tennisnet.com Kolumne

Die leidige Frage nach dem Talent im Tennis

von Christian Albrecht Barschel
zuletzt bearbeitet: 08.11.2016, 16:54 Uhr

Roger Federer

"Vom Talent her müsste er viel weiter oben stehen und viel mehr gewinnen." Diesen Satz hört man so oder so ähnlich immer wieder, wenn es um gewisse Tennisspieler geht. Beispiele gefällig: Gael Monfils und Grigor Dimitrov sind zwei Spieler, bei denen diese Sätze immer wieder gefallen sind. Vielleicht gelten die beiden auch deshalb als so extrem talentiert, weil sie Hot Shots am Fließband produzieren. Doch was ist überhaupt Talent? Es ist eine leidige Frage, die extrem schwer zu beantworten ist. "Ich glaube nicht daran, dass man mit Talent geboren wird. Ich glaube, es entsteht dadurch, wie du aufwächst, wie viel natürlichen Ehrgeiz du hast. Du musst dich durchsetzen. Und das geht nur, wenn du hart arbeitest", erklärte zuletzt Andy Murray im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung". Dass der Schotte talentiert ist, steht außer Frage. Talent allein hat ihn aber nicht zur Nummer eins gemacht.

Ein Spieler, der es zum Grand-Slam-Champion und zur Nummer eins schaffte, aber damals nicht als besonders "talentiert" galt, ist Thomas Muster. "Arbeiten ist ein Talent. Die Fähigkeit, konstant 70 Prozent meiner Trainingsleistungen im Match umzusetzen, ist ein Talent. Und einer, der mit X-Füßen von der Straße dahergekommen ist, bin ich auch nicht gerade", erklärte Muster 1995 nach seinem French-Open-Sieg im Gespräch mit dem "Spiegel". Was ist also Talent? Die meisten würden nun sagen, dass Talent angeboren ist und dass man einen talentierten Spieler an seiner eleganten, schulbuchmäßigen Technik ohne viel Kraftaufwand erkennt. Ein talentierter Spieler ist man, wenn man beim ersten Spielversuch besser Tennis spielt als jemand, der bereits seit zwei Jahren der Filzkugel hinterherjagt. Das kann daran liegen, dass der eine von Natur aus viel mehr Ballgefühl hat oder auch durch das Schauen von Tennis im Fernsehen die technisch richtigen Bewegungsmuster bereits verinnerlicht hat, ohne jemals selbst gespielt zu haben.

Die unterschiedlichen Arten von Talent

Aber nur Ballgefühl und eine gute Technik reichen nicht aus, um erfolgreich zu sein. Man muss Tag für Tag trainieren, um auf die nächste Ebene zu kommen. Denn Tennis ist ein extrem trainingsintensiver Sport. Um überhaupt ein Tennisprofi zu werden, braucht es Tausende von Trainingsstunden. Wer früh mit dem Tennissport anfängt, ist klar im Vorteil. Fragt mal bei Andre Agassi und Maria Sharapova nach, die bereits als kleine Kinder Tausende von Bällen geschlagen haben und so in frühen Jahren auf der Tour einen Wettbewerbsvorteil hatten. Ob man ein erfolgreicher Tennisspieler wird, dazu gehört auch eine Prise Glück, insbesondere gute körperliche Voraussetzungen. Spieler, die kleiner als 1,80 Meter oder größer als zwei Meter sind, haben im modernen Tennis gewisse Nachteile. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dies ein Hinderungsgrund ist, um erfolgreich zu sein. Man muss mit den Karten spielen, die man hat. Dies gilt zum Beispiel für John Isner, Ivo Karlovic oder auch David Ferrer.

"Training schlägt Talent", ist auch einer dieser Phrasen, die man stets hört. Ist Rafael Nadal wirklich untalentierter als Roger Federer, wie viele meinen? Oder hat "Rafa" schlichtweg andere Talente, die neben Ballgefühl und Spielverständnis noch viel wichtiger sind? Nadal ist wahrscheinlich der Spieler mit der besten Körpersprache. Er wirft nie den Schläger, ist fast immer positiv und glaubt auch noch bei aussichtlosem Rückstand an den Sieg. Novak Djokovics großes Talent ist sicherlich der unbegrenzte Wille, den er bereits als Kind hatte und sein Perfektionismus, der ihn zum Dominator im Welttennis gemacht hat. Und Federer? Der Schweizer wird generell als der talentierteste Tennisspieler aller Zeiten bezeichnet, weil alles so einfach und mühelos bei ihm aussieht. Aber sein größtes Talent ist wahrscheinlich das mühelose Wegstecken von bitteren Niederlagen. Federer hat in seiner Karriere zahlreiche wichtige Matches verloren, die er niemals hätte verlieren dürfen. Beispiel gefällig: Nachdem er im Halbfinale bei den US Open 2011 zum zweiten Mal in Folge gegen Djokovic nach zwei vergebenen Matchbällen verlor, hinterließ das bei ihm keine mentalen Spuren. Stattdessen gewann er bis zum Saisonende alle seine 17 Matches und wurde im Jahr darauf wieder die Nummer eins.

Man muss sich seiner Talente bewusst sein

Es gibt so viele unterschiedliche Arten von Talent. Wichtig ist auch, dass man sich seiner Talente bewusst ist und nicht versucht, jemand zu sein, der man nicht ist. Die Spielauffassungen im Tennis gehen auseinander. So verfolgt ein Spielertyp wie Gilles Simon ein komplett anderes Spielsystem als Roger Federer. Während Simons Spielauffassung ist, den Ball so lange wie möglich im Spiel zu halten und auf den Fehler des Gegners zu warten, verfolgt Federer das primäre Ziel, den Punkt so schnell wie möglich zu gewinnen. Und wenn man technisch sauber spielt, heißt das nicht automatisch, dass man als Gewinner vom Platz geht, denn auf der Gegenseite könnte ein Spieler stehen, der damit wunderbar zurechtkommt und dadurch nur noch besser spielt. Manchmal muss man auch unorthodox oder gegen seinen üblichen Spielstil anspielen, um ein Match zu gewinnen. Man muss auch das Talent haben, sich Gegebenheiten anzupassen. Wer kennt die Situation nicht: Man spielt einen überragenden Ball, aber der Gegner kommt irgendwie noch ran, trifft den Ball so unsauber, dass man in Bedrängnis gerät oder gezwungen ist zu improvisieren. Es sind Situationen, die man im Training schlecht simulieren kann, die aber oft über Sieg oder Niederlage entscheiden.

"Talent ist unbedeutend": Das sagt Günter Bresnik in seinem Buch "Die Dominic-Thiem-Methode". Aber ich brauche ein gewisses Naturtalent, um in einer Sportart zum Champion zu werden. Denn nur mit jahrelanger harter Arbeit und Training werde ich nicht automatisch zu einem erfolgreichen Tennisspieler. Neben Talent und Trainingsfleiß brauche ich auch Glück, dass ich zu der für mich passenden Zeit Tennis spiele - Stichwort: Bodenbeläge, Schläger- und Saitentechnologie. Kehren wir zurück zu Thomas Muster, dem das passende Schlusswort gebührt. Der Österreicher sagte im Jahr 2014 im Interview "spox.com" treffend: "Die Grundsatzfrage ist: Was ist Talent? Ein schöner Stop? Wenn Tennis leicht aussieht? Ohne Talent wirst du nicht Nummer eins der Welt und gewinnst ein Grand Slam. Lediglich mit Arbeit klappt das nicht. Im umgekehrten Fall genauso. Die Kombination macht's."

von Christian Albrecht Barschel

Dienstag
08.11.2016, 16:54 Uhr