Die konkreten Vorbereitungen des BVB auf die Saison 2016/17 begannen vermutlich bereits am 21. Mai. Vermutlich gegen 2 Uhr morgens. Dortmund hatte gerade das Pokalfinale gegen die Bayern verloren. Mats Hummels wurde auf dem feierlichen Bankett nach dem Finale mit warmen Worten von Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke verabschiedet, außerdem war klar, dass Ilkay Gündogan den Verein verlassen wird. Die Niedergeschlagenheit beim BVB war groß. Wieder waren die Bayern den einen Schritt besser. Das Pokalfinale 2016 war das vierte verlorene Endspiel in Folge für die Dortmunder. Angeblich wurden Trainer Thomas Tuchel noch in dieser Nacht vier bis fünf neue Spieler seiner Wahl versprochen.
Tatsächlich begann das zweite Tuchel-Jahr beim BVB mit einer Transferoffensive. Über 100 Millionen Euro hat die Borussia vor dieser Saison in neue Spieler investiert. Neben gestandenen Profis wie Schürrle, Götze und Bartra kamen auch einige vielversprechende Talente wie Merino, Dembele und Mor ins Ruhrgebiet. Das Ziel war klar: Die Qualität des Kaders sollte in der Breite verstärkt werden. Dortmund richtete sich ein auf eine lange Saison mit drei Wettbewerben, in denen die schwarz-gelben so lange wie möglich vertreten sein wollen. Auch wenn die Verantwortlichen des BVB dies dementieren würden: Dortmunds Transferoffensive war auch ein Zeichen an die Liga, vor allem an die Bayern: Seht her, wir haben neue finanzielle Möglichkeiten, und wir haben neue Ansprüche.
Diese Ansprüche formulierte Thomas Tuchel unbewusst bereits in jener Nacht des 21.Mai in Berlin, nach dem verlorenen Pokalfinale. In einem hochklassigen Endspiel hatte der BVB den Münchnern zuvor 120 Minuten lang aufopferungsvoll Paroli geboten, erspielte sich selbst immer wieder Torchancen, unterlag am Ende dennoch knapp im Elfmeterschießen. Wieder ging ein Titel an die Bayern, wieder stand der BVB trotz starker Saison mit leeren Händen da. Doch anstatt die Mannschaft zu loben, aufzubauen, stolz zu sein auf einen großen Pokalabend, wählte Thomas Tuchel kritische Worte. Seiner Mannschaft habe es an "Mut, an Selbstvertrauen, an Überzeugung, an Schärfe" gemangelt. Hier gab sich einer nicht zufrieden damit, den Bayern auf Augenhöhe begegnet zu sein. Tuchel will mehr.
Das Duell am Samstagabend ist das erste richtige Aufeinandertreffen der beiden großen Konkurrenten nach der schicksalhaften Pokalnacht in Berlin. Bereits vor der Bundesligasaison trafen die Klubs im Duell um den deutschen Supercup aufeinander, aber sowohl in München als auch in Dortmund wissen sie, dass dieses Spiel wenig Aussagekraft hatte.
Auf der Trainerbank der Münchner sitzt diesmal nicht mehr Pep Guardiola. Der Katalane, der die Bayern auf höchstem spielerischem Niveau etablierte, dem aber in München trotzdem keiner eine Träne nachweint, ist weitergezogen nach Manchester. Carlo Ancelotti, ein eher stoischer Vertreter seiner Zunft, leitet nun die Geschicke an der Säbener Straße. Taktisch nicht so brilliant wie sein Vorgänger, ist er trotzdem beliebter bei Spielern und Fans. Der Italiener gilt als Pragmatiker. Er verfolgt keine bestimmte Spielphilosophie, zumindest nicht so manisch wie Guardiola.
Tatsächlich könnte das geistige Erbe des Katalanen Thomas Tuchel antreten. Denn es ist der Dortmunder Coach, der auf Ballbesitzfußball und Kontrolle setzt und so die Zufälle in einem Spiel auf ein Minimum reduzieren möchte.
Tuchel beklagte nach dem verlorenen Pokalfinale, seine Mannschaft habe taktisch nicht sauber genug verteidigt, um höhere Balleroberungen zu haben. Der Klopp-Nachfolger fordert von seiner Mannschaft extrem viel. Gerne verändert er die taktische Ausrichtung während eines Spiels, wenn er sieht, dass seine Mannschaft Probleme hat. Das hat er sich von Guardiola, von dessen Fähigkeiten er schwärmt, abgeschaut. Tuchels Problem: Ancelotti lässt sich von taktischem Geplänkel des Gegners nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Tuchels Vorbild Guardiola unterlag 2014 mit den Bayern gegen das von Ancelotti trainierte Real Madrid zwei mal deutlich und schied folgerichtig im Halbfinale der Champions League aus.
Und so wird das Spiel zwischen Dortmund und Bayern auch das intellektuelle Treffen zweier völlig unterschiedlicher Trainer. Auf Dortmunder Seite ein ehrgeiziger, extrem akribischer Coach, eine Art Fußball-Nerd, der in seiner jungen Karriere noch keinen Titel gewinnen konnte. Auf der anderen Seite Ancelotti, ein Mann von Welt, ruhig, besonnen, gnadenlos erfolgreich.
Tuchel weiß um die Trainerqualitäten Ancelottis. "Es ist eine Auszeichung für die Bundesliga, dass Ancelotti hier ist. Ancelotti wird auch mich auf ein neues Niveau bringen", sagte Tuchel zu Saisonbeginn. Das könnte sich schon am Samstag zeigen.
Das Spitzenspiel wird weltweite Beachtung genießen. In über 200 Ländern wird die Partie live übertragen, über 80.000 werden im Dortmunder Stadion sein. Die Bayern, obgleich sie in dieser Saison noch nicht den Glanz der letzten Spielzeit versprühen, sind Favorit.
Doch dank der Dortmunder Transferoffensive im Sommer als Reaktion auf die Abgänge und das verlorene Pokalfinale, hat man das Gefühl, dass die qualitative Diskrepanz der beiden Mannschaften geschrumpft ist.
Erstmals seit 2012 hat die Borussia wieder die personelle Qualität, den Bayern über den Zeitraum einer ganzen Saison Paroli bieten zu können.
Dem Rekordmeister ist in dieser Saison die Souveränität, die Selbstverständlichkeit abhanden gekommen,
Vor dem Spiel am Samstag trennen sechs Punkte den BVB von den Bayern. Ein Sieg der Dortmunder würde eine langersehnte Spannung ins Meisterschaftsrennen bringen.
Die Frage wird sein, ob Tuchel aus der Niederlage im Pokalfinale gelernt hat, ob er seiner Mannschaft vermitteln kann, mehr Mut, Selbstvertrauen, Überzeugung und Schärfe auf den Platz zu bringen.
Die Nacht des 21. Mai könnte ein Wendepunkt gewesen sein. Tuchel ist einer, der das Verlieren hasst. Er wird Schlüsse gezogen haben. Ob die personelle Erneuerung und Tuchels Ehrgeiz ausreichen werden, um die Münchner zu schlagen und der Liga zu beweisen, dass der scheinbar übermächtige FC Bayern auch national nicht unantastbar ist, wird sich zeigen.
Die Chance dazu scheint größer zu sein als noch vor einem halben Jahr, damals im Mai in Berlin.