"La Decima" oder viertes Happy End?

Stan Wawrinka
© GEPA

"Die Besten sind im Finale. Punkt", sagte Boris Becker mit Vorausblick auf das French-Open-Endspiel. Rafael Nadal und Stan Wawrinka duellieren sich um den Titel.

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Lange vor dem Schlussspurt in den Pariser Ausscheidungsspielen hatte John McEnroe seine Sicht der Dinge in gewohnter Kompromisslosigkeit und Klarheit formuliert: "Wenn es einen gibt, der Nadal bei den French Open stoppen kann, dann ist es Stan Wawrinka", sagte der ehemalige Superflegel, der unterm Eiffelturm wieder einmal als TV-Experte ohne Punkt und Komma plaudert. Nicht immer, aber sehr häufig trifft McEnroe am Mikrofon ins Schwarze, und was die Lage im Herrentennis bei diesem Grand-Slam-Festival im roten Sand angeht, stimmt die Prognose des Amerikaners vollumfänglich: Rafael Nadal, der Überspieler in der "terre battue", ist und bleibt die definierende Figur in dieser Spezialdisziplin.

Und aufhalten konnte und kann ihn tatsächlich nur noch jener kraftstrotzende Wawrinka, der Schweizer mit dem mächtigen Punch, der als spätberufener Weltklasseathlet seine Karriere gerade dadurch veredelt, dass er auf den Major-Schauplätzen hartnäckig zu berauschender Form findet. Nadal also gegen Wawrinka - das ist der logische, spannungsgeladene Showdown dieses Titelkampfs von Paris. Der wirkliche Höhepunkt, mit dem sich das Rätselspiel um die Thronbesteigung auflöst. "Die Besten sind im Finale. Punkt", sagt Boris Becker, der Mann, der im vergangenen Jahr noch Novak Djokovic zum Sieg gelotst hatte.

Nadal und die Nebelwand

Doch alles in allem kann man, mit einem etwas ausgreifenderen Maßstab, dieses Finalduell auch als Überraschung bezeichnen: Schließlich war das Comeback Nadals in der Weltspitze keineswegs wie in Stein gemeißelt, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Als er vor einem Jahr die French-Open-Mission verletzt aufgeben musste, erstmals überhaupt mitten in einem Topwettbewerb zu kapitulieren hatte, da war nicht sicher, ob er je wieder auf hohem und höchstem Niveau würde Tennis spielen könnte. "Es gab mehr Zweifel, mehr Sorgen als Sicherheiten", sagte Nadal dieser Tage einmal, "ich blickte damals wie in eine Nebelwand."

Und Wawrinka? Er stieg erst Ende Zwanzig in die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen auf, in die eigene Gewichtsklasse der Grand-Slam-Champions. Fast war er schon abgeschrieben als Kandidat für die kostbarsten Trophäen, ehe er - auch unter tätiger Mithilfe seines kompetenten Coachs Magnus Norman - die Fesseln der eigenen Beklemmungen und Ängste löste. Könnte es überhaupt einen treffenderen Slogan für Wawrinkas Aufstieg, für seine Verwandlungskünste geben als jenen Namen, den Normans schwedische Tennisakademie trägt: Good to great. Von gut zu großartig, das markiert Wawrinkas Weg, die Eroberung auch von drei Grand-Slam-Titeln in den Jahren 2014 bis 2016, erst bei den Australian Open, dann bei den French Open, zuletzt dann auch bei den US Open.

Keine brutalere Prüfung als gegen Nadal in Paris

In Melbourne, vor dreieinhalb Jahren, stand bei Wawrinkas erstem Grand-Slam-Sieg, Nadal auf der anderen Seite des Platzes. Der Spanier war leicht angeschlagen, war sicher nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, aber Wawrinka besaß plötzlich die nötige Kälte und Unbarmherzigkeit, um die Situation auch auszunutzen. Er hatte, nicht wie so oft in der Vergangenheit, eine gewisse Beißhemmung, er verhielt sich wie ein Professional. Seit diesem Moment war Wawrinka ein anderer Spieler, sozusagen zweigeteilt in seiner Erscheinung. Fortan gab es weiter den alten Wawrinka, den launischen, unberechenbaren Wawrinka. Das war der, der bei kleineren und mittleren Turnieren gegen Leute verlor, gegen die er niemals verlieren sollte. Er war auf dieser Ebene weiter ein Underperformer, einer, der sein Potenzial nicht auszuspielen vermochte. Und dann gab es eben auch den neuen Wawrinka, der seine Ziele bei den Grand Slams eher übererfüllte. Auf der großen Bühne stimmte plötzlich nicht alles, aber sehr vieles, Wawrinka brachte sein Können mit den Ergebnissen in Übereinstimmung. Bei dreizehn der letzten 17 Grand Slams stand er im Viertelfinale, er ist nun wie abonniert auf die Rolle des Titelmitbewerbers, auch und gerade in Paris, wo er seine überragende Physis in den stundenlangen Zermürbungsschlachten ausspielt. Murray, die Nummer eins der Welt, konnte am Freitag ein Lied davon singen.

Und trotzdem: Das Härteste, das Schwierigste steht dem Schweizer, diesem von seinem Idol Roger Federer längst emanzipierten Spieler, erst noch bevor. Nun kommt Nadal, diese Tennismaschine, der neunmalige Champion. "Es gibt keine brutalere Prüfung, als Nadal in Paris besiegen zu wollen", sagt Wawrinka, "aber natürlich verspürt Rafa auch Druck. Ich werde noch einmal das Letzte herausholen." Drei Grand-Slam-Finals bisher, drei Siege, dreimal das Happy End gegen eine Nummer eins der Welt - welch eine Bilanz für Wawrinka, aber es zählt nichts mehr in dem Moment, wenn er gegen Nadal auf den Centre Court schreitet. Gegen den Spanier, der ein Rendezvous mit der Ewigkeit hat: Er könnte als erster Spieler in der Geschichte einen Grand Slam mindestens zehn Mal gewinnen, keine Frau, kein Mann hat das bisher geschafft. Wawrinka steht diesem Coup im Weg. Nur noch er. Oder vielleicht: Ausgerechnet er.

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