge: 68
31.05.2013 | 5441 Aufrufe | 15 Kommentare | 25 Bewertungen Ø 8.9
Scheißegal, scheißegal, scheißegal!
Mein Finale in London
Wie ich mit einem Bayernfan das Finale in London verbrachte, verlor und trotzdem feierte.
Donnerstag, 23. Mai 2013, 19 Uhr
Ein Symbolträchtiges Bild? Mit lauter Fußballfans stehe ich auf dem Rollfeld des Flughafens Düsseldorf-Weeze. Während alle anderen unter einer Überdachung auf den Flieger warten, stehen die einzigen mitfliegenden Bayernfans im Regen.
Durch das schlechte Wetter genervt, kommen wir mit einem englischen Geschäftsmann ins Gespräch. Der Tottenham-Fan verrät uns: "In London, it's sunny all the time. Even at night." Wie symbolträchtig gerade dieser Satz noch sein sollte, hätte zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemand der Beteiligten gedacht.

Mittwoch, 25. April 2013, 0 Uhr
Wenn ich nicht gerade in der Kneipe stehe, um vor versammelter Runde zu erläutern, warum Ilkay Gündogan der VERDAMMT NOCHMAL BESTE SPIELER DER WELT ist, stehe ich davor und telefoniere mit einem Bayernfan. Berauscht von 2 deutschen Galavorstellungen in den Halbfinalhinspielen, aber angeblich ohne Promille im Blut, sitzt dieser zuhause vorm PC und sucht verzweifelt nach günstigen Flugtickets. Destination: London, Time: Champions League Finale 2013.
Ob wir überhaupt Tickets für das Finale bekommen? Unwichtig! Wie viel Geld wir am Ende für den Trip bezahlen? Zukunftsmusik! Wo wir schlafen werden? London hat sicherlich genug Parkbänke!

Mittwoch, 25. April 2013, 11 Uhr
Verkatert sitze ich in der Cafeteria meiner Uni. Während meine Cola ihren Wachmach-Effekt noch nicht erziehlt hat, verweigert sich das Salamibrötchen vor mir bisher komplett, den Weg in meinen Magen anzutreten. Eine positive Erkenntnis liefert der Kater aber: Von Donnerstag bis Montag auf einer Parkbank zu schlafen, wäre vielleicht nicht die beste Idee. Also: Den bereits erwähnten Bayernfan, nennen wir ihn einfach Mister J, anrufen, einen PC in der Uni-Bibliothek beschlagnahmen und ein Hostel in East Ham buchen. Das ist zwar etwas außerhalb, dafür aber unschlagbar günstig. Später erfahren wir, dass East Ham der Vereinssitz des englischen Traditionsclubs West Ham ist (Engländer...). Ein langer Pullover zum Verstecken unserer Trikots wandert sicherheitshalber mit auf die Packliste. Einziger weiterer Haken: Check-In ist nach 19 Uhr nicht mehr möglich, fällt am Ankunftstag also flach. Wo wir die erste Nacht verbringen, muss also noch überlegt werden.

Dienstag, 30. April 2013, 22.20 Uhr
Das Halbfinale habe ich im Vorfeld immer als absoluten Bonus abgetan. Zu emotional waren die letzten Minuten gegen Malaga. So eine Tortur wollte ich nicht noch einmal durchmachen. Nun, wo London gebucht war, wurde das Weiterkommen vom Bonus doch wieder zum Muss.
Leicht angespannt stehe ich also vor dem Bildschirm einer Bochumer Kneipe - inmitten zahlreicher Dortmundfans und einer Person im Real Madrid-Trikot. Die ersten stürmischen 10 Minuten übersteht der BVB dank Roman Weidenfeller. Seitdem läuft alles wie geplant. In der 80. Minute dann der Gedanke: "Poah, das Ding ist durch. Jetzt kann ich entspannt ein Bier trinken." - Gedanken, die man besser nicht denkt. Sollte es irgendwo auf dieser Welt einen Gott geben, hatte er vermutlich genau diesen Satz gehört und nun einen Riesenspaß daran, mir den Abend zu versauen.
Auf einmal steht es 2:0 für Madrid, Sergio Ramos lacht mir aus dem Fernseher entgegen und irgendwo hinter mir lacht der Madrid-Fan wahrscheinlich zurück. Mein Bier habe ich vor lauter Nervosität halb voll auf die Bar gestellt. Die Hand brauche ich, um mich an meinem Nebenmann abzustützen. Mit quasi hundertprozentiger Sicherheit erwarte ich das 3:0 und den anschließenden Nervenzusammenbruch. So nervös wollte ich doch eigentlich gar nicht sein.

Mittwoch, 22. Mai 2013
Am Ende ging ja doch alles gut. Nach dem Abpfiff gegen Real Madrid und einem Abend voller Euphorie verschwand das Finale dann schnell aus meinem Gedanken. Bis zum Abend vor dem Abflugtag. Denn da kam plötzlich die Frage auf: Wo gucken wir das Spiel eigentlich? Tickets hatten wir beide nicht bekommen, ein Public Viewing sollte es nicht geben, deutsche Pubs waren schon lange ausgebucht und englische laut Medienberichten von Desinteresse gezeichnet.
Mit der Hilfe einer großen Internetsuchmaschine finden wir allerdings schneller als gedacht eine deutsche in London lebende Community. Deren Plan: Im Conference Room eines Londoner Hotels das Finale schauen. Alles, was man braucht, um sich anschließen zu dürfen: Einen Gästelistenplatz. Dieser ist schnell organisiert.
Jetzt bleibt nur noch eine Frage: Wo schlafen wir morgen eigentlich?

Donnerstag, 23. Mai 2013, 20 Uhr
Bei der Passkontrolle am Flughafen Stansted finde ich mich plötzlich von Bayernfans umzingelt. Da lässt es sich nicht vermeiden, dass man mit dem Feind ins Gespräch kommt. Zugegeben: Da ich selbst mit dem Feind zusammenreise, fällt das nun auch nicht so schwer - vor allem, da sich die Situation noch als außerordentlich glücklich erweisen sollte. Nachdem wir die Passkontrolle überwunden haben, erzählen wir 2 besonders erträglichen Bajuvaren, dass wir nun erstmal schauen müssen, wo wir die Nacht verbringen, da uns ein Hostelplatz bisher fehlt. Die spontane Antwort: "Kommt doch mit zu uns!" Die zwei hätten eigentlich zu dritt sein sollen und haben somit noch ein Bett über. Ein zweites ist schnell dazu gebucht und der erste Abend somit gerettet.
Auch das Hostel für die weiteren Tage erweist sich als Glücksgriff. Wir fahren zwar 20 Minuten bis in die Stadt, dafür haben wir zu zweit ein eigenes Zimmer und ein ausreichendes Bett zum Schlafen. Spätern sollten wir noch Geschichten von anderen Deutschen hören, die sich bei zwei Meter Körpergröße in ein 1,85m Bett zwängen müssen - Seite an Seite mit ihren Freunden.

Das Sight-Seeing an Freitag, Sonntag und Montag
Natural History Museum, British Museum, Covent Garden, Trafalgar Square, Big Ben, Houses of Parliament, Westminster Abbey, East Ham, Picadilly Circus, Tottenham Court Road, Greenwich, das Londoner Bankenviertel, Camden, Buckingham Palace, Stamford Bridge und die Tower Bridge. Sogar Fish'n Chips und Chicken Tikka Massala haben wir uns angetan. London ist einge grandiose Stadt und auch außerhalb des Fußballs jeden Besuch wert. Ich war zwar schon das zweite Mal da, aber da Mister J das nicht von sich behaupten konnte, habe ich mir die meisten Sehenswürdigkeiten noch einmal angeschaut - plus ein paar weitere, die auch ich noch nicht kannte.
Das Marathonprogramm rund um den Finaltag hat sich definitv gelohnt. Wer bisher der Überzeugung ist, Museen seien langweilig, sollte sich dringend mal ins British Museum begeben. Wer dagegen noch immer nicht glauben will, dass der englische Fußball stimmungstechnisch ausgestorben ist, der lässt sich am besten mal durch die Stamford Bridge führen (und ja! Marko Marins Trikot hängt da wirklich in der Kabine!). Und falls ihr nochmal in den Genuss kommen solltet, ein wichtiges Fußballspiel in London zu besuchen: Eine Niederlage lässt sich sehr gut auf den Hügeln von Greenwich auskatern. Die Aussicht auf London vertreibt einem jeden schlechten Gedanken. Und wenn das nicht klappt, trinkt einfach ein Guinness in den Pubs von Camden. Lasst aber die Finger vom Essen indischer Straßenhändler. Wer einmal das wahre London sehen will, sollte auch einmal die peripheren Stadtteile besuchen. Ein Spaziergang durch East Ham samt Fish'n Chips-Essen in einem siffigen Non-Tourist Laden war wohl eine der schönsten Erfahrungen.

Das "Feeling"
Auf der Suche nach einer geeigneten Location um das Spiel zu schauen, stieß man in den Weiten des Internets auf einige Stimmen in England lebender Deutscher, man verstehe nicht, warum man sich das Finale in London antut ohne Karten für Wembley zu haben. Die Reise sei viel zu teuer und das sogenannte "Feeling" gäbe es doch sowieso nicht. Die Engländer interessiere das Finale nicht und die wenigen Deutschen würden unter 9 Millionen Londonern doch eh nicht auffallen.
Weit gefehlt: Die "wenigen" Deutschen fielen auf. Zwar kann man nicht von einer riesigen Fußballparty reden, doch begegnete man an jeder Ecke Leuten, die deutsche Trikots oder immerhin einen Fanschal trugen. Eine kurze Unterhaltung an der Straßenecke, ein kurzer Gruß oder lediglich das Rufen des Vereinsnamens. Das machte die Stimmung am Freitag vor allem aus. Über der gesamten Stadt lag eine Aura von "Hier passiert morgen etwas Großes" und jede Begegnung mit einem deutschen Fan bestätigte einem dieses Gefühl.
Wirklich groß wurde das ganze aber erst am Samstag. Die Nachricht, Dortmunder Fans würden sich am Picadilly Circus und Trafalgar Square versammeln, ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt und die Smartphones deutscher Fußballfans. Gerade unter der Säule Nelsons versammelten sich hunderte Dortmunder (und sogar ein paar versprengte Bayern). Fanlieder, Bengalos und sogar Bier, das in der englischen Öffentlichkeit ja eigentlich verboten ist boten sich dem Auge. Mittendrin entdeckte man sogar die ein oder andere Polizeistreife - in modisch gelber Warnweste - einige Schwätzchen mit den deutschen Fans halten. Alkoholverbot kann man den Deutschen nunmal nicht aufzwingen.
Und auch die Londoner Bevölkerung war natürlich nicht generell desinteressiert am Finale. Schon kurz nach unserer Ankunft in der Londoner City begegneten wir einem Chelseafan, der uns als Deutsche erkannte. Mit den Worten "FUCK BAYERN!!! I'M A CHELSEA FAN! LET'S GO DORTMUND!!!" fühlte jedenfalls ich mich direkt willkommen in London. Schon zuvor am Flughafen bot uns das Personal 20 Pfund für unsere Schals. Davon, dass die Schals "holy" und "not for sale" seien, waren sie leicht enttäuscht. Genauso, wie die Kellner in einem kleinen Cafe am Covent Garden, die uns einen kostenlosen Tee im Tausch für unsere Wembley-Tickets boten. Unser Gegenangebot, ihnen einen Tee zu machen, wenn sie uns Tickets beschafften, nahmen sie leider ebenfalls nicht an.
Auch nach dem Spiel traf man auf viel fußballerische Gegenliebe - ob beim Pärchen in der Tube oder beim Manchester United-Fan am Sonntag im Pub. Bulgarische Touristen zogen uns sogar dem Buckingham Palace vor und fotographierten lieber uns.
Allgemein erregte der Umstand, dass ein Dortmunder und ein Bayer zusammen unterwegs waren, bei den Briten für viel Aufsehen. Immer wieder wurden wir gefragt, wie so etwas denn sein könne. Nach dem Spiel glaubte man uns teils nicht mehr, dass wir noch Freunde seien. Die deutschen Fanlager vertrugen sich aber bis auf wenige Ausnahmen. Vor dem Spiel freute man sich zusammen, nach dem Spiel feierte man zusammen. Traf man sich zufällig in der Stadt, unterhielt man sich - wenn auch gerne mit dem ein oder anderen hämischen Kommentar, man war ja schließlich Rivale!
Natürlich begegnete man auch Leuten, die mit dem Finale nicht allzu viel anfangen konnten. Auf den Trafalgar Square verirrte sich ein älteres Pärchen, dass die ganzen Schwarz-Gelben nicht so recht einzuschätzen wusste, ein weiterer Engländer fragte mich Samstag Nachmittag, wer denn die Tore erzielt hätte. Von der Aussage, das Spiel fände erst abends statt, war er leicht überrascht. Noch weniger Beobachtungsgabe bewies ein österreichisches Touristenpärchen kurz nach dem Spiel. Gegen wen Bayern denn überhaupt gespielt hätte, fragten sie. Ich blickte kurz verdutzt rein und beschäftigte mich dann damit, meinen Schal zu richten.

Das Spiel aller Spiele
Die Zeit vor dem Samtagabend war vor allem dadurch gekennzeichnet, dass Mister J vor Angst beinahe zerfloss. Innerhalb von vier Jahren das dritte Finale zu verlieren war eine wohl kaum erträgliche Vorstellung - und dann noch gegen die Dortmunder! Diese, und vor allem auch ich, waren hingegen ungewöhnlich unaufgeregt. Jeder, den man traf und auch die Fanversammlung auf dem Trafalgar und Picadilly vermittelte den Eindruck höchster Gelassenheit. Alle genossen einfach das Erlebnis, die Stadt und den bisher erlangten Erfolg. Mich eingeschlossen. Wie schon vor dem Halbfinale herrschte die Einstellung: Das Finale ist absoluter Bonus. Wer heute Abend gewinnt, ist total egal. Hauptsache, ich bin dabei.
3 Stunden vor Spielbeginn begaben Mister J und ich uns vom Picadilly zum Hotel in Bloomsbury. Hier sollte das Finale innerhalb der deutschen Community geschaut werden. Die Ansammlung von Bayern- und vor allem Dortmundfans vor und im Gebäude machte klar: Wir waren nicht die einzigen, die dem Angebot gefolgt waren. Im zum Hotel gehörenden Pub wurden Bratwurst, Schnitzel, Pommes und sogar Kartoffelsalat verkauft. Der Conference Room war mit Luftballons in den deutschen Farben verhangen. Man gab sich alle Mühe, eine gute Location zu bieten - wenn auch das sehr noble Hotel und die Luftballons ein wenig fehl am Platze für ein Fußballspiel wirkten.
Schon weit vor dem Spiel machten wir so Bekanntschaft mit einer Gruppe Dortmunder Fans, die sich auch damit arrangieren konnte, mit Mister J einen Roten bei sich aufzunehmen. Bei Bier, Bratwurst und Fußballfachgesprächen stieg so langsam die Spannung ...
19.15 Uhr: 30 Minuten vor Anpfiff explodiert die Spannung dann aufs Unermessliche. Wir sitzen mittlerweile im Conference Room und schauen die deutschen Vorberichte. Englisches Bier und die Erwartung Bela Rethys tragen nicht unbedingt zur Beruhigung bei.
19.40 Uhr: Die Organisatoren haben inzwischen auf das englische Fernsehen umgeschaltet. Ein kurzer Grund zur Freude - doch dann wird Jürgen Klopp gezeigt, wie er auf der Trainerbank neben einem "Wembley Final" Schild sitzt. In diesem Moment wird mir auf einen Schlag klar: Das hier ist gerade Das Finale der Champions League. Das größte Spiel, das man sich im Vereinsfußball überhaupt vorstellen kann. Und Dortmund ist dabei. Ich bin dabei! Wenn ich vorher nicht nervös war, jetzt war ich es endgültig.
15. Spielminute: Jakub Blaszczykowski schießt gerade Manuel Neuer an. Wieder bleibt meine Faust auf halber Strecke in der Luft hängen. Verzweifelt frage ich mich, wie viele Sekunden uns wohl noch bleiben, um noch vor dem Pausenpfiff das 1:0 erzielen. Überrascht stelle ich beim Blick auf die Uhr fest: Es ist erst die 15. Spielminute. Jeder kennt dieses Gefühl, wenn der Schiri die erste Halbzeit abpfeifft und man sich fragt, ob überhaupt schon irgendetwas spannendes passiert ist. Heute ist es genau andersherum. Es ist schon so viel passiert, ich weiß gar nicht, wie ich noch weitere 75 Minuten aushalten soll. Vor allem, weil ich dank der Dortmunder Anfangsphase gemerkt habe: Hier geht heute etwas. Dortmund kann es tatsächlich schaffen und die beste Mannschaft der Welt schlagen. Ein Bewusstsein, dass das Spiel nicht langweiliger machte.
45. Spielminute: In den letzten 30 Minuten hat sich quasi alles ins Gegenteil gekehrt. Auf einmal hat Bayern die guten Torchancen, die Sorte von Torchancen, die nur ein Roman Weidenfeller verhindern kann. Gerade erst sprang der Ball von Mats Hummels Rücken auf den Fuß von Arjen Robben. Dieser schoss Roman geradewegs den Ball an den Unterkiefer. Herzstillstand. "Pfeif doch endlich dieses Spiel ab!" Gedanken, die ich vor 30 Minuten noch nicht hatte.
60. Spielminute: Riberys genialen Pass auf Robben nehme ich gar nicht wahr. Meine Erinnerung setzt erst ein, als Robben im linken Strafraum auftaucht. Er schafft es, den Ball an Weidenfeller vorbeizulegen. Dieser trudelt vor der Linie her, Marcel Schmelzer schlägt ihn weg. Ich atme beruhigt aus. NEIN! Doch nicht! Der Ball liegt auf einmal im Tor. Manzukic stand goldrichtig und hat ihn eingeschoben. Schmelzer hatte den Ball nicht mehr erreicht. Vor mir bricht die Hölle los. Die geschätzten 4 Bayernfans im Raum treffen sich in der Mitte zum Jubeln. Das erhitzt die Gemüter einiger zu betrunkener Dortmunder. Eine Prügelei kann gerade noch so verhindert werden. Jetzt ist auch in Bloomsbury Feuer im Spiel.
68. Spielminute: Reus wird steil in den Sechzehner geschickt und verliert den Ball gegen Dante. Ich winke schon ab als ich merke: Elfmeter?! Tatsächlich: Gündogan steht mit dem Ball in der Hand am Elferpunkt. Wieder winke ich ab. "Oaaah, Gündogan?!" Aber Gündogan versenkt den Ball eiskalt hinter Neuer und auch ich komme mal in den Genuss, zu jubeln. Die Freude ist aber schon jetzt nur halbgar. Längst hat sich die Leise Ahnung eingeschlichen "Das wird heute nichts mehr." Zu stark scheint Bayern nach der passiven Anfangsphase. Zu willensstark treten die Roten auf. Sie lassen keinen Zweifel daran, wer das Spiel hier gewinnen wird.
85. Spielminute: Unter meine böse Vorahnung mischt sich ein weiterer Gedanke: "Wenn die Bayern das jetzt noch verlieren, die täten mir ja schon fast leid." Böser Gedanke, denk sowas nie wieder!
89. Spielminute: Die ca. 20 Bayernfans im Raum treffen sich wieder zum Jubeln. Ich nicke anerkennend. Gerade hat Arjen Robben den Ball mit einer unglaublichen Weltklasse an Roman Weidenfeller vorbeigelegt. Eigentlich war die Situation schon geklärt, doch dann wird der Ball irgendwie von Ribery durchgesteckt, Robben legt binnen Sekundenbruchteilen gefühlte Kilometer zurück, steht vor Weidenfeller und schießt ihn unerwarteter Weise nicht an. Hatte ich gerade noch fest mit einer Glanzparade unsereres Schlussmannes gerechnet, sitze ich jetzt immer noch anerkennend nickend auf meinem Stuhl. "Das war weltklasse" höre ich mich zu Mister J. sagen.
Abpfiff: Klopp bringt noch Sahin und Schieber. Letzterer hat sogar noch eine gute Schusschance, die allerdings in den Armen Neuers landet - wie irgendwie alles heute Abend. Dann wird abgepfiffen. Die ungefähr 50 Bayernfans im Raum liegen sich feiernd in den Armen. Ich stehe jetzt hinter meinem Stuhl, stütze mich ab, trinke ein Bier und starre gedankenverloren auf den Bildschirm. Marco Reus liegt weinend auf dem Rasen. "Geh mal zum Friseur" denke ich und muss über mich selbst lachen. Dann läuft Roman Weidenfeller applaudierend und mit Tränen in den Augen über den Rasen. Dieses Bild wird mir wohl nie aus dem Kopf gehen. Ich höre Kehl ein Interview geben, sehe, wie unsere Spieler ihre Medaillen entgegen nehmen und schließe meinen Frieden mit dem Spiel.
Dann drehe ich mich um, gebe Mister J ein Bier aus und beglückwünsche jeden Bayernfan, der mir entgegen kommt - vor allen denjenigen, der beim 1:0 mit den betrunkenen Dortmunder aneinandergeraten ist und auf Schwarzgelb während des gesamten Spiels nicht mehr gut zu sprechen war. Auf meine Glückwünsche hin und die Worte, er solle auf solche Idioten nichts geben, gibt er mir die Hand und umarmt mich gefühlte Minuten lang. Ich merke: Hier steckt wirklich Leidenschaft im Spiel und er hätte mir wohl tatsächlich leid getan, hätte Dortmund das Spiel gewonnen. Auch wenn ein Traum geplatzt ist, schaffe ich es, mich mit den Bayern mitzufreuen.
Das schaffen leider nicht alle Dortmunder. Des Öfteren muss ich in den nächsten Minuten beobachten, wie Bayernfans, die den Dortmundern zum guten Spiel gratulieren wollen, mit Beleidigungen und Schubsern entgegnet wird. Viele Dortmunder weinen nach Abpfiff. Dies nach einer solchen Niederlage zu tun ist die eine Sache, dem Gegner mit Respekt zu begegnen die andere. Dortmund musste Samstag seit langer Zeit mal wieder ein Spiel verlieren und somit ein gestecktes Ziel verfehlen. Der Mannschaft wird das gut tun. Ich hoffe, auch die Fans lernen, damit umzugehen.

Scheißegal, scheißegal, scheißegal!
Eine gute Stunde nach Anpfiff sammeln wir uns langsam vor dem Hotel. Die ca. 20 Dortmunder, die wir schon vor dem Spiel kennengelernt hatten, Mister J und ich - ein Bayer unter Dortmundern, ein Sieger unter Verlierern, ein verwunderter Roter inmitten einer feierwütigen Meute. Mit "Scheißegal"-Sprechchören ziehen wir zusammen in die Tube-Station am Russell Square ein, kündigen uns singend an und versammeln uns vor einem der Fahrstühle, die zu den Gleisen herunterfahren. "Hinein, hinein!" brüllend entern wir diesen, drei junge Engländer unter uns, die von unserer Stimmung angetan sind, aber noch nicht recht wissen, worauf sie sich da eingelassen haben.
Im geschlossenen Fahrstuhl nehmen wir die 3 in unsere Mitte und stellen Folgendes klar: "Wer nicht hüpft, der ist ein Schalker!" Die drei machen den Spaß mit und singen alles mit, was wir vorlegen - auch wenn ich nicht glaube, dass sie auch nur ein Wort verstanden haben. Als einer von ihnen ein Manchester United Lied anstimmen will, wird ihm von den anderen zwei direkt der Mund zugehalten. Ganz geheuer scheinen wir ihnen also doch nicht zu sein.
Als wir dann allerdings die einfahrende Bahn mit einer Laola begrüßen, filmen nicht nur die 3 Engländer, auch der Bahnfahrer grinst sichtbar erfreut über diesen Empfang. Beim Ausstieg aus der Tube bedankt man sich überschwänglich für die tolle Fahrt. Vielleicht bekäme es England gut, wenn Dortmund öfters auf ein Match vorbeikäme - auch wenn der ein oder andere Einheimische etwas verstört wirkte, ob der tanzenden und singenden Meute im Zug.
Auf den Rolltreppen an die Oberfläche am Picadilly Circus kommen uns dann die ersten Bayernfans entgegen. Stillschweigend und müde betrachten sie unseren Feiertross. "Und schon wieder keine Stimmung, FCB!".
Das Verlassen der Tube wird dann noch einmal gebührend gefeiert. Zur Freude vieler Engländer, die direkt die Kamera zücken und zum Verdutzen einiger Bayernfans starten wir vor den Einlassschleusen zur Station eine Humba. Einen Engländer freut es ganz besonders. Dieser startet direkt im Anschluss Jürgen Klopp-Gesänge, er erzählt mir nachher er sei Chelsea-Fan und hasse Bayern. Irgendwie kommt mir das bekannt vor.



Auf dem Picadilly Circus treffen sich beide Fanlager. Beide stehen nebeneinander und versuchen sich gegenseitig mit ihren Humbas zu übertönen. Der Umgang ist friedlich. Man freut sich einfach miteinander, übereinander. Auch wenn es ein Bayer ist, der als erster die Statue erklimmt und über den Dortmundern steht: Lauter singen tun doch wir.
Mister J trägt inzwischen einen Dortmundschal über seinem Bayerntrikot. Man hat den Eindruck, die ungebrochene Feierstimmung der Dortmunder hat ihn doch ein wenig davon überzeugt, welcher Verein der wirklich bessere ist.
Als sich unsere Gruppe langsam auflöst, beschließen wir, zu schauen, was am Trafalgar Square noch los ist. Unsere Erwartungen einer noch größeren Fanparty werden allerdings enttäuscht. Der Platz ist leer, das Gelände größtenteils abgezäunt. Entweder sind wir an der wirklichen Party vorbeigelaufen, oder die englische Polizei hat es wirklich geschafft, größere Aufläufe möglichst schnell zu zerstreuen. Da wir eh zusehen müssen, nicht die letzte Bahn zu verpassen, geht es zurück nach East Ham. Ein grandioser Abend liegt hinter uns - obwohl der eine das größte Spiel der letzten Jahre soeben verloren hat.

Dienstag, 28. Mai 2013, 10.20 Uhr
Die Reise nach London war gemütlich ausgeklungen. Montag Abend landeten wir wieder in Weeze, übernachteten aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit in einem Hostel direkt am Flughafen. Schon um 7 Uhr morgens hatten wir dann den Weg zurück nach Hause angetreten.
Nun stehe ich in der Uni und halte in meinem Seminar ein Referat über die Würde nichtmenschlicher Lebewesen. Während mein Referatspartner redet, merke ich, wie ich vor Müdigkeit schwanke. Als ich selbst rede, schaffe ich es kaum, Sinn in meinen eigenen Worten zu finden. Anschließend bekomme ich das erste mal in meinem Leben Nasenbluten. Die Normalität ist also in all ihrer Wucht wieder eingetreten. Das einzige, was mich noch an das Wochenende erinnert, ist ein Dortmund-Schal, der an meinem Rucksack hängt und die Erkenntnis, dass ausgerechnet jemand, der die Champions League nur von Hören-Sagen kennt, von Anfang an Recht gehabt hatte:


Der Tottenham-Fan, der uns schon vor der Abreise sagte: Es ist immer sonnig in London. Selbst in den dunkelsten Zeiten.
KOMMENTARE
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redwhitepassion
19.06.2013 | 15:13 Uhr
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19.06.2013 | 15:13 Uhr
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Klasse dein Blog ist ganz großes Kino... Hat mir wirklich sehr gut gefallen und gut 4 Wochen an dem Spiel immernoch für Gänsehaut gesorgt!

10 Punkte
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Raccoon
03.06.2013 | 20:15 Uhr
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Raccoon : 
03.06.2013 | 20:15 Uhr
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Raccoon : 
Super Blog :)
Die Humba auf dem Video hatte ich leider verpasst, als ich aus der Tube gekommen bin war sie gerade zu Ende, aber da kommen die ganzen schönen Erinnerungen von vor 2 Wochen wieder hoch ;)
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robbery47
03.06.2013 | 18:03 Uhr
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robbery47 : 
03.06.2013 | 18:03 Uhr
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robbery47 : 
Klasse Blog! Das "Feeling" von dem Spektakel in London ist gut rübergekommen. Man konnte sich gut in deine Situation hineinversetzen.

10 Punkte!
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RoterBulle92
02.06.2013 | 19:29 Uhr
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02.06.2013 | 19:29 Uhr
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Toller Blog! Beneide jeden, der in London dabei war
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dirk45
31.05.2013 | 21:37 Uhr
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dirk45 : 
31.05.2013 | 21:37 Uhr
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dirk45 : 
Ich würde auch gerne 10 Punkte geben, aber irgendwie funzt es nicht. Toller Blog, der zeigt, dass trotz allem Fußball größer ist als der einzelne. Ich wünsche allen Fans auch morgen, dass man einfach ein tolles Spiel genießt, traurig ist, wenn der eigene Verein verliert, jubelnd, wenn der eigene gewinnt, aber den Gegner respektiert.
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ausLE
MODERATOR
31.05.2013 | 19:49 Uhr
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ausLE : 
31.05.2013 | 19:49 Uhr
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ausLE : 
ü-ber-ra-gend!

Nicht nur der Blog an sich, sondern auch die Tatsache, daß sich einige der historischen sportlichen Situation bewußt waren. Und du beweist es ja mit dem Blog!
Auch die Hinweise für den Touri sind nicht verkehrt

Alles in allen verdiente 10 Punkte und ein Platz auf der Startseite!
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Spitzie_Woodsmoke
31.05.2013 | 14:31 Uhr
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31.05.2013 | 14:31 Uhr
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Danke für das viele Lob erstmal :)

Die anwachsende Zahl der Bayernfans während des Spiels sollte betonen, wie die anfangs erdrückende zahlenmäßige Überlegenheit der Dortmunder Fans während des Spiels umgekehrt wurde. Auf einmal feierten die zuvor stummen Bayern und die Dortmunder verkrochen sich schweigend in ihren Stühlen - kurzzeitig jedenfalls.

Ich muss aber zugeben, dass mir dieses harmonische Verhältnis zu Bayern selbst neu ist. Normalerweise ist mir das das Bild, das der Verein sich ja auch teilweise selbst gibt, nicht sehr sympathisch. Ich bin auch kein Fußballpatriot ("Hauptsache, ein Deutscher Verein gewinnt!!!")Ich weiß also nicht, wie lange diese positive Attitüde anhält. Für den Moment in London war es aber einfach schön, zusammen zu feiern und den Erfolg beider Mannschaften zu genießen, anstatt sich gegenseitig zu bekriegen. Vor allem, weil man in London einen riesigen Haufen an Fans getroffen hat, die mit dem stereotypischen Bayern-Erfolgsfan nichts gemeinsam haben und das Spiel genauso leidenschaftlich begleitet haben wie die Dortmunder.

Und sympathischen Typen wie Jupp oder Gomez gönnt man so einen Erfolg einfach - unabhängig vom Verein.
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trinity
31.05.2013 | 14:24 Uhr
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trinity : 
31.05.2013 | 14:24 Uhr
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trinity : 
Toller Blog 10 Punkte

So wünscht man sich das doch, das beide Fanlager, mit kleinen Sticheleien, untereinander auskommen und zusammen das Spiel verfolgen können.
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rasenmäher
31.05.2013 | 12:54 Uhr
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31.05.2013 | 12:54 Uhr
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10 punkte für den blog eines fußballfans, über eine tolle geschichte die er ausgerechnet mit einem fußballfan des anderen lagers erlebt hat.



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kloptesrein
31.05.2013 | 12:31 Uhr
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31.05.2013 | 12:31 Uhr
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Ein träumchen. Wunderbarer Blog! Weltklasse geschrieben

Genauso, wie die Kellner in einem kleinen Cafe am Covent Garden, die uns einen kostenlosen Tee im Tausch für unsere Wembley-Tickets boten. Unser Gegenangebot, ihnen einen Tee zu machen, wenn sie uns Tickets beschafften, nahmen sie leider ebenfalls nicht an

Der Brüller schlechthin

glatte 10! Bravo,weiter so!
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