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WM 2014


Gründer: Voegi | Mitglieder: 30 | Beiträge: 7
11.07.2014 | 11396 Aufrufe | 15 Kommentare | 20 Bewertungen Ø 9.6
Deutschland vor dem WM-Titel
Der lange Weg zum Olymp
Eine Darstellung


Nach der EURO 2000 lag der deutsche Fußball in Trümmern. Die Fehlentwicklung hatte bereits zuvor einen schleichenden Prozess eingeschlagen. Klinsmann erneuerte, Löw führte die Linie fort - trotz Gegenwind. Am Sonntag können sich 24 Jahre in erlösende Erfüllung kehren.


Mit ausgebreiteten, leicht angewinkelten Armen baute sich Rudi Völler vor der deutschen Fan-Kurve auf. Der Teamchef der Nationalmannschaft legte den Kopf zur Seite und presste die Lippen zusammen. Ein schwerer Seufzer löste die Anspannung aus den Gliedern, schlaff plumpsten sie danieder. Es war eine Geste der totalen Ernüchterung, und sie sollte so viel bedeuten wie: Tut mir leid, wir wollten ja, aber wir konnten nicht.

Um seine Fassung musste Völler nicht ringen an diesem Frühlingsabend in Lissabon. Die Etikette hatte er gewahrt, jederzeit, aber wie es in ihm gärte, das verrieten seine Reaktionen relativ rasch und relativ deutlich. Als "unbefriedigend und ungenügend" stufte Völler das erneute Vorrunden-Aus bei einer Europameisterschaft ein, in der Nacht nach dem 1:2 gegen eine tschechische B-Elf warf er resignierend das Handtuch. Der deutsche Fußball war so klug als wie zuvor.

Torwart Oliver Kahn, der bereits das blamable Scheitern bei der EURO 2000 hatte durchstehen müssen, erkannte immerhin einen positiven Aspekt. Vermutlich den einzigen. "Vor vier Jahren sind wir als Mannschaft zusammengebrochen", sagte Kahn. "Diesmal nicht."

Ausnahmsweise irrte der Kaiser


Es reicht freilich nicht, die Klammer vor dem Turnier in Holland und Belgien anzusetzen; man muss sie weiter fassen. Als Deutschland 1990 zum bisher letzten Mal Weltmeister wurde, war das kein kalkulierbarer Erfolg, das ist er nie. Aber der dritte Titel war so etwas wie die Konsequenz einer Entwicklung: Europameister 1980, WM-Zweiter 1982, WM-Zweiter 1986, EM-Halbfinalist 1988, beim Turnier im eigenen Land. Das Fahrwasser, in dem das DFB-Boot schipperte, war selten ruhig und mitunter turbulent. Es gipfelte in wilden Wellenschlägen und der Inthronisation des Kaisers, der nie Teamchef sein mochte. Und doch wurde Rom zur Krönung, auch Franz Beckenbauer fand auf dem Rasen des Olympiastadions seinen Frieden.

Er sagte nur diesen einen verhängnisvollen Satz, und wäre absehbar gewesen, wie lange er ihm nachhängen sollte, wäre Beckenbauer wohl weniger endorphingesteuert gewesen im Augenblick des Triumphes. "Wenn jetzt die Spieler aus dem Osten dazukommen", gluckste er also, die Goldmedaille vom Hals baumelnd, "dann wird Deutschland auf Jahre hinaus unschlagbar sein."

Ausnahmsweise war der Kaiser im Unrecht. Dem verlorenen EM-Finale 1992 gegen den krassen Außenseiter Dänemark folgte eine WM 1994, die Effenbergs Finger und Letchkovs Kopfball als prägendste Monumente konserviert hat. 1996 raffte sich die DFB-Auswahl noch einmal zum Europameistertitel auf, dank eines überragenden Sammer und Bierhoffs Glücksmoment gegen Tschechien. Als Bundestrainer Vogts den Pokal von Queen Elizabeth II. entgegennahm, ahnte niemand, welch zehrende Durststrecke den besten deutschen Fußballspielern und seiner Dachmarke bevorstehen würde.


Als die Elite keine Elite mehr war


In den späten Neunzigern gehörten die traditionellen "deutschen Tugenden" zum Standardrepertoire schwarz-rot-goldener Fußballlehre: Einsatzwille, Kampfgeist, Leidenschaft, Aggressivität und Ausdauer, das waren Schlagwörter, die wie Vokabeln reflexartig abgerufen wurden. Die Attitüde erschien plausibel, sie diente dem DFB über Jahrzehnte als Fundament. Dass der weltgrößte Sportverband damit einem Trugschluss aufsetzen würde, war ein Prozess, der sich häppchenweise offenbarte.

Im Jahr 2012 hielt Joachim Löw ein Plädoyer für die Einmottung der vielgerühmten Elemente. Vielleicht müsse man "langsam den Mut aufbringen, im Zusammenhang mit deutschen Tugenden von technisch guten und hervorragend ausgebildeten Spielern zu sprechen", sagte Löw, und die Beobachter nickten eifrig. Rund um die Jahrtausendwende dachten sie konträr - weil der Erfolg als ehrlichstes Zahlungsmittel diente. Erschwerend kam nämlich hinzu, dass die zweite Schiene eine Illusion der Konkurrenzfähigkeit erzeugte.

Parallel zum schleichenden Sinkflug der Nationalmannschaft hatten sich deutsche Vereinsteams in der internationalen Spitze etabliert. 1996 holte der FC Bayern den UEFA-Cup, 1997 wurden Schalker zu Eurofightern und Dortmunder zu Europas Königen. 1999 träumte Bayern vom Triple und starb den Sekundentod, 2000 gewannen die Münchner drei von vier Spielen gegen Real Madrid. 2001 schließlich waren sie am Ziel und Zenit, 2002 eroberte Leverkusen viele Herzen, aber keine Pokale, im selben Jahr verlor Dortmund das UEFA-Cup-Finale. Trainer war Matthias Sammer, der Europameister.

Kurzum: Auf Vereinsebene nahm Deutschland dominante Rollen ein, ob nun magisch oder tragisch, schien dabei fast sekundär. Dass die Konstanz mit vielen ausländischen Akteuren bewerkstelligt wurde, dass kaum gute, junge Deutsche nachrückten, dass die Nationalmannschaft bald einen Mangel an brauchbaren Talenten beklagte - das alles erkannte man viel zu spät. Im Grunde erst, als auch die Vereinsmannschaften in eine Talsohle gerieten. Ganz sicher allerdings, als die Elite des Landes keine Elite mehr war.

"Eine Schande, was wir geleistet haben"

Mit einer heillos überalterten Mannschaft wurde Deutschland bei der WM 1998 aus dem Turnier gekegelt. Es war das Ende für Berti Vogts. Unter Erich Ribbeck, der immer so aussah wie frisch aus dem Südsee-Urlaub kommend, erlebte der Ex-Weltmeister seine dunkelsten Phasen. Der Fußball war antiquiert, zurückgeblieben, klobig. Der Fußball war deutsch, und das verhieß plötzlich Böses.

Es war im Frühjahr 2000, als der Bayern-Profi Jens Jeremies in einem Interview mit dem Kicker ordentlich Frust abließ, wie eine schnaubende Dampflock. "Wenn man die deutsche Nationalelf in den vergangenen Jahren sieht: Wann hat sie ein begeisterndes Spiel abgeliefert? Es hat sich nichts geändert oder gar gebessert. Warum entwickelt sich da nichts?", fragte Jeremies in einer Melange aus Rhetorik und Zorn. "Vielleicht hätten wir in Holland wirklich 0:5 verlieren müssen, damit auch dem Letzten die Augen geöffnet werden, wie der Zustand der deutschen Nationalelf ist", schäumte der Defensivallrounder. Die Antwort lieferte er gleich selbst: "Jämmerlich!"

Jeremies' Generalabrechnung löste ein Beben mittlerer Stärke aus. Fußball-Deutschland war aufgeschreckt. Die EURO 2000 stand vor der Tür, man reiste als Titelverteidiger an, doch die Nationalelf besaß keine Kontur und keine Klasse. In einem Spielertreffen zur Geisterstunde sollte Bundestrainer Ribbeck gestürzt und durch Lothar Matthäus ersetzt werden. Der Putsch misslang. Libero Matthäus stand mit 39 Jahren einer Truppe vor, die den deutschen Fußball in eine schlimme Identitätskrise manövrierte. 1:1 gegen Rumänien, 0:1 gegen England, 0:3 gegen die zweite Garde der Portugiesen. Franz Beckenbauer, eine Dekade zuvor Weltmeistermacher, grantelte von "Rumpelfüßlern". Kahn konstatierte: "Es war eine Schande, was wir für Deutschland geleistet haben."

Der Korrespondent des Kicker analysierte den peinlichen Portugal-Auftritt folgendermaßen: "So einfallslos, so bewegungsarm, nach dem Rückstand so lethargisch hat man kaum eine deutsche Nationalmannschaft über 90 Minuten hinweg erlebt." Jeremies fehlte übrigens verletzt.


Radikaler Richtungswechsel


Der deutsche Fußball lag am Boden. Platt wie eine Flunder, jahrelang hinabgewirtschaftet und niedergemetzelt. Epochale Rückstände in Tempo, Technik, Taktik, keine Blutauffrischung, keine Perspektive. Auf Jahre hinaus, diese kaiserliche Weisheit wedelte wie ein Bumerang retour. Und sie traf. Aber diesmal vollendete der Volksmund so: auf Jahre hinaus chancenlos.

Mit Rudi Völler keimte das zarte Pflänzchen auf Renaissance, vor allem jedoch erkannte der DFB die Notwendigkeit zur Not-OP. Der damalige Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder initiierte ein Nachwuchskonzept mit verpflichtenden Jugendleistungszentren für alle Bundesligisten, das ursprünglich von Berti Vogts ausgearbeitet worden war. An die konkrete Umsetzung hatte sich der DFB zu Vogts' Zeiten nicht gewagt; erst jetzt, als der Karren endgültig im Dreck steckte, wurde der radikale Richtungswechsel zur Doktrin.


Das Synonym des Vizeweltmeisters


Kreativköpfe, Künstler gar, waren in der Nationalmannschaft ein rares Gut. Mehmet Scholl stoppten die Verletzungen, Mario Basler scheiterte an Egozentrik und Lebenswandel, Sebastian Deisler an Körper und Geist. So war es Michael Ballack vorbehalten, zum Retter des deutschen Fußballs aufzusteigen. Das passte, denn Ballack stolzierte federleicht über den Platz, manche sahen sich an den jungen Beckenbauer erinnert, andere nannten es schnöselig. Diese Eleganz, dieser aufrechte Gang, dieser Zug zum Tor! Ballack war ein Anker. Am Besten sollte er Sechster, Achter und Zehner gleichzeitig sein, hinten abräumen, im Zentrum einleiten und vorne seine eigenen Flanken verwerten. Der Anspruch an den auserkorenen Leader war groß, genau wie die Kritik, wenn er das Vakuum nicht in Personalunion zu stopfen vermochte. Natürlich nicht. Das Relegations-Rückspiel zur WM 2002 gegen die Ukraine wurde zum Brustlöser. Danach war Ballack als Anführer emanzipiert.

Mit Glück, den Paraden von Kahn und Ballacks entscheidenden Toren erreichte eine bestenfalls mäßig begabte Mannschaft das WM-Finale. Es war paradox, dass sie dort gegen die haushoch favorisierten Brasilianer ihre stärkste Vorstellung bot, und es war sportlich grausam, dass diese vom überragenden Spieler des Turniers konterkariert wurde.

Zwei Jahre durfte sich Deutschland hinter dem Synonym des Vizeweltmeisters verstecken, bei zähen Kicks auf den Färöern, einem Remis daheim gegen Litauen und dem legendären 0:0 in Island. Völlers Brandrede verschaffte dem Teamchef unangenehme Aufmerksamkeit und Waldemar Hartmann einen üppigen Werbevertrag. Dass Völler den Kern der Diskussion grandios verfehlt hatte - geschenkt. Noch.


Kahn, der Seher


Als der Teamchef am Abend des 23. Juni 2004 über den Lissaboner Rasen schritt, war das keine Reminiszenz an Beckenbauers beseelte Rom-Expedition. Völler wusste, dass der Ansatz fortan ein anderer sein musste. Dem DFB war wieder kein Sieg bei einer Europameisterschaft gelungen, der letzte datierte von 1996, Bierhoff, Golden Goal, Tschechien. Dass es just die Osteuropäer waren, die Pate standen für die abermalige deutsche Zäsur? Zufall, was sonst.

"Wir haben in den vergangenen zwei Jahren einige Defizite nicht beheben können", gestand Völler ein. Kahn, die Immer-noch-Nummer-eins, bewies Weitblick, als er anmerkte: "Es muss einiges passieren, wenn wir in zwei Jahren bestehen wollen."

Ob Kahn damit rechnete, dass auch seine Position zunächst entmachtet, schließlich umbesetzt werden sollte? Denn es passierte tatsächlich einiges. Es passierte: die Revolution. Es passierte: Jürgen Klinsmann.

Projektmanager und Mastermind

"Den ganzen Laden auseinandernehmen" wolle er, mit diesen markigen Worten begann der Welt - und Europameister seine Unternehmung als DFB-Teamchef. Klinsmann hatte den Schein in einem Schnellkurs für verdiente Nationalspieler erworben, aber das "Wie" interessierte sowieso keinen. Außerdem war der Schwabe zwar äußert überraschend, aber keinesfalls unvorbereitet in Amt und Würde gekommen. Die Öffentlichkeit neigt dazu, ihn, den ehemaligen Bäckergesellen, zu unterschätzen. Aber Klinsmann ist clever.

Bei besagtem Lehrgang hatte er Joachim Löw kennengelernt, einen soliden Ex-Profi, der nie große Karriere gemacht hatte. Zum Freiburger Rekordtorschützen hatte er es gebracht, als Coach war er mit Stuttgart Pokalsieger geworden, 1997, und in Tirol österreichischer Meister, 2002. Der Rest: Überschaubar. Stationen bei Fenerbahce, Adanaspor, Austria Wien, mit dem KSC aus der 2. Liga abgestiegen. Kein Mensch scherte sich im Sommer 2004 um das Trainer-Schicksal des Joachim Löw. Keiner, außer Jürgen Klinsmann.

Seit er ihm Sinn und Funktionsweise der Viererkette anschaulich erklärt hatte - in einer Zeit, als der darbende DFB-Tross mit dem Libero Matthäus von einer Verlegenheit in die nächste stolperte -, seitdem war der Schwabe Klinsmann vom Badener Löw angetan. Er war sein Wunschkandidat als Assistenzcoach bei der Nationalmannschaft. Und weil Klinsmann seinen Willen durchzusetzen pflegt, bekam er, was er wollte - auch wenn Beckenbauer lieber den erfahrenen Holger Osieck neben dem Erneuerer gesehen hätte.

"Klinsmann war der Projektmanager, Löw das taktische Mastermind im Hintergrund", beschrieb der Tagesspiegel die Aufgabenverteilung. In der öffentlichen Wahrnehmung, hauptsächlich durch den Sommermärchen-Film hervorgerufen, trat Teamchef Klinsmann als Motivator auf, während Löw für die strategische Ausrichtung bürgte. In Wirklichkeit aber war das Wechselspiel der beiden ein harmonischer Durchfluss, der sich perfekt zur Symbiose ergänzte.

Erntezeit


Das Trainer-Duo beschritt den Pfad der Zukunft. Schon in Völlers Endphase, kurz vor der EURO 2004, hatten mit Philipp Lahm, Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger drei blutjunge Teenager im A-Team debütiert. Zehn Jahre ist das her, und weil alle drei noch immer dabei sind, im Fall von Lahm und Schweinsteiger als tragende Säulen, ist von einer Generation die Rede. Die Saat legte Vogts mit seiner Idee der Leistungszentren; Verfeinerung, Ausweitung und praktische Implementierung oblagen Klinsmann und Löw; die saftigen Früchte erntete der Bundestrainer Löw ab 2006.

"Es gibt eine geänderte Philosophie bei den Trainern, die bereit sind, junge Spieler in die Verantwortung zu schicken. Sie haben dieses Vertrauen zurückgezahlt. Und das ist in der Nationalmannschaft auch so", lobte Reinhard Rauball im vergangenen Jahr bei bundesliga.de. Die Statistik bestätigt den Liga-Präsidenten: Zur WM 2010 entsandte der DFB die drittjüngste Mannschaft aller Teilnehmer sowie die zweitjüngste der eigenen Historie. Bei der EURO 2012 stellte Deutschland mit einem Durchschnittsalter von 24,39 Jahren die jüngste Truppe überhaupt.

Auch das hat seinen Grund: Bevor Sammer nach München wechselte, kurbelte er als DFB-Sportdirektor die Nachwuchsförderung an. Im Jahr 2009 gewannen deutsche U-Teams alle kontinentalen Titel. Die U 17, die U 19 und besonders die U-21-Junioren mit dem Kapitän Sami Khedira, dem Abwehrchef Jerome Boateng und dem Spielgestalter Mesut Özil. Der Schwall an nachdrängenden Talenten scheint unaufhaltsam. Inzwischen fällt es eher schwer, die Flut gewinnbringend zu kanalisieren.

Modernes Deutschland


An den "tiefsten Tiefpunkt" (Völler, 2003) reihte sich eine Phase des Aufschwungs. Der Konjunkturmotor stotterte, allmählich sprang er an. Und erneut erstreckte sich die Spirale auf mehrere Bereiche. 2009 stieß Werder Bremen ins UEFA-Cup-Endspiel vor, dann bestritten die Bayern in vier Jahren drei Champions-League-Finals und holten 2013 das nach, was ihnen 1999 entrissen wurde. Borussia Dortmund mauserte sich zum zweiten German-Global-Player, und die Nationalmannschaft entpuppte sich zu Mitte des Jahrzehnts als Deutschlands liebstes Kind. Ein wundersames Comeback. Bei der WM 2006 verkündete der vom Stürmer zum Manager umgesattelte Bierhoff freudig: "Die Welt hat wieder Angst vor uns!"

Heute schauen (frühere) Top-Nationen durchaus neidisch nach Deutschland; wegen des riesigen Fundus' an Personal, aber auch aufgrund der Spielweise, die moderne Ansprüche bündelt: Ballbesitzorientierung, teils extremes Pressing, technische und taktische Finesse. Die leidlichen deutschen Tugenden - Kraft, Konzentration, Physis - dienen als Basis, nicht länger als Definition. Der Erfolg ist das Produkt der Attribute.

Anfang 2006 lag Deutschland in der Weltrangliste auf Rang 22. Deutschland! Auf Rang 22! Die Heim-WM änderte vieles. Anschließend war das DFB-Team nie schlechter als Sechster, größtenteils Zweiter oder Dritter. Löw wurde zum logischen Nachfolger von Klinsmann befördert, weil beide ähnliche Ideale vereinen. Sie bevorzugen das offensive, direkte und dynamische Spiel, laufintensiv und auf maximale Variabilität getrimmt. Löws Präferenzen für kleinere, dafür wendige (Offensiv-)Spieler erinnern an jene von Bayern-Coach Pep Guardiola. Dazu hat der Badener den eingeschlagenen Weg stringent fortgeführt: Hahn, Lasogga, Mustafi und Ginter waren seine Debütanten 60 bis 63. Auf der Gegenseite wurde er mit Spieler-, speziell Stürmertypen vom alten Schlag (Kuranyi, Kießling, Gomez) nie vollends warm. Die Formel ist simpel: Keine Systemkompatibilität - keine Systemrelevanz.

Nicht nur Sonnenschein seit dem Sommermärchen


Löw hat präzise Vorstellungen von seinen Vorhaben, er will das attraktive Spiel. Seine Devise gewährte Angriffsflächen, trotz der besten Bilanz aller Bundestrainer waren die acht Jahre ein steter Balanceakt. Mal pfiff das Hamburger Stadion, weil Deutschland in einem Freundschaftsspiel nicht brillierte. Mal wurde Gomez zur Zielscheibe, wenn Bälle vom Fuß sprangen, mal Özil, wenn ihm Phlegma angekreidet wurde. Podolski ohrfeigte den Capitano, die ARD sendete einen "Brennpunkt" zum Knöchel der Nation, Lahm okkupierte die Binde und Löw widersprach nicht. Kuranyi beging Fahnenflucht, Binnenkonflikte belasteten das Betriebsklima. In regelmäßigen Abständen wurden zudem Klose die torlosen Minuten aufgelistet. Es war nicht immer Sonnenschein seit dem Sommermärchen, gewiss nicht. Im Herbst 2009 nahm sich Torwart Robert Enke das Leben.

In der WM-Qualifikation für 2014 gewann Deutschland alle Spiele, abgesehen vom irrwitzigen 4:4 nach 4:0 gegen Schweden. Eine dankbare Vorlage. Der Dilettantismus ließ die Hutschnur bei all jenen anschwellen, die Engstirnigkeit im Löw'schen Stigma festgestellt haben. Auf die Anklagebank strafversetzt, reagierte er souverän: "Natürlich müssen wir Defensive lernen, wenn es Unwägbarkeiten gibt. Wir müssen dann stabiler werden. Aber unseren Stil werden wir auch weiterhin beibehalten."

Die Zweifel wuchsen



Mit der Prinzipientreue hat Löw den Druck erhöht - in erster Linie auf sich selbst. Unter seiner Regie erreichte Deutschland ein EM-Finale (2008), ein EM-Halbfinale (2012) sowie ein WM-Halbfinale (2010). Titel sprang keiner heraus. Das Italien-Fiasko von 2012 hat die Qualitäten des Bundestrainers angezweifelt; durch fragwürdiges Coaching schüttete er kübelweise Wasser auf die Mühlen derer, die ihm Versagen in Alles-oder-Nichts-Partien vorwerfen. Wie 2008 und 2010 gegen Spanien, wie 2012 gegen Muskelprotz Balotelli. Wie 2014 gegen Argentinien?

Vielleicht hat Löw seine devote Zurückhaltung beim brasilianischen 7:1-Erdrutsch nicht zum Zwecke der Außendarstellung gewählt. Vielleicht war es das Zeugnis von Reife. Wer genau hinsah, erkannte eine Abkehr von der bedingungslosen Offensivpower. Das klingt abstrus bei sieben erzielten Toren gegen den Rekordweltmeister. Doch Löw hat an Stellschrauben gedreht, um nicht als titelloser Schönspieler in die Geschichtsbücher einzugehen. Deutschland agiert bei der WM effektiver, ökonomischer, erwachsener. Allein gegen Ghana kam der infantile Spieltrieb durch. Löw tobte vor Wut.

"Wir sollten es nicht zu hoch hängen", meinte er nach dem Husarenstück im Halbfinale. "Wir sind den tiefen Emotionen der Brasilianer begegnet mit Ruhe, Klarheit und Beharrlichkeit. Wir wussten: Wenn wir uns unserer eigenen Stärken bewusst sind, dann gewinnen wir."

Ein Schritt zur Unsterblichkeit

Als Klinsmann vor knapp zehn Jahren zum Dienst antrat, posaunte er mutig: "Wir wollen Weltmeister werden!" Als Löw 2006 zum Chef aufstieg, betonte er: "Es ist ganz klar mein Ziel, dass wir 2008 Europameister werden!" Es klappte nicht, dennoch sagte Rauball anno 2013, die Hochachtung vor dem deutschen Fußball sei "in einem Maße gestiegen, wie ich es nicht erwartet habe."

Letzten Dienstag ist die Hochachtung noch ein bisschen gen Himmel geschnellt. Allerdings auch die Fallhöhe. 10 Jahre nach Völlers Verbitterung, 14 Jahre nach der Aussicht auf ewige Tristesse, 24 Jahre nach des Kaisers Nachtwanderung. Am Sonntag kann Joachim, genannt Jogi Löw, als vierter deutscher Trainer nach Sepp Herberger, Helmut Schön und Franz Beckenbauer in den geweihten Olymp eintreten. Als Weltmeister.

Er sagt: "Die Mannschaft ist geerdet. Ich glaube zu erkennen, dass sie bereit ist, das Finale zu gewinnen."


Bildquelle: spox.com

KOMMENTARE
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Schnumbi
11.07.2014 | 21:15 Uhr
3
0
Schnumbi : 
11.07.2014 | 21:15 Uhr
0
Schnumbi : 
Selbst als NICHT-Fan der N11 muss ich sagen ein grandioser Blog hier und hat Spaß gemacht zu lesen.
3
jimmorrison
11.07.2014 | 21:04 Uhr
4
0
11.07.2014 | 21:04 Uhr
0
Ich muss auch gratulieren. Wunderbarer Blog.

Es wäre so schön, wenn wir das Ding am Sonntag holen.

Für uns selbst.

Für diese bezaubernde Generation an Fussballern.

Für Jogi. Für Jürgen.Für Sammer. Und für Berti.
4
RoyRudolphusAnton
11.07.2014 | 18:13 Uhr
0
0
11.07.2014 | 18:13 Uhr
0
Das scheitert leider an meiner Vorstellungskraft Trotzdem - oder deswegen - vielen Dank!
0
Maxi_FCB
11.07.2014 | 17:50 Uhr
6
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Maxi_FCB : 
11.07.2014 | 17:50 Uhr
0
Maxi_FCB : 
Wow. Wahnsinn. Was ein Blog. Das ist das allerbeste, was ich seit langem auf mySpox gelesen habe.
Wenn du den Text nicht als Blogger, sondern als Praktikant/Redakteur gebracht hättest, wären dir 100 Kommentare + X sicher gewesen. Und das hätte dieser Blog aber sowas von verdient.

Leider kann ich nicht mehr als 10P geben. Stell dir einfach vor, ich sei Joachim Llambi
6
Voegi
MODERATOR
11.07.2014 | 16:06 Uhr
7
0
Voegi : 
11.07.2014 | 16:06 Uhr
0
Voegi : 
wunderbar, ist das wunderbar. eine perle von einem blogbeitrag. danke, roy!
7
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