NFL

Graham Harrell: Einmal Star und zurück

Von Jan-Hendrik Böhmer
Graham Harrell (hier bei einer College-Begegnung) spielt jetzt bei den Green Bay Packers
© Getty

Zu seiner Zeit am College war er ein Held. Graham Harrell stellte einen Rekord nach dem anderen auf und zählte zu den besten Football-Spielern des Landes. Doch in der NFL wollte ihn niemand haben. Seine Karriere schien beendet, bevor sie überhaupt begann.

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15.793 Yards. 134 Touchdown-Pässe. Die meisten, die es in der Geschichte des College Footballs jemals gab. Dazu: Finalist bei der Wahl zur Heisman-Trophy, der bedeutendsten College-Football-Auszeichnung überhaupt. Kurz: Graham Harrell war ein Star.

War. Denn in der NFL interessiert das niemanden. Warum? Das ist eine gute Frage.

Ein bisschen wie Brett Favre

Vielleicht ist er ja verletzungsanfällig, der Graham? Nein. Harrell warf fast 2000 Pässe ohne größere Probleme. Ihm werden sogar ähnliche Nehmerqualitäten nachgesagt, wie sie auch Quarterback-Legende Brett Favre auszeichnen. Ein Beispiel gefällig? Als er 2008 bei einem Spiel mit zwei gebrochenen Fingern in die Kabine kam, riet man ihm, aufzugeben. Doch er fragte nur nach einem Pflaster und ging zurück aufs Feld. Resultat: 309 Yards und zwei Touchdowns.

Dann sind es bestimmt Charakterschwächen, Drogen oder Straftaten, die die NFL-Scouts abschrecken? Wohl kaum. Harrell war ein Musterstudent. Hauptfach: Geschichte. Dazu ein Master in Erziehung. Notendurchschnitt: glatt eins. Auf dem Feld gilt er als extrem intelligent. Auch abseits des Sports lässt er sich nichts zu Schulden kommen.

Einfach nur das falsche Team

Doch warum will ihn dann niemand haben? Ganz einfach: Harrell spielte für das falsche Team. Oder besser gesagt in der falschen Offense. "Air Raid" (Luftangriff) nennt sich die von den Texas Tech Red Raiders gespielte und extrem passlastige Variante der Spread Offense. Bis zu fünf Receiver hatte Harrell dabei gleichzeitig als Anspielstation auf dem Feld. Damit könne ja jeder halbwegs talentierte Quarterback tolle Statistiken aufstellen, sagten Kritiker.

Völliger Quatsch, sagten viele andere. Darunter "CBS"-Football-Experte Gregg Doyel. Denn: Natürlich lasse die "Air Raid" einen Quarterback gut aussehen, aber selbst unter den Spread-Offense-Spielmachern ist Harrell ein Ausnahme-Talent, ist Doyel überzeugt.

Zum Zuschauen verdammt

Doch es half nichts. 2009 musste Harrell zusehen, wie erst Mark Sanchez (startete in nur 16 Spielen) und dann Josh Freeman (brachte in Kansas State nur etwas mehr als 50 Prozent seiner Pässe an den Mann) in der ersten Runde gedraftet wurden. Er wartete.

Selbst unbekannte Quarterbacks wie Keith Null von West Texas A&M, einer kleinen und weitgehend unbedeutenden Uni aus der zweiten Division, fanden einen Klub. Genauso wie Rhett Bomar, der sich an der University of Oklahoma erst für einen Job bezahlen ließ, den er nie hatte und es nach seiner Verbannung an eine kleine Schule namens Sam Houston State auf magere vier Siege brachte. Der landete am Ende bei den New York Giants.

Harrell dagegen ging leer aus. Nicht einmal nach dem Draft fand er einen Verein.

"Das war frustrierend und demütigend"

"Das war frustrierend und demütigend", sagt er. Eben noch "on national television" und jetzt auf der Straße. Sein Selbstbewusstsein: angekratzt. Aber den Traum von der Football-Karriere aufgeben und als Lehrer arbeiten?

Niemals! "Aufgeben kam nie in Frage", sagt Harrell.

"Dabei wäre das bestimmt einfacher gewesen", meint sein Vater Sam, selbst ein bekannter Football-Coach. "Er hätte sich entmutigt und verbittert verabschieden können. Niemand hätte es ihm verübelt. Aber das ist nicht seine Art. Er hat weiter trainiert. Sogar härter als sonst."

Irgendetwas würde sich schon ergeben. Davon war Harrell überzeugt.

Kanada? Der ist weg vom Fenster

Und es ergab sich etwas. Irgendwie. Denn nach einem Kurzauftritt im Rookie-Camp der Cleveland Browns unterschrieb Harrell für zwei Jahre bei den Saskatchewan Roughriders. In der Canadian Football League. Ja, in Kanada. Aber immerhin spielte er wieder Football.

"Die Zeit dort hat mir gezeigt, wie viel mir Football bedeutet und wie sehr ich den Sport schätze", erklärt Harrell. "Ich konnte endlich wieder spielen und habe viel Neues gelernt."

Doch für die Allgemeinheit in den USA heißt Kanada: Der ist weg vom Fenster. Von der Bildfläche verschwunden. Und deshalb hoffte der 25-Jährige auf eine Rückkehr in die USA. Eine Chance in der NFL. Auch, weil es in Kanada nicht lief. In seinem ersten Jahr saß er verletzt auf der Bank und bestritt kein Spiel. Nach der Saison wollte er unbedingt weg.

Comeback bei den Green Bay Packers

Jetzt ist Harrell tatsächlich zurück in den USA. Und in der NFL. Bei den Green Bay Packers.

Zu verdanken hat er es Kliff Kingsbury. Der war selbst Quarterback an der Texas Tech University und versuchte anschließend, in der NFL Fuß zu fassen. Ohne Erfolg. Er stand zwar bei diversen Teams unter Vertrag, warf in vier Jahren aber nur zwei Pässe. Mittlerweile arbeitet er als Trainer an der University of Houston - und hat gute Kontakte.

Zum Beispiel zu einem gewissen Mike McCarthy. Den lernte der Texaner während seiner Zeit bei den New Orleans Saints kennen. McCarthy war dort damals Offensive Coordinator, heute ist er Head Coach der Packers. Und nach einem Gespräch mit Kingsbury davon überzeugt: dieser Graham Harrell verdient eine Chance. Er muss mit ins Trainingslager.

NFL@SPOX: Die Team-Preview zu den Green Bay Packers

"Die ganze Stadt ist im Football-Fieber"

"So etwas habe ich noch nie erlebt", sagt Harrell. "Ausgerechnet die Packers. Ein erstklassiges Team mit einer tollen Geschichte und all den verrückten Fans. Die ganze Stadt ist im Football-Fieber. Ich war total aufgeregt. Green Bay ist ein besonderer Ort."

Es ist aber vor allem der Ort, an dem er es seinen Kritikern zeigen will. Denen, die ihm die NFL nicht zutrauen. Denen, die sagen, er sei ein schwacher Athlet ohne Power im Arm.

Natürlich sei er kein Muskelprotz, kontert Harrell. Aber: "Um als Quarterback erfolgreich zu sein, braucht man nicht unbedingt den stärksten Arm oder muss der beste Athlet sein. Man muss die Offense verstehen. Wissen, was man mit dem Ball anstellen muss, um eine Defense zu knacken. Das ist viel wichtiger. Und das ist genau das, was ich mache."

Vertrag nach dem ersten Training

Die Packers hat er damit bereits überzeugt. Sie statteten ihn gleich nach dem ersten Training mit einem Vertrag aus und setzten ihren bisherigen dritten Quarterback, Chris Pizzotti, vor die Tür.

Harrells größte Stärke: Köpfchen. "Schon seit der High School war das mein Vorteil", sagt er. "Football-Intelligenz. Die ist für einen Quarterback das Wichtigste. Er muss das Spiel lesen können und wissen, wie man die Schwächen seines Gegners gezielt nutzt."

Eine Mischung aus Montana und Rodgers

Und genau das will er bei den Packers perfektionieren. Sein Vorbild dabei: Joe Montana. Sein Lehrer: Aaron Rodgers. Keine schlechte Kombination.

"Von Aaron kann man eine Menge lernen", schwärmt Harrell. "Er ist ein großartiger Quarterback und ein toller Lehrer. Ich versuche, so viel wie möglich mit ihm zu reden und ihn ganz genau zu beobachten. Egal, ob beim Training oder in den Meetings. Dadurch werde ich besser. Ich versuche einfach, all die Kleinigkeiten, die ihn ausmachen, aufzusaugen."

"Wenn meine Chance kommt, bin ich bereit"

Harrells Ziel: "Ich will mich jeden Tag verbessern und die Packers zu einem noch besseren Team machen. Egal, was sie von mir verlangen. Ich werde es tun." Das sagt er. Auch wenn er genau weiß, dass es bedeutet, erneut nur auf der Bank zu sitzen. Denn auch Harrell weiß: "Obwohl Aaron erst kurz dabei ist, ist er bereits extrem erfolgreich. Und er wird immer noch besser." Ihn abzulösen? Das ist so gut wie ausgeschlossen.

Und dennoch glaubt Harrell an seine Chance. "Ich arbeite hart daran, das Packers-System zu verstehen und fühle mich jeden Tag wohler. Wenn meine Chance kommt, bin ich bereit." Selbst der Posten als Nummer zwei (aktuell Matt Flynn) wäre für Harrell ein Erfolg.

Trainer? Vielleicht bei den Packers

Und was, wenn die Karriere doch irgendwann vorbei ist, bevor sich richtig begonnen hat?

Dann wird Graham Harrell Trainer. In der Offseason arbeitet er bereits an der Oklahoma State University. Einige munkeln sogar, er solle bei den Packers irgendwann die Quarterback-Ausbildung übernehmen. "Wenn meine Karriere als Spieler tatsächlich irgendwann vorbei ist", sagt Harrell, "dann werde ich definitiv Trainer. Das liegt bei mir in der Familie. Mein Vater, mein Bruder, mein Großvater - alle waren oder sind Football-Coaches."

Doch das kann warten, sagt Harrell. Erst will er spielen. In der NFL. Für die Packers. Und seinen ersten Pass hat er bereits geworfen. In der Preseason. Und der ging gleich über 23 Yards. Kein schlechter Einstand für einen, den in der NFL niemanden interessiert.

Update: Wenige Tage nach unserem Artikel wurde Graham Harrell beim letzten Cut vor der Saison von den Packers entlassen.

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