Weltbürgerin und Wissenschaftlerin

Johanna Konta hat das große Ziel knapp vor Augen
© getty

Zwei Siege noch, dann hätte Johanna Konta als erste britische Dame seit Virgina Wade 1977 den Titel in Wimbledon sicher. Die in Australien geborene Lokalfavoritin hat mehrere Gesichter.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Von Jörg Allmeroth aus Wimbledon

Stell Dir vor, es ist Wimbledon, ein Tennisstar grüßt von allen Titelseiten - und es ist nicht Andy Murray. Genau das schafft in diesen Tagen eine Frau, die in Sydney als Kind ungarisch-stämmiger Eltern geboren wurde, die für ihre Tenniskarriere erst nach Britannien und dann nach Spanien zog - und die erst seit 2012 einen Paß auch für das Vereinigte Königreich besitzt. "Johanna, die Eroberin", titelte der "Daily Express" verzückt nach dem jüngsten Siegeszug der 26-jährigen Johanna Konta an der berühmten Church Road im Südwesten Londons. Nach dem schwer erkämpften Viertelfinalsieg gegen Rumäniens Dauerflitzerin Simona Halep trennen die coole, selbstbeherrschte Britin nur noch zwei Siege von ihrem persönlichen Traum, dem Triumph am berühmtesten Schauplatz der Tenniswelt - und von einem kollektiven Freudenschrei im Inselreich: "Es ist alles ein bisschen surreal im Moment. Es fällt schwer zu begreifen, was hier passiert", sagte Konta, die in der Vorschlussrunde am Donnerstag auf die fünfmalige Wimbledon-Siegerin Venus Williams trifft. Nach dem Aus des nicht 100-prozentig fitten Murray am Mittwoch ruhen nun auch alle Hoffnungen der Gastgebernation auf Konta.

Die Begeisterungswellen um die Tennis-Weltbürgerin, die neben dem britischen auch noch einen australischen und ungarischen Paß besitzt, waren am Dienstag auch im Rasenreich des All England Club unübersehbar: Während Konta unter geschlossenem Centre Court-Dach ihre Aufgabe gegen Halep mit der üblichen Mischung aus kämpferischer Leidenschaft und taktischer Akribie erledigte, harrten Tausende Tennisfreunde im strömenden Dauerregen eisern vor der großen Leinwand auf dem "Murray Mountain" aus. Als die Lokalmatadorin den ersten Matchball verwandelte, umarmten sich die Fans, warfen Regenschirme im Schmuddelwetter in die Höhe. Und in der Royal Box verdrückte die Ehrenwerte Virginia Wade, die letzte heimische Siegerin im Jahr 1977, sogar ein paar Tränen der Rührung und Freude. "Sie kann es jetzt auch gewinnen. Sie hat diese Siegermentalität, diesen unbändigen Willen", sagte Wade.

Frostig und intensiv

Konta wirkt wie eine Frau mit zwei Gesichtern. Auf dem Tennisplatz kämpft die Senkrechtstarterin der letzten Jahre wie eine Löwin, verbissen und entschlossen ringt sie um jeden einzelnen Punkt mit höchster Intensität. Sie ist ständig auf vollen Touren, im sechsten oder siebten Gang. Doch so gefühlsbeladen ihre Auftritte auf den großen Tennisbühnen sind, ob nun in Melbourne, Paris oder jetzt in Wimbledon, so untertemperiert und fast schon eisig erscheint sie abseits der eigentlichen Arbeit. "Frosty Jo" nennen sie manche englische Boulevardreporter, vor allem dann, wenn Konta wieder einmal die großen Emotionen nach einem Triumph verweigert und stattdessen über den "Prozess zum Erfolg" doziert. Als Konta im letzten Jahr einmal in einer bekannten TV-Show gefragt wurde, gegen wen sie am liebsten spiele - und gegen wen überhaupt nicht, schmetterte sie den Interviewer harsch ab: "Das ist eine der langweiligsten Fragen überhaupt." Um es sich mit der kühlen Tennisgröße nicht zu verscherzen, willigte der journalistische Begleittross sogar ein, Kontas früheren Lebensgefährten nur "The Boyfriend" zu nennen, "den Freund". Der Name sei "uninteressant", gab Konta zu Protokoll.

Konta ist eine typische Erscheinung dieser veränderten Tenniszeiten, in denen es keine Wunderkinder mehr gibt, keine Teenagersensationen. Bis vor drei Jahren war sie eher in der Zweiten Liga unterwegs, reiste fern der großen, schillernden Tourkarawane umher. Das erste Achtungszeichen setzte sie erst mit 23 Jahren, bei den US Open 2014. Damals erreichte sie als Qualifikantin das Achtelfinale, schlug auf dem Weg Garbine Muguruza und Andrea Petkovic. Es war der Beginn eines atemraubenden Aufstiegs der Tennis-Wissenschaftlerin, von Platz 127 bis unter die Top Ten in nur 24 Monaten. Inzwischen hat sie als etablierte Größe auch das nötige Kleingeld, um sich ein qualifiziertes Betreuerteam leisten zu können, allen voran den belgischen Coach Wim Fissette. Der Trainer ist ein renommierter Bessermacher in der Branche, er war auch schon für Viktoria Azarenka, Simona Halep und 2013 kurz für Wimbledon-Finalistin Sabine Lisicki tätig. "Johanna ist ein Profi durch und durch. Mit ihr zusammenzuarbeiten, ist einfach eine Freude. Sie versteht so unglaublich viel von diesem Spiel", sagt Fissette.

Alles ist möglich

Doch nun wartet keine Geringere als Venus Williams im Halbfinale. Sie steht Konta auf langen Beinen im Weg, mit harten Schlägen, mit erbarmungsloser Konsequenz. Die Amerikanerin hat das Trauma eines tödlichen Verkehrsunfalls Anfang Juni, an dem sie möglicherweise doch schuldlos ist, anscheinend verdrängen können. Sie macht den Eindruck, als wäre Wimbledon auch im Jahr 2017, in Abwesenheit der schwangeren Schwester Serena, eine häusliche Sache der Familie Williams. Auf dem Weg zum Masters-Sieg im Frühjahr in Miami schlug Konta die 37-jährige Veteranin, aber auch in Wimbledon? "Meine Form ist da. Mein bestes Tennis", sagt Konta, "es kann gelingen."

Artikel und Videos zum Thema