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FC Bayern München


Gründer: Tobi | Mitglieder: 965 | Beiträge: 253
19.07.2013 | 37645 Aufrufe | 26 Kommentare | 19 Bewertungen Ø 9.5
Carsten Jancker
Meine Glatze, mein Tor, mein Ring
Ein langer Text über einen "großen" Bayern-Spieler






Für viele war sein Name ein Synonym des deutschen Rumpel-Fußballs. Für andere war er eine Ikone. Carsten Jancker: Sechs Jahre Bayern, auf ewig der Fußballgott. Ein Portrait über den Sport hinaus.



Ein halber Zentimeter. Mehr war es nicht, was fehlte. Nur dieser halbe Zentimeter, der weniger ist als ein Quäntchen, eine Nuance bestenfalls. Behauptet zumindest einer, der es wissen muss. Weil er dabei, weil er beteiligt, weil er ausschlaggebend war. "Wenn ich den Fallrückzieher einen halben Zentimeter anders erwische", sinniert also Carsten Jancker, "dann geht er rein und wir gewinnen die Champions League."

Jancker hat etwas, was man gemeinhin einen trockenen Humor nennt. Es gibt da diese wunderbare Anekdote aus Wiener Tagen, wo er, der Mecklenburger, seine ersten fußballerischen Sporen einheimste. Wie er denn zurechtgekommen sei mit den Gepflogenheiten, so als Ossi in Austria, wurde Jancker einmal gefragt. Der Fußballer senkte seinen Blick auf den Gegenüber herab und überlegte kurz. Anschließend entwickelte sich ein interessanter Dialog. Er meinte, sich rasch in eine Wienerin verliebt zu haben.

Wer war die Wienerin?
Sie war die Sekretärin vom Rapid-Manager. Aber wir haben erst mal eine Weile versucht, das geheim zu halten.
Wie lange?
Vier oder fünf Monate. Man weiß ja am Anfang nicht, was daraus wird. Und wenn alle gleich Bescheid wissen, ist das insbesondere für die Frau nicht so angenehm.
Wie sind Sie schließlich aufgeflogen?
Wir haben die Leute zu unserer Hochzeit eingeladen.

Seine sportliche Hoch-Zeit feierte Carsten Jancker sechs Jahre lang. Eigentlich waren es fünf, denn hinten raus trübte die nahende Scheidung mit unverkennbaren Anzeichen die Stimmung. Wie das eben so ist, wenn man feststellt, dass eine Ehe zerbricht.

Von 1996 bis 2002 spielte Jancker in den Farben des FC Bayern München. Er stach heraus, zuallererst anatomisch. Der Größte war er, 193 Zentimeter hoch. Als ob dies nicht gereicht hätte, um aufzufallen, trug er eine Glatze, die vor jedem Spiel einer adäquaten Rasur unterzogen wurde. Es sind die Ingredienzen eines Kult-Kickers, noch bevor er das erste Mal gegen den Ball tritt. Und als dieses bullige Unikat auch noch zum Ritual erhob, jeden persönlichen Torerfolg mit einem prompten Kuss des Eherings zu begehen, schloss ihn München ins Herz. Die Fans verehrten ihn.

Wenn der Stadionsprecher einen Treffer des haarlosen Hünen verkündete, brüllte die begeisterte Anhängerschaft innbrünstig "Fußballgott", sozusagen als ungeschriebener Namenszusatz, der in keinem Ausweis Platz hatte. Freilich, normalerweise huldigt das Plenum demjenigen, der sich zwar redlich bemüht, aber in seinen Fähigkeiten limitiert ist. Ironische Anspielungen also auf Janckers beschränkten Aktionsradius? Vielleicht, aber wer will einem dann vernünftig erklären, warum die Fans ihren "Fußballgott" der Generation 2013 im gewiss nicht unbegabten Bastian Schweinsteiger gefunden haben?



Carsten, Telefon!



Gemessen an gegenwärtigen Prinzipien wirkt der Fußballspieler Carsten Jancker wie ein Abriss einer antiken Epoche. Und wahrscheinlich ist er es auch. Man müsste schon viel Phantasie aufbringen, um sich die kahlgeschorene Speerspitze neben den wuseligen Götze, Özil, Reus vorstellen zu können. Was allerdings ein durchaus netter Denkansatz ist: Wie Jancker versucht, mit staksigen Ausfallschritten die Ballzirkulation zu bereichern, wie er rackert, kratzt, spuckt, beißt, stolpert, während ringsum mit spielerischen Finessen getrickst wird. Ein Bild für Götter. Und für Mario Gomez.

Doch auch so brachten es manche nie fertig zu verstehen, wie aus Carsten Jancker ein ernsthafter Kandidat für den FC Bayern und die Nationalmannschaft werden konnte, sollte, durfte. Für die meisten blieb er Zeit seiner Karriere ein Inbegriff des "Rumpel"-Stils, den der deutschen Fußball um die Jahrtausendwende mit sich herumschleppte.

Jancker kam aus Grevesmühlen in der DDR, er war von mächtiger Statur und überschaubarem Talent. Aber er erkannte früh, mit koscherer Einstellung mehr erreichen zu können als andere. So diente sich der Koloss hoch, von der TSG Wismar in die Jugendabteilung zu Hansa Rostock und weiter nach Köln. Es waren Jahre der Entbehrung, der Demut und der harten Arbeit. Jancker erzählt: "Sechs Uhr aufstehen. Sieben Uhr Schulbeginn. Halb elf Training. Mittagessen. Zu Fuß zur Schule. Wieder Training, dann bist du um sechs Uhr zu Hause und musst noch Hausaufgaben machen. Und das alles alleine. Das müssen Sie heute mal mit einem Zwölfjährigen versuchen." Dass die Mühen möglicherweise umsonst sein würden, blendete er aus. Der Wunschtraum vom Profi übertünchte jeden Anflug von Resignation: "Ich hatte die einmalige Chance, mein Hobby zum Beruf zu machen. Das war Motivation genug."





Am 9. Spieltag der Saison 1993/1994 debütierte Jancker für den 1. FC Köln in der Bundesliga, mit 19 Jahren und dem ersten Tor im ersten Spiel gegen den VfB Leipzig. Als seine Vorwärtstrieb im Rheinland stagnierte, ließ er sich zu Rapid Wien verleihen, wo er mit Toren am Fließband glänzte und durchstartete - sportlich wie privat. 1996 erreichte der Stürmer mit den Wienern sensationell das Finale im Europapokal der Pokalsieger, man unterlag Paris St. Germain 0:1, doch bald darauf klingelte im Hause Jancker das Telefon. Es war kein gewöhnliches Gespräch, denn am anderen Ende der Leitung meldete sich die germanische Fußballinstanz. Wenn Jancker das Ereignis heute schildert, offenbart sich wieder dieser Charakterzug der knappen Worte, der ihm früher gerne als Arroganz ausgelegt wurde.

Wie ist der FC Bayern an Sie herangetreten?
Franz Beckenbauer hat angerufen.
Beckenbauer?
Ja, eines Tages war er auf meiner Mailbox.
Haben Sie nicht geglaubt, dass es sich um einen Stimmenimitator handelt?
Erst schon. Aber beim zweiten Anruf habe ich gedacht, ich sollte vielleicht mal besser zurückrufen.

Jancker rief zurück. Und die Bayern zahlten bescheidende 777.000 DM. In München traf der jugendliche Neuankömmling auf eine zerstrittene Weltauswahl, genervt von Rädelsführer Lothar Matthäus, gepiesackt von Über-Ehrgeizling Oliver Kahn, gestresst von Diva Jürgen Klinsmann. Selbst Trainer-Maestro Giovanni Trapattoni dirigierte so manches mal vergeblich gegen die internen Reibereien an. Trotzdem reichte es zum Meistertitel, und Carsten Jancker erlebte dabei seine ganz persönliche Sternstunde. Im Derby wähnten sich die Löwen aufgrund doppelter Überzahl bereits wie der sicherer Sieger. Drei Minuten vor Ultimo aber rettete Joker Jancker neun tapfere Bayerlein mit seinem Premieren-Treffer in Rot. 3:3! Ein legendäres Finish.



Steigbügelhalter des Schicksals



Es dauerte nicht lange, bis sich der Novize Respekt verschaffte. Spätestens mit der Inthronisation von Ottmar Hitzfeld anno 1998 wurde er im Luxus-Kader zum etablierten Akteur. 2000 und 2001 kreierten die Titelgewinne Dokumente für die Ewigkeit. Die Milleniums-Meisterschaft hatte Jancker erst ermöglicht, indem er mit zwei schnellen Toren mithalf, Werder Bremen zu bezwingen. Als alle Blicke 14 Kilometer weiter nach Unterhaching wanderten, saß der verletzungsbedingt ausgetauschte Jancker in der Umkleide. "Gerade als ich aus der Dusche kam, fiel das zweite Tor für Haching. Da bin ich aus Aberglauben alleine in der Kabine geblieben und habe den Rest der zweiten Halbzeit im Fernseher geschaut. Ich habe gezittert vor Aufregung! Als bei uns Schluss war, bin ich rausgerannt. Das ganze Stadion hat vibriert, alle waren schon ganz besoffen vor Glück, es war großartig."

12 Monate später wurde die Dramatik in ungesunde Sphären getrieben. Hamburg, Patrick Andersson, der indirekte Freistoß, tausendmal gesehen, tausendmal gehört, tausendmal gefreut. Jancker: "Als Barbarez vier Minuten vor dem Ende traf, war alles in mir wie tot. Der Olli Kahn schrie zwar immer wieder: 'Noch vier Minuten, noch vier Minuten!', aber eigentlich war mir klar, dass wir die Meisterschaft verspielt hatten." Doch an diesem 19. Mai 2001 bekam der FC Bayern all das zurück, was ihm einstmals in Barcelona entrissen wurde. Der Glaube an den Sieg, bis zuletzt, hatte eine Gruppe von Individuen zusammengeschweißt und unter einer Prämisse vereinigt: Niemals aufgeben. Als auf Schalke schon die Korken knallten und die Bayern am Boden schienen, platt wie eine Flunder, nahm HSV-Keeper Schober einen Rückpass mit der Hand auf...

1999 fungierte kein gegnerischer Torhüter als Steigbügelhalter des Schicksals. Und die Bayern erweckten nicht den Eindruck, auf die Fügung höherer Gewalten angewiesen zu sein. Zu souverän präsentierten sie sich im Finale der Champions League. Manchester United, der Widerpart im Endspiel, war faktisch chancenlos. Es stand 1:0 für den deutschen Meister, Mario Basler hatte raffiniert getroffen, und die Uhr tickte für die Münchner. Da wuchtete Carsten Jancker plötzlich seine knapp zwei Zentner in die Horizontale, fixierte den Ball wie ein Raubtier seine Beute - und schoss blind aufs Tor. An die Latte. Was fehlte, war weniger als ein Quäntchen, eine Nuance bestenfalls.

Ein halber Zentimeter.



Die Schwere der Nacht lag beklemmend über den Spielern des FC Bayern München. An einem nagte sie besonders. Es war Jancker, dieser Mensch gewordene Baum, der so wirkte, als ob ihn nichts erschüttern und erst recht nichts entwurzeln könne. Aber nun, auf dem Feld in Barcelona, weinte Jancker bittere Tränen. Manager Uli Hoeneß musste ihn stützen, und kaum auf den Beinen, weinte Jancker wieder. Oder immer noch.

Das Geräusch, wenn Leder auf Aluminium prallt, verfolgte ihn lange. "Andere konnten damit besser umgehen. Ich nicht. Ich brauchte Monate, um es zu verdauen, habe wenig geschlafen. Meistens lag ich bis vier, fünf Uhr wach im Bett. Nicht durchgängig, mal war es drei Tage normal, bis die Gedanken an den Fallrückzieher wieder zurückkehrten." In der Retrospektive ordnet er die Geschehnisse, wie jeder Vertreter der damaligen Belegschaft, als Initialzündung ein: "1999", bemerkt Jancker, "erlebten wir eine der schlimmsten Niederlagen im Sport. Im Jahr danach standen wir im Halbfinale, scheiterten an Real Madrid. Das hat uns getrieben. So wie im Camp Nou gegen Manchester United verliert man nicht. Der Pott war unser Impuls. Jeder wusste: Mit 2001 ist diese Mannschaft fertig. Olli, Effe, Scholli, Giovane, vielleicht ich - alle hatten ihren Höhepunkt erreicht. Die Möglichkeit, es in der Besetzung zu schaffen, war vorhanden, aber es war klar, dass dies unsere letzte Chance sein würde."

Im Finale von Mailand wurde Jancker zur Pause eingewechselt. Fünf Minuten im Spiel, provozierte der den Handelfmeter, den Stefan Effenberg zum 1:1 versenkte. Als Torwart Kahn sich in die Annalen faustete, war auch Jancker am Ziel der Sehnsüchte angelangt. Und an seinem persönlichen Zenit. Bloß wusste er das im frenetischen Siegestaumel noch nicht.



Carsten Jancker spielte sechs Jahre für die Bayern. Als er kam, überboten sich die Überreste des vermeintlichen "Dream Teams" mit Zoff und Zankereien. Als er auf dem Höhepunkt harrte, dem der Mannschaft und seinem eigenen, gewann Bayern die Champions League, nach einem Vierteljahrhundert des Wartens. Als Jancker ging, befand sich der Verein an der Schnittstelle von der Ära Effenberg zur (erträumten) Ära Ballack. Da war sein schleichender Abstieg längst eingeleitet. Noch Ende der Neunziger funkelte Jancker, dieser mecklenburgische Leuchtturm, in der Münchner Angriffsreihe. Es war den Beobachtern stets ein Rätsel, wie er das fabrizierte, denn im Grunde hatte er nichts Außergewöhnliches an sich. Er war nicht so filigran wie Giovane Elber, nicht so wendig wie Paulo Sergio, nicht so geschmeidig wie Roque Santa Cruz, nicht so schnell wie Alexander Zickler, beileibe nicht so fintenreich wie Mehmet Scholl und nicht so variabel wie Hasan Salihamidzic. Im Kopfballspiel agierte er, trotz seines Gardemaßes, ergreifend harmlos. Rare Momente der Glücksgefühle nach Toren mit dem Schädel feierte Jancker daher besonders ausgelassen. Ungläubig über das Vollbrachte fasste er sich dann mit der flachen Hand an die Stirn, während Giovane Elber vor Lachen beinahe zusammensackte.

Überhaupt, Elber. Zusammen mit Jancker bildete er eines der erfolgreichsten Sturm-Gespanne in der Geschichte des FC Bayern. In Kooperation mit dem Brecher hatte der Brasilianer seine stärksten Auftritte. Die Nummer "9" und die "19" ergänzten sich formidabel. Und genau dort war die Daseinsberechtigung des Carsten Jancker primär verankert: Allein durch seine Präsenz schaufelte er Räume frei, die der emsige Elber zu nutzen verstand. Jancker war ein Schrank von einem Mann, er konnte Bälle abschirmen, verteilen und auflegen. "Der ganze Kerl ein Tunnelblick aus Ehrgeiz, Siegeswillen, Kraft. Ein Muskelklotz, der seine 93 Kilo mit Wonne in Zweikämpfe wirft", dichtete der "Stern" einmal ehrfürchtig.

Franz Beckenbauer, der Vieltelefonierer, bereute es wohl selten, seinerzeit die Nummer in Österreich angewählt zu haben. War er gut aufgelegt, segnete er die Jancker-Glatze sogar mit einem kaiserlichen Lob. Etwa jenem: "Er ist hierzulande eine Rarität geworden. Die anderen sind als Südamerikaner doch alle irgendwie gleich."

Manchmal wollte Jancker auch ein Südamerikaner sein. Denn es gab Phasen, da wurde aus dem Grobmotoriker ein Feingeist. Man hätte es ihm niemals zugetraut, die Kugel artistisch zu jonglieren oder sie sanft über den Torhüter zu heben, deshalb trugen solche Szenen einen Hauch von Zauber in sich. Wie Jancker etwa 1998 in Bochum zu einem Volleyschuss aus 25 Metern ansetzte und diesen mit Kraft und Technik in den Giebel drosch. Wie er 1999 in Kiew, beim Champions-League-Halbfinale, im Fallen, mit dem Rücken zum Tor das 3:3-Remis erzwang. Wie er sich 2000 gegen Real Madrid erneut an einem Seitfallzieher probierte und erneut krachend einnetzte. Das war weitaus mehr als das Produkt eines hölzernen Zwei-Meter-Riesen, der zu nichts weiter imstande ist als mit Robustheit den Räumdienst zu verkörpern. In seiner besten Saison 1998/1999 gelangen Jancker 13 Tore und neun Vorlagen in der Liga. Und als er im Herbst 2000 in Serie traf, adelte ihn Trainer Ottmar Hitzfeld überschwänglich: "Er ist einfach Weltklasse!"



Haare? "Nie wieder"



Nun, Superlative beherbergen den fiesen Faktor, sich schnell relativieren zu können. Bereits im Sommer 2001, nach dem Gewinn der Champions League, stand Jancker zum Verkauf. Er war dem Klub, der zunehmend ein sauberes Image proklamierte, nicht (mehr) sauber genug. Carsten Jancker war zu aktiven Zeiten immer jemand, dessen Auftreten mit unschönen Adjektiven tituliert wurde. Unnahbar gebe er sich, moserte die Presse, schroff und abweisend, ja überheblich. Kritiker bemängelten, er hätte durch seinen Aufstieg zum vermögenden Nationalspieler die Bodenhaftung verloren. Fußballfans, die dem FC Bayern nicht gesonnen waren, hatten im Sturmtank ihr Feindbild erkoren, und sie kultivierten es mit jeder Angriffsfläche, die ihnen der kantige Typ offerierte. Wenn Jancker pöbelte, feixten sie vor Freude. Sie feixten oft.

Aus den Zeitungen hagelte es Breitseiten für unfaires Spiel. Ohrenzeugen wollten Beleidigungen über ausländische Gegner aufgeschnappt haben. In fremden Stadien reagierte er auf Bosheiten mit verbalen Kontern, oder, wie 1997 auf dem Betzenberg, indem er den Effenberg-Finger in der Bundesliga auf seine Tauglichkeit überprüfte - die er nicht bestand. Jancker klebte ein Rüpel-Rambo-Image an den Fersen, und Aussagen wie diese trugen nicht unbedingt zur Abschwächung der öffentlichen Meinung bei: "Ich bin kein Heiliger und bewege mich auch nicht wie eine Primadonna. Wenn ich nicht mehr aggressiv spiele, kann ich gleich in den Kindergarten gehen." Spricht er heute, als Ex-Profi, über seine Rolle als Buhmann, dringt wieder diese Schlichtheit durch, die so gar nicht die Kontur des Emotionsbolzens mit Entgleisungsgefahr decken will.

Sie waren für Bayernhasser über Jahre ein beliebtes Feindbild.
Das hängt aber auch damit zusammen, dass ich viele Tore geschossen habe.
Das hat Mehmet Scholl auch, den haben aber trotzdem alle gemocht.
Der war aber auch bloß 1,70 Meter groß.

Jancker pushte sich mit der Droge Adrenalin. Ende 2000 übertrieb er es. Im Spitzenspiel gegen Bayer Leverkusen erzielte er das Führungstor, doch anstatt mit den Kollegen zu jubeln, rannte er schnaubend auf Gäste-Coach Berti Vogts zu, um mit der erhobenen Faust ein Luftloch zu schlagen und Derbheiten zu verteilen: "Vogts, du Arschloch!" Als Bundestrainer hatte Berti den Bayern-Bullen 1998 für die WM in Frankreich ausgebootet. "Diese Projektion ist irgendwie mit mir durchgegangen", bedauerte Jancker. Die mediale Schelte war erdrückend. Dem Stürmer wurde der Ruf des "ungehobelten und ausländerfeindlichen Brutalos" angehängt, und sein Markenzeichen, die blanke Glatze, verkehrte sich zum Laster. Sein äußeres Erscheinungsbild, gepaart mit dem zuweilen unflätigen Benehmen, drängte ihn in die Ecke des Rechtsradikalismus. Jancker würde, so der Vorwurf, mit Neonazis sympathisieren.

Uli Hoeneß war aufgeschreckt. Der dickfellige Manager trat mit einem sonderbaren Begehren an einen Fußballspieler heran - er bat Jancker, sich die Haare wachsen zu lassen, wenigstens ein bisschen, zum Zwecke der Außendarstellung. "Das habe ich dann auch gemacht, aber heute würde ich anders mit der Sache umgehen. Ich würde den Gerüchten früher entschieden entgegentreten, mir aber nie wieder vorschreiben lassen, wie ich meine Haare zu tragen habe. Nie wieder." Tatsächlich sprossen im Frühjahr 2001 blonde Locken, die sich lieblich kräuselten. Jancker hasste sie.



Wie eine Karikatur seiner selbst



Personen, die ihm nahestehen, schätzen seine Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Da ist nichts zu spüren vom vermeintlichen Flegel, der ungezügelt Schindluder trieb. Jancker, beteuern sie, sei ein ruhiger Vertreter seines Fachs, einer, der besonnen abwägt, was er für richtig und wichtig hält. Auch Journalisten, die ihn interviewen, berichten von einer zögernden Haltung und der überlegten Art und Weise, eine - unangenehme - Frage zu beantworten. Keine Silbe von Hochmut oder Arroganz.

"Harter Junge, zarte Seele", schrieb die "Sport-Bild" über ihn. Abseits des Platzes war und ist Jancker ein fürsorglicher Familienvater. Mit Frau Natascha (der Wienerin von Rapid) hat er zwei Töchter, Laura-Larissa und Naomi-Noelle. Als Laura-Larissa einen Monat alt war, musste sie am offenen Herzen operiert werden. Sechs unendliche Wochen bangte Papa Carsten um ihr Leben, eine Zeit, die ihn als Mensch prägte. Entsprechend findet sein Motto Entfaltung in jeglichen Lagen: "Wer denkt, etwas erreicht zu haben, hat aufgehört, etwas zu werden."

In der Saison 2001/2002 konnte der Fußballprofi Jancker nicht denken, etwas erreicht zu haben. Seine Horror-Bilanz wies ihn lächerliche zweimal als Torschützen aus: Gegen Paderborn und Osnabrück. In der ersten und zweiten Runde des DFB-Pokals. Das wars. Kein Treffer in der Bundesliga, keiner in der Champions League, kein weiterer im Cup. Martin Max von Lokalrivale 1860 wurde Torschützenkönig, doch zur WM fahren durfte Carsten Jancker. Ein Treppenwitz. Das Bayern-Sorgenkind war abgestürzt, denkbar tief gefallen und zunächst weich gelandet.

Dass er nie wieder auch nur ansatzweise anknüpfen konnte an die Form, die Hitzfeld für "Weltklasse" befunden hatte, war ein Mysterium. Jancker befand sich mit 27 im optimalen Alter, aber er war nurmehr eine Karikatur seiner selbst. Und teilweise eine bemitleidenswerte Persiflage. Bälle sprangen ihm vom Fuß, Schüsse landeten auf der Tartanbahn, von Kopfbällen ganz zu schweigen. Er war schwerfällig und notorisch ungefährlich geworden. Aber Rudi Völler nominierte ihn, den Null-Tore-Stürmer, für das Turnier in Japan und Südkorea. Als er im ersten Vorrundenspiel gegen Saudi-Arabien zum 4:0 traf, riss er sich enthemmt das Trikot vom Leib und entblößte seinen athletischen Oberkörper. Seitdem ist Jancker in Asien ein Star.



Drei, zwei, eins... meins!



Das Buch Bayern München schloss sich nach der Rückkehr als Vize-Weltmeister endgültig. Nach dem sechsten Siegel. Die letzten Zeilen des Epilogs kritzelte Hitzfeld, der Jancker kategorisch aus seinen Planungen strich. 143 Partien hatte er für die Bayern in der Liga bestritten, dabei 48 Mal seinen Ring geküsst und ebenso oft in schallender Lautstärke "Fußballgott" über sich rieseln lassen dürfen. Das war vorbei. Er wechselte zu Udinese Calcio in die italienische Seria A. Und scheiterte jämmerlich. 36 Einsätze, zwei Törchen, eine langwierige Schambeinverletzung und "Sieger" bei der Wahl zum schlechtesten Ausländer. Drastisch-lapidar kommentiert er: "Dass es dort nicht funktioniert hat, lag wahrscheinlich daran, dass die italienische Mentalität nicht zu mir passte, und definitiv daran, dass ich beschissen gespielt habe."

Im August 2002 erzielte er ein letztes Tor für das DFB-Team. Das zehnte im 32. von letztlich 33 Länderspielen. Doch was aus der Krake Jancker geworden war, die mit langen Haxen Bälle erstaunlich zu koordinieren vermochte, zeigte nichts deutlicher als das Zustandekommen dieses finalen Treffers. Es war ein Testspiel in Bulgarien, Arne Friedrich zog ab, Jancker hielt seinen Oberschenkel in die Flugbahn, drin, 2:2. Ketzerisch gesagt war man nun soweit, den Torjäger a.D. anschießen zu müssen, wenn es ging, im günstigen Winkel. Und als Jancker in einem flammenden Appell sicherstellen wollte, als offizieller Torschütze registriert zu werden ("Ich habe nicht nur dagestanden!"), war jedem klar, dass die Wachablösung im deutschen Angriff unmittelbar bevor stand.

Udine verließ er 2004 vorzeitig, ausgerechnet in der früheren "Hölle" von Kaiserslautern gedachte er die Renaissance einzuleiten. Doch mit 30 Jahren war Jancker abgenutzt, körperlich und vermutlich auch mental. Zwei Jahre blieb er, ohne Erinnerungen an glorreiche Bayern-Zeiten wecken zu können, an Partner Elber, Tore im Fallen, Finalspiele, Triumphe und Tragödien. An den "Fußballgott".

2006 ging er nach China, des Geldes wegen, hielt es exakt ein halbes Jahr aus und kehrte torlos heim. In Österreich sollte die Karriere einen Kreis schließen, dort also, wo sie in den Neunzigern Fahrt aufgenommen hatte. Es geschah Wundersames: Im beschaulichen Mattersburg erspähte der Stürmer Carsten Jancker wieder das Torgestänge. In drei Saisons gelangen ihm anständige 21 Treffer in 76 Spielen. "Ein, zwei Jahre" hätte er noch dranhängen wollen, sagte Jancker, als ihn Trainer Lederer Mitte 2009 vor die Tür setzte mit der Begründung, er sei "zu alt". 2010 heuerte er als Nachwuchsbetreuer bei Rapid Wien an, im April dieses Jahres wurde Jancker, inzwischen 38, zum Co-Trainer der ersten Mannschaft befördert.

Die sechs Monate in Shanghai, gibt die Bayern-Legende zu, waren ein Kulturschock: "Beim Einkaufen wurden mir lebendige Kröten angeboten." Aber wie war das mit dem trockenen Humor, der hinter der ruppigen Außenhaut verborgen ist?

Hat man Sie auf der Straße erkannt?
Man kannte mich von der Weltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea. Und natürlich bin ich mit meiner Größe und den blonden Haaren aufgefallen.



Bildquelle: spox.com

KOMMENTARE
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Schnumbi
19.07.2013 | 23:08 Uhr
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Schnumbi : 
19.07.2013 | 23:08 Uhr
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Schnumbi : 
@ Scholli:
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scholli99
19.07.2013 | 23:02 Uhr
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scholli99 : 
19.07.2013 | 23:02 Uhr
-1
scholli99 : 
Wow, einfach ein verdammt guter Text....

Bei mir kamen zusätzlich zu unserem Fussballgott soviele Erinnerungen zwischen den Zeilen hoch.... wie gesagt, danke für diese Reise in die Vergangenheit....
4
Gnanag
19.07.2013 | 20:35 Uhr
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Gnanag : 
19.07.2013 | 20:35 Uhr
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Gnanag : 
Überragender Blog, wow! Vielen Dank dafür!

Carsten Jancker ist und bleibt eine Bayern-Legende, ich werde nie vergessen wie bei Günther Jauch mal eine Frau über ihren verstorbenen Sohn erzählte und berichtete dass einer seiner letzten Wünsche war mal einen Bayern-Spieler zu treffen und Carsten Jancker kam und mit Ihnen Kaffee trank und Kuchen aß. Fand ich genial und so schätze ich Jancker auch ein.

Nochmal, riesiger Blog, Hut ab!
4
Camelmann
19.07.2013 | 14:39 Uhr
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Camelmann : Weltklasse
19.07.2013 | 14:39 Uhr
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Camelmann : Weltklasse
Hat mich direkt in meine Kindheit zurückgeworfen.
Danke dafür! ;)
4
Voegi
MODERATOR
19.07.2013 | 14:14 Uhr
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Voegi : 
19.07.2013 | 14:14 Uhr
-1
Voegi : 
ich mache es kurz:
einer der besten blogs, die wir bislang hier auf spox hatten!!
7
Schnumbi
19.07.2013 | 13:48 Uhr
5
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Schnumbi : 
19.07.2013 | 13:48 Uhr
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Schnumbi : 
Einfach nur Danke

ganz ganz große Klasse.
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