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NBA Legenden-Serie: Wilt Chamberlain - Die Legende des Goliath

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Wilt Chamberlain war lange vor Michael Jordan und LeBron James der erste Megastar des Basketballs. Auf dem Feld brachte er physische Attribute mit, die seiner Zeit weit voraus waren, und dominierte seine Gegner nach Belieben. Abseits des Courts lebte er wie ein Rockstar. Am 21. August wäre er 87 Jahre alt geworden.

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Dieser Artikel erschien ursprünglich am 10. Februar 2015. Alle weiteren Geschichten zu den Legenden der NBA findet Ihr in unserem Archiv.

Nur wenige Sportarten sind durch Statistiken ähnlich gut zu erfassen wie Basketball. Natürlich sagen die Zahlen, vor allem die traditionellen, nicht alles aus - aber wer sich einen Boxscore anschaut und auf Punkte, Rebounds und Assists blickt, bekommt normalerweise einen guten Eindruck davon, wer in der jeweiligen Partie den größten Einfluss auf den Sieg hatte.

Im Idealfall bestätigen die Statistiken, was man mit den eigenen Augen sieht, und helfen dabei, das Gesehene einzuordnen. Wenn Klay Thompson im dritten Viertel für 37 Punkte explodiert, sieht man einerseits, wie jemand komplett die Kontrolle übernimmt, und wird andererseits noch während des Viertels permanent darüber informiert, dass hier gerade potenziell etwas Historisches entsteht und wie viele Punkte noch zum NBA-Rekord in einem Viertel fehlen.

Thompson schrieb 2015 Geschichte und wird fortan in jedem Rekord-Buch auftauchen. Heute kann man seine Leistung einordnen, weil es über die Jahrzehnte ausreichend Vergleichswerte gegeben hat.

Das war zu den Zeiten von Wilt Chamberlain nicht der Fall, als der Sport noch in den Kinderschuhen steckte und das Regelwerk erst rudimentär dem ähnelte, das heute genutzt wird. Und trotzdem haben etliche von Wilts Bestmarken immer noch Bestand.

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Wilt Chamberlain: Ein Rekord nach dem anderen

Der berühmteste Rekord, den Chamberlain aufgestellt hat, ist natürlich ein dreistelliger. 100 Punkte in einem Spiel, ein Wert, der so bizarr und unfassbar ist (die Geschichte zu diesem Spiel gibt es hier). Lediglich Kobe Bryant kam in der langen Geschichte der NBA ansatzweise in die Nähe dieser Bestmarke, aber auch er schaffte nur 81 Prozent davon. Es ist aber bei weitem nicht die einzige Statistik in Bezug auf Wilt, welche die geneigte Kinnleiste in Tex-Avery-Manier gen Boden rasen lässt.

Wie wäre es mit 27,2 Rebounds pro Spiel in einer Saison? 55 Rebounds in einer Partie? Oder 50,4 Punkten pro Spiel? 45 50-Punkte-Spielen in einer Saison (kein anderer hat mehr als 10)? 14 40-Punkte-Spielen IN FOLGE?

Man könnte den ganzen Tag solche Statistiken aufzählen, ohne der unfassbaren Dominanz Chamberlains wirklich gerecht zu werden. Ganz zu schweigen davon, dass er die Liga als Center in einer Saison bei den Assists anführte und dass damals noch keine Blocks erhoben wurden, die sein Portfolio an Rekorden sogar noch umfassender gemacht hätten.

"Er war einfach furchteinflößend"

Zu sagen, dass Wilt seiner Zeit voraus war, wäre in etwa so zutreffend wie die Aussage, dass die 2018er Warriors eine recht gute Truppe sind. Es reicht bei weitem nicht. Chamberlain kam seinen Zeitgenossen vor wie ein Alien, weil er größer, stärker und athletischer war als alles, was der Sport bis dahin gesehen hatte.

Nur Bill Russell konnte davon träumen, ihn defensiv einigermaßen in Schach zu halten - es war schlicht unfair. Wie David gegen Goliath, nur ohne das basketballerische Äquivalent von Davids Steinschleuder. "Er war einfach furchteinflößend. Bevor er kam, waren Basketballer in der Regel so groß wie Normalsterbliche. Wilt hat das geändert", blickte ESPN-Journalist Hal Bock einst zurück.

Die NBA nahm tatsächlich sogar mehrere Regeländerungen vor, um Chamberlains Dominanz einzuschränken. Unter anderem wurde die Zone vergrößert, um ihn weiter weg vom Korb zu halten, und Offensive Goaltending wurde untersagt. Nicht zuletzt verboten sowohl die NBA als auch vorher die NCAA zwischenzeitlich Dunks, wodurch Wilt das Punkten erschwert werden sollte.

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NBA-Legende: Wie Shaq gegen bierbäuchige Türkoglus

Besonders effektiv war nichts davon. Die Liste von Chamberlains individuellen Auszeichnungen ist üppig und unter anderem mit vier MVP-Awards, 13 All-Star Games, sieben All-NBA First Teams, sieben Scoring-Titeln und gleich elf Rebound-Titeln bestückt. Nur Michael Jordan schaffte jemals einen höheren Karriere-Schnitt als "Wilt the Stilt" (30,1 Punkte).

Es existieren nicht allzu viele Bewegtbilder aus Wilts aktiven Zeiten, weshalb man sich zu einem großen Anteil auf die Aussagen von Zeitzeugen verlassen muss. Diese sprechen üblicherweise von einer Dominanz, die nie wieder ansatzweise erreicht wurde - als würde man den jungen Shaquille O'Neal ausschließlich gegen bierbäuchige Hedo Türkoglus antreten lassen.

Wilt Chamberlain: Liebe fürs Rampenlicht

In einer Liga, deren Spieler während der Sommerpause in der Regel noch Zweitjobs haben mussten, um über die Runden zu kommen, war Wilt zudem einer der ersten, die auch abseits des Courts populär wurden. Im Gegensatz etwa zu seinem ewigen Rivalen Russell liebte er das Scheinwerferlicht und war jahrelang das beliebteste Interview-Objekt der gesamten Association.

Bereits am College in Kansas erreichte er einen hohen Bekanntheitsgrad, sodass ihm die Harlem Globetrotters 1958 für die damaligen Verhältnisse ein unverschämt gutes Angebot machten (rund 50.000 Dollar). Wilt hatte keine Lust mehr auf Uni und sagte zu.

Der Abstecher war ein Erfolg; besonders beliebt war ein Stunt der Globetrotters, bei dem Meadowlark Lemon auf dem Boden lag und Chamberlain ihm nicht aufhalf, sondern ihn wie eine Puppe einige Meter in die Luft warf. "Wilt war der stärkste Athlet, der jemals gelebt hat", sagte der ungefähr 105 Kilo schwere Lemon später. Ein weiterer Mosaikstein in Chamberlains Legende.

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20.000 Frauen

Als er 1959 unter großem Getöse endlich in der NBA ankam, verschwendete er keine Zeit: Schon in seinem ersten Jahr räumte er den Rookie of the Year-Award ab und wurde MVP des All-Star Games sowie der Regular Season. Und auch im Privatleben machte er von Beginn an keine Gefangenen.

Zeit seines Lebens war er sowohl als Geschäftsmann, als auch als Autor und später als Schauspieler ("Conan der Zerstörer" mit Arnold Schwarzenegger) tätig. Und natürlich waren da auch die Ladies: Chamberlain, der nie eine langfristige Beziehung einging, behauptete einmal, er habe mit 20.000 Frauen geschlafen. In seiner Autobiographie "Wilt" beschrieb er diese Abenteuer teilweise bis ins kleinste Detail.

"Larger than life"

Chamberlain war in seinen 63 Lebensjahren auf und neben dem Feld die Definiton von "larger than life", ein multitalentierter, physisch unheimlich gesegneter Playboy und Lebemann. Es ist daher keine Überraschung, dass er 2014 zum ersten NBA-Spieler überhaupt wurde, der von der amerikanischen Post mit einer eigenen Briefmarke geehrt wurde.

"Die Leute sollten sich an die Großen erinnern. Und niemand war jemals größer oder besser als Chamberlain", erklärte Donald Hunt, der die Kampagne für Wilts Ehrung bereits 2008 gestartet hatte. Letztendlich sind es sogar zwei Motive geworden, die - wie passend - deutlich größer sind als normale Briefmarken.

Keine Frage: Chamberlain war eine unheimlich imposante Erscheinung, ein unglaublicher Spieler, der dominanteste Athlet, den die NBA je gesehen hat (sorry, Shaq). Umso faszinierender ist es, dass Chamberlain von seinen Zeitgenossen enorm kritisch betrachtet wurde.

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NBA: Russell oder Chamberlain?

Jede Debatte um Chamberlain beginnt natürlich mit dem großen Vergleich: Russell oder Chamberlain? Die beiden Center-Dinosaurier, die den Großteil ihrer Karrieren immer wieder gegeneinander antraten, faszinierten Experten und Fans schon zu aktiven Zeiten und bleiben bis heute ein gerne aufgewärmtes Diskussions-Thema.

Der frühere ESPN-Experte Bill Simmons widmete der Frage in seinem Almanach "The Book of Basketball" gar ein ganzes Kapitel und kam dabei zu einem mehr als eindeutigen Schluss: Russell hatte Chamberlain im Griff und gewann nahezu jedes direkte Duell, das etwas bedeutete. Die große Debatte sei demnach eigentlich keine, weil das Ergebnis so eindeutig war.

Nur um das klarzustellen: Simmons ist ein Die-Hard-Fan der Celtics, weshalb man nicht unbedingt mit positiven Aussagen über Lakers-Legenden von seiner Seite rechnen muss. Die Debatte soll hier auch gar nicht wieder aufgerollt werden. Um die Kritik an Wilt zu verstehen, sind die von Simmons gesammelten Zitate von Rivalen und Mitspielern allerdings sehr nützlich.

NBA-Legende: "Wilt ist ein Verlierer"

"Ich werde jetzt das sagen, was die meisten Spieler denken: Wilt ist ein Verlierer", schreibt beispielsweise Rick Barry in seiner Biographie, "er ist schrecklich in wichtigen Spielen. Er weiß, dass er verlieren wird und die Schuld dafür tragen muss, und er hasst es, und man kann es in seinen Augen sehen. Man kann ihn nicht mit Clutch-Spielern wie Russell oder Jerry West vergleichen."

In der Tat sind die Resultate seines Teams in den wichtigsten Spielen überraschend dürftig, was nicht selten mit Wilt zu tun hatte: Er war ein schwacher Freiwurfschütze, was ihn in der Crunchtime ineffektiver machte. Zudem hatte er die bizarre Ambition, niemals auszufoulen - sobald er sein fünftes Foul kassiert hatte, spielte er in der Defense deutlich weniger physisch und schadete seinem Team dadurch.

Er galt als Primadonna, die den eigenen Erfolg für wesentlich wichtiger hielt als den Erfolg des Teams: "Wilt war zu fokussiert auf Rekorde; die Liga bei den Assists oder bei der Wurfquote anzuführen und so weiter. Er erreichte ein individuelles Ziel und konzentrierte sich auf das nächste, während Russell nur fragte: 'Was kann ich tun, damit wir gewinnen?'", schrieb Bill Bradley.

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"Wilt ist leicht zu hassen"

Nicht zuletzt hatte Chamberlain ein Talent dafür, mit Trainern und Teambesitzern aneinander zu geraten, was erklärt, warum ein Spieler seines Kalibers zweimal getradet wurde. Als er die Warriors verließ, kommentierte der damalige Besitzer Frank Mieuli: "Die Leute in San Francisco haben ihn nie lieben gelernt. Wilt ist leicht zu hassen, die Leute sind gekommen, um ihn verlieren zu sehen."

Eigentlich ist über sein Standing in der Liga alles gesagt, wenn man folgendes betrachtet: Als die Warriors ihn 1965 loswerden wollten, wurde unter den Lakers eine Abstimmung durchgeführt, ob man sich um Wilt bemühen sollte. Die Spieler entschieden mit 9 zu 2 dagegen... obwohl sie Jahr für Jahr in den Finals von den Celtics und Russell vorgeführt wurden.

Jerry West, der 1972 gemeinsam mit Chamberlain die Meisterschaft nach Los Angeles holte, fasste die Bedenken später zusammen: "Ich will Wilt nicht schlecht reden, weil ich glaube, dass nur Russell besser war und ich Wilt sehr respektiere. Aber ich muss sagen: Man musste sich an ihn anpassen, weil er sich nicht ans Team anpassen würde."

Wilt Chamberlain: Neid und Frust

War einer der Gründe für die zahlreichen Kritiker Neid? Sicher. Das ist der Preis, den jeder zahlt, der so viel mehr Talent und Kraft hat als andere. Die Ursachenfindung hört damit aber nicht auf, denn auch das Wort "Frust" spielte bei der Bewertung Chamberlains eine entscheidende Rolle.

Wilt war im Gegensatz zu Russell kein manischer Titelsammler, trotzdem gewann er immerhin zwei Meisterschaften - und gerade die erste, die er 1967 mit den Sixers holte, kann im Nachhinein frustrieren. Denn sie zeigte, wozu er in der Lage war, wenn er sich einzig und allein der Meisterschaft verschrieb.

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Tough love durch Hannum

Vor der Saison wurde mit Alex Hannum ein neuer Coach geholt, der zu Beginn direkt mal alle Schwachstellen des Teams aufzeigte und vor allem Chamberlain harsch kritisierte. Der war zunächst nicht gerade begeistert und hätte sich mehrmals beinahe mit Hannum geprügelt, da der Coach aber hart blieb und jederzeit klar machte, wer die Entscheidungen traf, gewann er nach und nach den Respekt seines Centers.

Der sollte sich mehr auf die Defense konzentrieren, uneigennütziger spielen und die Bretter kontrollieren. Die Rechnung ging auf; Chamberlain punktete weniger als je zuvor in seiner Karriere, war dafür aber bester Rebounder und drittbester Passer der Liga. Die Sixers stellten mit 68 Siegen einen damaligen Rekord auf und krönten sich in den Playoffs zum Champion, nachdem sie erst die Nemesis aus Boston und dann Wilts altes Team aus San Francisco aus dem Weg geräumt hatten.

Chamberlain begann während der Saison erstmals, seine Mitspieler öffentlich zu loben und lud zu Mannschaftsessen ein, weil er viel mehr verdiente als alle anderen. Er sprach davon, dass diese Sixers das "beste Team aller Zeiten" waren, und genoss den Erfolg sichtlich.

Wie üblich in seiner Karriere sollte es aber nicht dabei bleiben: Nur ein Jahr später verließ Hannum die Mannschaft, Chamberlain zerstritt sich mit Besitzer Irv Kosloff und wurde zum zweiten Mal getradet - trotz drei MVP-Awards nacheinander.

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Niemand will Goliath gewinnen sehen

Natürlich folgte in L.A. noch ein weiterer Titel in einer Saison, in der die Lakers 33 Spiele in Folge gewannen - die längste Serie aller Zeiten und abgesehen davon noch ein Rekord für Chamberlains Briefkopf. Kann so jemand ein Verlierer sein? Nur, wenn man ihn an unmenschlichen Maßstäben misst.

So ist das eben, wenn man Goliath ist - ein Spitzname, den Chamberlain verständlicherweise hasste. Jeder ist glücklich, wenn Goliath verliert. Niemand ist beeindruckt, wenn Goliath triumphiert. In dieser Situation kann man nicht gewinnen.

Gut, dass er lernte, damit umzugehen: "Für mich ist Basketball ein Spiel, kein Kampf um Leben und Tod. Ich brauche keine Meisterschaften, um zu beweisen, dass ich ein Mann bin. Es gibt zu viele schöne Dinge im Leben, als dass man alles vom Basketball abhängig machen müsste", schrieb er in seiner Biographie.

Wilt Chamberlain: Würdigung durch basketball-reference

Wie man seine Karriere auch bewerten will, sein Ausnahmestatus in der Geschichte der NBA ist in Stein gemeißelt. Die Seite basketball-reference.com hat eine Kategorie "on this date in NBA history", die herausragende Leistungen würdigt; dabei vergeht kein Tag, an dem man keine Statline a la "53 Punkte und 37 Rebounds" vom "Big Dipper" zu sehen bekommt.

Was für 99,9999999 Prozent aller Basketballspieler als mit Abstand bestes Spiel der Karriere gelten würde, war für ihn einfach nur ein weiterer Tag im Büro. Das ist sein Vermächtnis - und das wird auch so bleiben. Wilt Chamberlain war einzigartig in der Geschichte des Basketballs.