NBA

Das Superteam aus dem Reagenzglas

Ben Simmons, Joel Embiid
© getty

Die Philadelphia 76ers haben das vielleicht aufregendste junge Team der NBA. Dadurch behält derjenige, der den Grundstein für das Team um Joel Embiid und Ben Simmons gelegt hat, letzten Endes doch Recht.

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Ein 2,08 Meter großer Point Guard rauscht im Fastbreak durchs Staples Center. Er wird angespielt, dribbelt einmal und lässt dann seinen vermeintlichen Hauptkonkurrenten um den Rookie of the Year-Award mit einem Eurostep aussteigen, bevor er den Ball im Vorbeigehen in den Korb drückt. Ben Simmons beendet die Partie gegen die Lakers mit 18 Punkten, 10 Assists, 9 Rebounds und 5 Steals.

Im 14. Spiel seiner Karriere wäre es beinahe das dritte Triple-Double geworden. Simmons ist eine Naturgewalt, noch besser als angekündigt. Wenn er im Osten in diesem Jahr All-Star wird, sollte niemand groß überrascht sein. Trotzdem redet nach diesem Spiel kein Mensch über ihn.

Ein (mindestens) 2,13 Meter großer Center zieht zum Korb, wo sich ihm einer der besseren Shotblocker der Liga in den Weg stellt. Er tänzelt um ihn herum, ebenfalls per Eurostep, und legt den Ball mühelos in den Korb. Wenig später packt er einen Dream-Shake a la Hakeem Olajuwon aus, vorher versenkte er bereits zwei Dreier. Joel Embiid beendet die Partie mit 46 Punkten, 15 Rebounds, 7 Assists und 7 Blocks.

Und irgendwo sitzt ein kleiner Mann und nickt. Sein Plan ist aufgegangen. Auch wenn er selbst kein Teil mehr davon ist.

Hinkie hinterließ einen Kult

Die "Process"-Strategie von Sam Hinkie, dem im April 2016 "gegangenen" Ex-GM der Sixers, wurde oft genug erklärt, daher hier nur die Kurzform: Man sollte erst richtig mies werden, bevor man gut werden kann. Mehrere Saisons wurden von den Sixers abgeschenkt, um hohe Draft-Picks zu bekommen. Siege wurden vom Management jahrelang aktiv verhindert.

Diese Strategie wurde mit viel Häme und Abneigung begleitet, verständlicherweise. Zumal es dann so wirkte, als würde Hinkie regelmäßig auf das falsche Pferd setzen, als er beispielsweise Jahlil Okafor vor Kristaps Porzingis draftete oder 2013 gleich zweimal die Chance verpasste, Giannis Antetokounmpo zu draften, obwohl dieser als (damaliges) Langzeitprojekt eigentlich zum Sixers-Plan gepasst hätte.

Auch die Sixers selbst hatten irgendwann genug und setzten ihm, auch auf Drängen der NBA, 2016 Jerry Colangelo vor die Nase, der wenig später dann auch seinen Sohn Bryan nach Philly holte - Hinkie erkannte die Zeichen der Zeit und ging "von selbst". Er verabschiedete sich mit einer Art Manifest, in der er sämtliche Moves seiner Amtszeit noch einmal erklärte.

Für Außenstehende wirkte dies damals kleinlich, viele Sixers-Fans gingen trotzdem auf die Barrikaden und verdammten das neue Front Office. Embiid selbst ehrte Hinkie bei jeder Gelegenheit, indem er dessen Mantra "Trust the Process" komplett verinnerlichte - Hinkie hatte einen Kult hinterlassen. Heute darf man festhalten: Er hat außerdem das aufregendste junge Team der Liga geschaffen.

Überall ist Hinkies Handschrift

Seine Handschrift findet sich heute überall im Kader. Simmons wurde zwar nicht mehr von ihm gepickt, Philly hatte den No.1-Pick aber nur wegen Hinkies "Arbeit" bekommen. Dario Saric wurde von ihm per Draft-Day-Trade für Elfrid Payton akquiriert, obwohl der Kroate danach noch zwei Jahre in Europa spielte.

Nik Stauskas wurde von Hinkie in einem der einseitigsten Trades der Neuzeit mitsamt einem Pick-Swap aus Sacramento geholt, T.J. McConnell kam als Undrafted Free Agent für einen vollen Benzin-Tank und eine Tüte Kartoffelchips.

Genauso übrigens wie Robert Covington, dem Hinkie 2014 einen Vierjahresvertrag über 4,6 Millionen Dollar aufschwatzte, wovon zunächst nur 400.000 Dollar garantiert waren. Der Deal war so legendär günstig, dass er in NBA-Kreisen danach zum "Hinkie Special" deklariert wurde.

Mittlerweile ist Covington ein so guter Spieler, dass die Sixers ihm in dieser Woche mit dem größten Vergnügen eine Gehaltserhöhung auf 15 Millionen Dollar in dieser Saison gegeben haben. Eine größere Anhebung des Gehalts innerhalb einer Saison hatte es noch nie gegeben.

Joel Embiid: Das Kronjuwel

Das Kronjuwel - und gleichzeitig Hinkies größtes Problem - war aber Embiid. Hinkie entschied sich 2014 an 3. Stelle für den Kameruner, obwohl dieser einen gebrochenen Fuß hatte. Er wartete zähneknirschend, als Embiid die ersten beiden Saisons komplett aussetzen musste.

Schon paradox: Wenn Embiid sein Debüt ein paar Monate früher gegeben hätte, wäre Hinkie bei den Sixers womöglich immer noch im Amt. Seine Rookie-Saison war trotz Minutenlimit und ganzen 31 Einsätzen historisch. Philly performte letzte Saison schon wie ein 50-Siege-Team, wenn Embiid dabei war; in dieser Saison könnte es damit vielleicht wirklich klappen.

Joel Embiid: Der ultimative Endgegner?

Man will ja immer noch vorsichtig sein mit dem Hype, gerade weil man keine Ahnung hat, ob Embiid gesund bleibt. Wann immer er hart gefoult wird oder zu Boden geht, halten nicht nur Sixers-Fans aus Angst den Atem an - aber das spricht eben auch für ihn. Denn wenn er spielt, gibt es kein faszinierenderes Talent in der NBA.

In einer Liga voller "Unicorns" wirkt Embiid an seinen besten Tagen wie der ultimative Endgegner. Er kombiniert eine Olajuwon-esque Fußarbeit und Shaq-artige Power mit guter Range bis hinter die Dreierlinie, er packt Eurosteps und Power-Dunks aus, offensiv gibt es nichts, was er nicht kann, obwohl er immer noch eine Turnover-Fabrik ist. Beim Passen macht er Fortschritte, nachdem er letzte Saison noch die Definition eines schwarzen Lochs war.

Was ihn zudem von den anderen jungen Supertalenten der Liga unterscheidet: Embiid dominiert nicht nur offensiv, er ist jetzt schon einer der besten Verteidiger. Steht der Big Man auf dem Court, weist Philly ein Defensiv-Rating von 96,4 auf - das wäre aktuell der zweitbeste Wert der NBA. Ohne ihn verteidigen die Sixers auf dem Niveau der Cavaliers (110,6), die momentan die schlechteste Defense der Liga ihr Eigen nennen.

Ben Simmons begeistert als Playmaker

"Er ist ein Problem", sagte Lakers-Coach Luke Walton am Mittwoch, nachdem Embiid sein Team komplett auseinandergenommen hatte. Das ist er - wenn er denn gesund bleibt beziehungsweise fit wird. Laut eigener Aussage steht der 23-Jährige konditionell ja gerade einmal bei 50 Prozent, nachdem er große Teile der Vorbereitung aussetzen musste.

Mit ihm steht und fällt vieles in Philly, seit dieser Saison aber nicht mehr alles. Denn auch Simmons konnte bisher schon andeuten, dass er ein revolutionäres Talentpaket mitbringt. Er wartet immer noch auf den ersten Dreier seiner NBA-Karriere, aber abgesehen vom Wurf fehlt es ihm an nichts. Insbesondere sein Passspiel ist sensationell - der Rookie spielt momentan die fünftmeisten Assists (7,7) der Liga.

"Es ist unglaublich, als Rookie so zu passen", staunte sein Coach Brett Brown kürzlich. "Er kann scoren und das hilft auch, aber es ist keine Pflicht. Er muss nicht zwingend Würfe treffen, um effektiv zu sein." Simmons ist noch besser als angekündigt. Das vergangene Jahr, in dem er zum Zuschauen verbannt war, hat sein Spiel verglichen mit seinem College-Jahr enorm reifen lassen.

Was macht eigentlich Markelle Fultz?

Zusammen formen die beiden ein Duo, das die Sixers-Fans träumen lässt. Dass der diesjährige No.1-Pick Markelle Fultz bei seinen vier Einsätzen bisher verheerend aussah und seitdem verletzt aussetzt, ist daher schon fast zu einer Randnotiz verkommen - ein aussagekräftigeres Testament für das Potenzial der jungen Sixers könnte es kaum geben.

Natürlich müssen sie dieses auch erstmal erreichen. Garantien gibt es dafür keine, für Embiids Gesundheit sowieso nicht. Und erreicht ist ohnehin noch nichts. "Ich habe noch nicht einmal ansatzweise das Gefühl, dass wir angekommen sind", sagte Brown Anfang der Woche zu The Ringer.

Das sind sie auch nicht. Aber mit jedem Dreamshake von Embiid, jedem No-Look Pass von Simmons, jedem Dreier von RoCo wird der Process ein kleines bisschen vorangetrieben. Genauso, wie es sich Hinkie einst vorgestellt hatte.

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