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"Mein Leben reicht für vier Leben"

Rainer Schüttler spricht im Interview über seinen besonderen Status als ältester Spieler unter den Top 100, und warum er überhaupt keine Angst vorm Aufhören hat.

von tennisnet.com
zuletzt bearbeitet: 21.06.2011, 10:00 Uhr

Von Jörg Allmeroth, London

Rainer Schüttler ist mit 35 Jahren der älteste Spieler im Wimbledon-Hauptfeld. Der gebürtige Korbacher rückte einst bis auf Platz 5 der Weltrangliste vor. 2003 erlebte er sein bestes Jahr, früh gekrönt mit einer Finalteilnahme bei den Australian Open. 2008 sorgte Schüttler für eine Sensation, als er in Wimbledon ins Halbfinale einzog. Am Montag gewann er sein Auftaktspiel gegen den an Nummer 30 gesetzten Brasilianer Thomaz Bellucci.

Herr Schüttler, eine banale Frage zu Beginn. Warum spielen Sie noch Tennis?

Mir macht es immer noch Riesenspaß. Das Leben im Tourzirkus ist ein Privileg, es ist für mich immer noch das Schönste, was man sich vorstellen kann. Und ich halte mich seit zwei Jahren als ältester Spieler in der Weltspitze, meistens auch unter den Top 100. Andere haben das in ihrem ganzen Leben nie geschafft.

Haben Sie Angst vorm Aufhören?

Überhaupt nicht. Ich weiß, dass mein Leben nach dem Tennis nicht mehr ganz so aufregend sein wird. Aber Angst? Um Gottes Willen, nein. Ich denke nur, dass ich meine Zeit als Profi noch so lange ausnutzen sollte, wie es möglich ist. Keine Sorge: Man wird mich nicht vom Centre Court tragen müssen.

Was haben Sie am meisten genossen in den Jahren auf der Tour?

Alles. Es war eine verrückte Zeit. Die Euphorie. Die Enttäuschung. Die grandiosen Siege, die herben Niederlagen. Das Reisen durch die Welt, die Freude auf das Zuhause. Fernweh. Heimweh. All diese großen Gefühle im Turbotempo. Mein Leben bis hierhin reicht für vier, fünf Leben.

Tennisspielen war Ihr Hobby, haben Sie immer betont.

Ich war nicht von Kindheit an darauf gedrillt, die große Karriere zu machen. Erst mit 17 startete ich überhaupt als ernsthafter Spieler, unter der Regie von Dirk Hordorff, meinem Trainer. Auch später, im großen Tennisgeschäft, habe ich das nie als Beruf, als Job, als Arbeit im engeren Sinne gesehen. Für mich war Tennis wie ein Geschenk: Ich habe Spaß daran, reise um die Erde und kriege auch noch gutes Geld dafür.

Befreundete Spieler haben Ihnen geraten: Spiel, solange Du kannst!

Ja, alle sagen das. Natürlich vermissen sie diese Momente, bei einem Grand Slam-Turnier auf den Court zu marschieren, ein Riesenspiel zu gewinnen. Das erinnert mich immer an diesen Werbespruch: Es gibt Dinge, die kauft dir kein Geld der Welt. Und trotzdem: Ich kann mich ja nicht belügen und sagen: Es geht so weiter. Diese Saison, vielleicht noch nächste Saison, dann ist Schluß.

Sind Sie heute noch so ehrgeizig wie vor zehn Jahren?

Nein. Diese absolut bedingungslose Attitüde als Wettkämpfer habe ich nicht mehr. Wahrscheinlich, weil mir klar ist, dass ich bestimmte Ziele nicht mehr erreichen kann. Wenn ich mich umschaue, sehe ich super ausgebildete Jungs – drahtig, riesengroß, fit wie ein Turnschuh. Da muss man Realist sein, auch im Umgang mit sich selbst. Sprich: Keine Wunderdinge erwarten.

Man hat den Eindruck, Sie setzen die Droge Tennis langsam und sanft ab.

Tatsächlich habe ich früher Tennis geatmet, gegessen, getrunken. 24 Stunden lang. Fast 365 Tage lang. Da war man im Tunnel, da gab es links und rechts nichts mehr. Aber es wäre albern, wenn das mit 35 Jahren immer noch so wäre.

Als Profi führt man allerdings auch ein Leben mit allen möglichen Zwängen und Pflichten. Freuen Sie sich darauf, nicht nach Takt und Uhr und Plan funktionieren zu müssen?

Oh ja. Als Weltklassespieler brauchst du eine ungeheure Disziplin, um dich in diesem brutalen Geschäft behaupten zu können. In manchen Jahren habe ich fast 100 Wettbewerbsspiele auf höchstem Niveau bestritten. Dazu Training, Training, Training. Ich war zum Glück jemand, der diese Arbeit gern gemacht hat. Für den diese Diszipliniertheit kein Problem war. Es wird bald aber auch schön sein, ausschlafen zu können. Zu wissen: Da ist kein Turnier mehr, keine dieser gnadenlosen Saisonvorbereitungen.

Zuletzt nannte man Sie gern Opa, Methusalem, Rentner in den Medien.

Das nehme ich mit einer guten Portion Humor. Und als Kompliment. Schließlich haben viele aus meiner Generation schon aufgehört. Und ich bin immer noch in den Top 100. Also: Ein rüstiger Rentner.

Ist das Tennisleben heute ernsthafter, geschäftsmäßiger geworden?

Unbedingt. Es ist ein großes Business, professionell durch und durch. Früher hast du abends in Melbourne oder New York auch noch mal an der Bar auf ein Bier gestanden, neben dir ein Karsten Braasch, der die Zigaretten wegbrannte. Das gibt´s heute nicht mehr, auch nicht solche Typen wie Braasch, die „Katze“. Die Spieler vereinzeln sich mehr.

Es ist auch eine Verödung festzustellen. Alle spielen einen ähnlichen Stil, unverwechselbare Typen gibt es kaum.

Leider ist das so. Die klassischen Aufschlag-Volleyspieler fehlen beispielsweise völlig. Mal abgesehen von Ivo Karlovic, dem Riesen aus Kroatien. Aber die Plätze sind weltweit auch langsamer geworden, das hat zu einer totalen Anpassung geführt. Alle spielen hart und unerbittlich von der Grundlinie. In Wimbledon sieht man es am drastischsten, der Rasen am Netz ist auch nach zwei Wochen noch ziemlich intakt.

Kürzlich gab es keinen einzigen Spieler unter Zwanzig in den Top 100. Kann man heute als 18-jähriger überhaupt die Belastungen durchstehen, die es für eine Spitzenposition braucht?

Sehr, sehr schwer. Alleine geht es nicht. Du brauchst gute Berater. Die dich auch schon mal vorbereiten, dass du im Erfolg der Held bist. Und im Mißerfolg der größte Depp.(Foto: J. Hasenkopf)

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