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Teamplayer, Leisetreter, Alleskönner

Auf dem Feld ein Monster, sonder eher Leisetreter: Falcons-Receiver Julio Jones
© getty

Er ist die wohl größte Trumpfkarte der Atlanta Falcons im Super Bowl gegen die New England Patriots (am 5. Februar live auf DAZN): Wide Receiver Julio Jones. Der 27-Jährige ist der vielleicht kompletteste Wideout der Liga, privat jedoch ein Mensch der leisen Töne. Und der Gegner? Der hat enormen Respekt.

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Vielleicht war es eine leise Vorahnung, vielleicht auch bloßes Wunschdenken, als College-Student Malcolm Butler am 23. Dezember 2012 zum Smartphone griff und einen Tweet absetzte. Der 22-Jährige hatte seine Saison bei den unterklassigen West Alabama Tigers zwar mit einer starken Leistung als Cornerback und Kick-Off-Returner abgeschlossen, von einer Karriere in der NFL war allerdings nicht unbedingt auszugehen.

Gut möglich, dass er an diesem Samstagabend mit ein paar Kumpels auf der Coach saß und sich das Duell der Atlanta Falcons mit den Detroit Lions ansah. Und gut möglich auch, dass er direkt nach dem Touchdown eines gewissen Quintorris Lopez "Julio" Jones in die Tasten tippte. Der hatte nämlich kurz vor der Pause einen Pass von Quarterback Matt Ryan gefangen und in der äußersten rechten Ecke der Endzone irgendwie noch beide Füße vor der Kreide auf den Boden bekommen - keine Chance für Cornerback Chris Houston und den zu spät heraneilenden Safety.

Butlers Tweet an diesem 22. Dezember: "Ich würde gern mal Julio Jones bewachen ... lol ... aber ich mein's ernst."

Etwas mehr als vier Jahre später dürfte er seine Chance wohl bekommen. Auf der größtmöglichen Bühne.

Eine schwerere Aufgabe hätte er sich kaum wünschen können.

In jungen Jahren schon ein Star

Während der seit 2014 bei den New England Patriots spielende Butler der Öffentlichkeit erst durch seine Heldentat im Super Bowl gegen die Seahawks zum Begriff wurde, hatte sein rund 13 Monate älteres Objekt der Begierde schon alle Augen auf sich gezogen, lange bevor er in der NFL Cornerbacks unruhige Nächte bereitete. Schon auf der High School in Alabama war Jones ein Ausnahmetalent: Football, Basketball, Leichtathletik. Die 100 Meter in knapp über 11 Sekunden im Alter von 19 Jahren. Das Wort "Modellathlet" wird häufig umher geworfen - ihm wurde es kaum gerecht.

Kein Wunder also, dass die ganz großen Colleges Schlange standen und den Wide Receiver umwarben, der laut High-School-Coach Todd Watson in einer früheren Ära übrigens wohl eher Defensive End geworden wäre - eine Position, in der er sich ebenfalls ausprobierte. Aber die Explosion der Spread Offenses bedeutete, dass Receiver immer wichtiger und so mehr und mehr Top-Athleten am Ende Wideout wurden.

Jones landete schließlich bei Alabama und Head-Coach-Rückkehrer Nick Saban. Wie der das Supertalent von seinem Programm überzeugen - und damit einen wichtigen Grundstein für die Dominanz späterer Jahre legen - konnte, verrät viel über den Menschen Julio Jones. Während ihm die Urban Meyers dieser Welt einen Startplatz versprachen, war dem nämlich etwas anderes viel wichtiger: "Die Kids wollen hören, dass sie auf jeden Fall spielen. Ich wollte das nicht. Ich wollte mir meinen Platz verdienen." Saban hatte den richtigen Riecher. "Wir gewinnen mit dir oder ohne dich", sagte er. Und hatte einen Receiver.

Biest, Vollblut, Alien

Einen Titel gewann Jones in seinen drei Jahren bei der Crimson Tide nicht, aber den NFL-Scouts war klar, dass da ein besonderer Spieler zu holen war. Den Falcons war er eines der größten Draft-Day-Pakete überhaupt wert: Fünf Picks, darunter zwei First-Rounder ließ es sich General Manager Thomas Dimitroff kosten, von Platz 27 auf 6 zu springen und Jones so draften zu können. Ein Trade, von dem ihm Bill Belichick abgeraten haben soll - Dimitroff hatte zuvor unter Belichick das Scouting-Programm der Pats geleitet.

Sechs Jahre später könnten die Falcons mit ihrem Trade nicht glücklicher sein. Vier Pro-Bowl-Teilnahmen, zweimal All-Pro-Receiver, 40 Touchdowns, im Schnitt über 1.240 Receiving Yards pro Jahr. Und das, obwohl er 2013 nach einem Fußbruch nur fünf Spiele machen konnte. "Er ist ein Biest. Ein absolutes Vollblut", staunte Matt Ryan nach seinem Gala-Auftritt gegen die Packers im NFC Championship Game. Für Falcons-Receiver Mohamed Sanu ist er schlicht "ein Alien".

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Warum wird Jones dann in der breiten Öffentlichkeit nicht in einem Atemzug mit den Antonio Browns und Odell Beckham Juniors dieser Welt genannt? "Wahrscheinlich weil ich nicht immer fit war", sagt er selbst. "Wenn man der Beste sein will, muss man das auch zeigen." Tatsächlich kam er nur zweimal in allen 16 Saisonspielen zum Einsatz, oft liest man vom einen oder anderen Wehwehchen, das ihn gar nicht oder nur eingeschränkt trainieren lässt. Auch vor dem Super Bowl wird es wieder so sein, die erste Woche Vorbereitung war aufgrund hartnäckiger Zehenprobleme lediglich zur Regeneration gedacht.

Der Nummer 11 ist es ohnehin herzlich egal, ob er in den Ranglisten irgendwelcher Experten vor einem Brown, OBJ oder A.J. Green geführt wird: "Ich mache mein Ding und lasse mich da nicht mit reinziehen. Wir sind alle auf unsere Art unterschiedlich. Es kommt immer darauf an, wonach man sucht."

Der Mensch hinter dem Receiver

Die Suche nach dem Menschen Julio Jones hinter der Falcons-Uniform gestaltet sich eher schwierig. Der 27-Jährige sucht das Rampenlicht nicht: Auf dem Gridiron gibt es keine verrückten Touchdown-Celebrations, ein Freund von Trash Talk ist er ebenfalls nicht. Und nach Niederlagen wird man ihn so schnell nicht ausflippen oder weinen sehen: "Ich finde, wenn man sich von seinen Emotionen so hinreißen lässt, dann hat man nicht alles gegeben." Wenn man jedoch wirklich alles gebe, und zwar auch in der Vorbereitung auf ein Spiel, sei man doch mit sich im Reinen.

Abseits des Feldes hört man ebenfalls wenig von Jones. Eher zurückhaltend ist er, kein Mann für Promigeschichten oder rote Teppiche. Sein Instagram-Profil bietet kaum mehr als Bilder aus seinem Football-Leben und ermutigende Botschaften, er bezeichnet sich als Christ, geht aber damit nicht hausieren.

Sein größtes Hobby, seit er acht Jahre alt ist: fischen, auf dem See hinter seinem Haus. Allein mit sich und der Welt. Sonst noch ein bisschen Bowling, Kartenspiele und Domino mit den Teamkollegen. Im Urlaub hält er sich von Touristen-Hotspots fern, Werbespots sind ebenfalls rar gesät.

Antonio Brown XXL

Doch wenn der Ball erst einmal im Spiel ist, dann explodiert er. Athletik, Akrobatik, Geschwindigkeit, Kraft, Route-Running, Flexibilität im Gameplan - alles da. Als XXL-Version von Antonio Brown könnte man ihn bezeichnen. Und er hat sich stets weiterentwickelt, vom klassischen Deep Threat zum Allrounder.

"Man denkt sich: 'Julio hat diese Route noch nie gerannt. Das passt nur zu einem kleinen, wendigen Slot-Receiver'", erklärt Offensive Coordinator Kyle Shanahan. "Ja, vielleicht stimmt das, aber egal: Wir probieren es. Und dann macht er es im Training genauso gut wie diese Jungs und man denkt: 'Tja, ich schätze er kann es eben auch.' Es gibt nicht viel, das er nicht kann."

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Von der Slant bis hin zum Deep Ball, ob an der Seitenlinie, in einer Stacked Formation oder im Slot - das Falcons-Playbook bietet Jones in jeder erdenklichen Position auf. Für die Gegner ein Alptraum. "Es macht ihn einzigartig, dass er die Balance und die Wenigkeit eines kleineren Spielers mitbringt", so Quinn. "Kleinere Spieler können sich im Slot von der Manndeckung lösen. Und er ist ein 1,91-Meter-Mann mit 100 Kilo, der sich so in die Kurve legen kann wie die kleinen Receiver."

Was ihn aber nichts von seiner Endgeschwindigkeit kostet: Bei seinem 73-Yard-Touchdown gegen die Packers im Championship Game ließ erst er seinen Bewacher Ladarius Gunter stehen, danach machte Damarious Randall Bekanntschaft mit seinem Stiff Arm.

Antithese zur Receiver-Diva

Schnelle Richtungswechsel, gepaart mit enormer Spielintelligenz und einem mittlerweile blinden Verständnis mit Matt Ryan. So standen in 14 Spielen in dieser Saison 83 Catches und 1.409 Yards zu Buche. Die sechs Touchdowns sind da vergleichsweise wenig, aber Beschwerden wird man von Jones keine hören. Er ist die Antithese zur Receiver-Diva, ein echter Teamplayer. Er weiß, dass er durch seine Double-Teams den Weg für Sanu und Taylor Gabriel frei macht und Lücken für das Running Game reißt.

Und wehe, dieser zweiter Verteidiger kommt nicht: "Sehr respektlos" sei das - und es klingt weniger nach einer Drohung, sondern nach einer Feststellung. "Da läuft mir das Wasser im Mund zusammen, denn ich kenne ja meinen Laufweg, aber der Verteidiger nicht. So wird es schwer für ihn, wenn ich mit Höchstgeschwindigkeit auf ihn zukomme." Und wenn er bei einem Gegenspieler Schwächen im Jump Ball entdeckt, wird Ryan informiert: "Es sieht dann zwar so aus, als sei ich gecovert - aber das bin ich nicht."

Belichick hat Respekt

Gegen die Pats hat er erst einmal gespielt, in der Saison 2013. Man kennt sich also nicht sonderlich gut, aber Jones hat Eindruck hinterlassen bei Belichick und Defensive Coordinator Matt Patricia. "Er kann Underneath Routes laufen, ist schnell, hat großartige Hände, Balance und ist sehr, sehr stark. Er bereitet dir eine Menge Probleme", so Patricia. "Ich vergleiche ihn nicht mit anderen Spielern - ich vergleiche die anderen Spieler mit ihm."

Seinem Head Coach hat es auch Jones' Run-Blocking angetan: "Er geht im Running Game auf die Linebacker und Safeties los, das macht kaum jemand besser als er. Er sind also nicht nur seine Fähigkeiten als Receiver, obwohl die sehr gut sind. Er ist ein kompletter Spieler."

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Gegen den sie nun ein Rezept finden müssen. Butler allein gegen Jones zu stellen, wäre Selbstmord: Jones ist elf Zentimeter größer und ihm körperlich weit überlegen - zudem war gegen Green Bay gut zu sehen, was passiert, wenn man ihn auch nur zeitweise in Single Coverage zu stoppen versucht. Hilfe durch einen Safety ist ein Muss, wobei dieser Sprinter im Körper eines Linebackers auch dann eine Herkulesaufgabe darstellt.

So oder so wird der Ball im NRG Stadium in Jones' Richtung fliegen. Die Falcons haben im Laufe der Saison deutlich gemacht, dass Jones auch gegen die besten Corner der Liga seine Targets bekommt.

Butlers Wunsch dürfte also Wirklichkeit werden.

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