"Ich sehe dieses Fräuleinwunder mit großem Vergnügen"

Die US-Trainerlegende im ausführlichen Interview.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 27.06.2012, 13:28 Uhr

Von Jörg Allmeroth aus Wimbledon

Nick Bollettieri ist der berühmteste Tennistrainer der Welt. In der Akademie des 80-jährigen US-Amerikaners in Bradenton (Florida) begannen die Karrieren von Spielern wie Andre Agassi, Monica Seles, Jim Courier oderMaria Sharapova.In Wimbledon arbeitet der ehemalige Fallschirmjäger als Kolumnist und TV-Experte.

Herr Bollettieri, Sie werden in einem Monat 81 Jahre alt. Was treibt Sie an, noch immer zu Turnieren wie jetzt nach Wimbledon zu fahren?

Bollettieri: Wimbledon ist der Heilige Gral des Tennis. Jedes Mal, wenn ich hier im All England Club ankomme, schlägt mein Herz höher. Ich genieße jede Minute in diesem Paradies. Und das werde ich auch mit 85 noch tun.

Halten Sie auch in Wimbledon Ihr Fitnessprogramm durch?

Bollettieri: Um 4.30 Uhr klingelt der Wecker. Dann gehe ich eine Stunde in den Kraftraum oder ins Fitness-Studio. Und danach bin ich bereit für den Tag. Daheim in Florida stehe ich ja auch noch regelmäßig zehn bis zwölf Stunden auf dem Platz.

Hätten Sie geglaubt, dassTommy Haas,der mit zwölf Jahren in Ihre Akademie kam und in Wimbledon gerade in der ersten Runde ausschied, noch einmal ein fulminantes Comeback im Spitzentennis schafft?

Bollettieri: Oh Mann, er hat uns alle überrascht. Wer kann schon prophezeien, dass er in Halle jemanden wieFedererim Finale schlägt? Einfach traumhaft. Aber Tommy hat eben einen Willen, der ist so hart wie Granit. Sonst kannst du nicht nach diesen Verletzungen immer wieder zurückkommen. Ich denke, er kann es noch mal unter die Top 20 schaffen.

Haas gilt als einer der stärksten Spieler, die nie einen Grand-Slam-Titel gewannen.

Bollettieri: Aber seine Karriere ist immer wieder grausam durch diese Verletzungen unterbrochen worden. Tommy ist der größte Pechvogel, den das moderne Tennis gekannt hat. Und deshalb habe ich diese tiefe Hochachtung für einen Burschen, der trotzdem nie aufgegeben hat. Und jetzt mit 34 immer noch großartiges Tennis spielt. Und eins sage ich ganz klar: Wenn Haas gut spielt, dann ist das ein echtes Erlebnis. Big Tennis, wie wir in Amerika sagen. Da willst du als Fan zuschauen.

Bei Olympia wird Haas nicht dabei sein und sich schon auf die US Open konzentrieren.

Bollettieri: Das wird ihm nicht furchtbar wehtun, da hält sich sein Schmerz trotz akuter Enttäuschung doch in Grenzen. Er hatte seinen großen olympischen Moment schon 2000, in Sydney – mit der Silbermedaille. Aber dass ihn seine eigenen Leute nun nicht mal für eine Wildcard vorgeschlagen haben, tja, da kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Er hätte sich das als Anerkennung für seine ganze Karriere verdient gehabt.

Ein noch größeres Comeback bestaunt die Tenniswelt gerade im Fall von Maria Sharapova.

Bollettieri: Sie war schon immer ein eisernes, hartes Mädchen. Ehrgeiziger, willensstärker als alle anderen. Sie wird immer als arrogante Millionen-Zicke abgetan, dabei ist sie die professionellste Athletin, die es im Damen-Tennis gibt. Keine macht ihren Job so leidenschaftlich und so perfekt wie Maria. Sie wieder auf Platz 1 zu sehen, ist einfach nur eine große Freude.

Wie nehmen Sie das deutsche Fräulein-Wunder im Damentennis wahr?

Bollettieri: Deutschland ist ein Land mit so großer Tennistradition, deshalb sehe ich mit großem Vergnügen, wie da immer neue Mädchen auftauchen und sich in die Spitze spielen. Und das Schöne ist: Sie verstehen sich gut, neiden nicht den Erfolg der anderen. Dazu sind noch so unterschiedliche Charaktere wie Sabine Lisicki, Andrea Petkovic oder Angelique Kerber dabei.

Kann eine von Ihnen einen Grand-Slam-Titel gewinnen?

Bollettieri: Warum nicht? Im Damen-Tennis gibt es keine Spielerin, die einfach mal so zwei, drei Grand Slams hintereinander gewinnt und eine total einschüchternde Statur hätte. Das gilt auch nicht für Sharapova oderSerena Williams.OderAzarenka.Ich tippe ja regelmäßig bei Grand-Slam-Turnieren alle Matches durch, aber meine Trefferquote bei den Frauen könnte besser sein.

Da sind die Herren schon berechenbarer – oder?Djokovic,Nadalund Federer haben die Dinge eigentlich immer im Griff.

Bollettieri: Du kannst nicht ernsthaft gegen einen von den drei Jungs wetten. Das sind schon drei außergewöhnliche Spieler und Menschen. Solche Spieler werden nicht jedes Jahr geboren.

Macht der Rest der Welt nicht genug Druck? Oder sind die großen Drei einfach zu stark?

Bollettieri: Ich glaube nicht, dass auch nur ein Spieler auf den Platz geht und sich sagt: „Den kann ich sowieso nicht schlagen.“ Im Gegenteil: Djokovic, Nadal und Federer müssen in jedem Match hochwachsam sein, sie spüren immer den Atem der Verfolger im Nacken. Und behaupten sich trotzdem – und zwar schon über viele Jahre. Das ist eine Riesen-Leistung.

Ein großer amerikanischer Star der Zukunft ist auch nicht in Sicht.

Bollettieri: Wir haben viele Jahre verschenkt, weil wir nicht mit der richtigen Intensität nach den besten Athleten gesucht haben. Als dann auch noch Andre Agassi aufgehört hat, war plötzlich die große Leere da. Ich kann in meiner Akademie jeden Tag sehen, wohin der Weg geht: 60 Prozent der Kids kommen aus dem Ausland, aus China, Indien, Osteuropa oder Südamerika.

Agassi gewann vor 20 Jahren seinen ersten Grand-Slam-Titel in Wimbledon. Mit dem Trainer Bollettieri.

Bollettieri: Es war der größte Moment in meinem Trainerleben, ohne jeden Zweifel. Andre war ein beispielloses Talent. Es war eine turbulente Zeit mit ihm, wir gingen durch Himmel und Hölle. Aber ich liebe ihn heute noch so wie einen eigenen Sohn.(Foto: Getty Images)

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