NBA

Gefangen in den Heldentaten von gestern

Von Cliff Schmit
Der aggressive Zug zum Korb ist weiterhin eine der großen Stärken des 24-jährigen Jeremy Lin
© getty

Anderthalb Jahre ist es her, da eroberte ein schüchterner und lange Zeit verkannter junger Mann die Liga im Sturm. Nach seiner ersten kompletten Spielzeit im Trikot der Houston Rockets scheiden sich mehr denn je die Geister am 24-Jährigen. Vor allem sein Zusammenspiel mit James Harden wirft Fragen auf. Dem Hype um seine Person tut dies jedoch keinen Abbruch. Im Herbst kommt sogar eine Lin-Dokumentation in die US-Kinos.

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"Linsanity ist derart gelungen, dass ich während der Vorführung einige Male richtig Gänsehaut hatte. Der Film ist inspirierend, aufrichtig, mitreißend und hat die Außenseiterstory schlechthin zum Thema. Er verleiht einer modernen Sportlegende ein menschliches Gesicht."

Diese Worte stammen von Filmkritiker Ben Pearson, nachdem er im Januar dieses Jahres zum ersten Mal die Dokumentation über Jeremy Lin gesehen hatte. Der 88-minütige Film von Evan Jackson Leong feierte beim Sundance Festival in Park City Premiere und wird im kommenden Herbst in den amerikanischen Kinos zu sehen sein.

Traum eines Dokumentarfilmers

Über fünf Jahre lang hat der chinesisch-stämmige Leong den derzeitigen Guard der Houston Rockets begleitet. Herausgekommen ist ein persönliches Porträt eines ruhigen und nachdenklichen jungen Menschen, der es trotz vieler Widerstände bis ganz nach oben geschafft hat.

"Dass seine Karriere einen derartigen Verlauf genommen hat, ist natürlich der Traum eines jeden Dokumentarfilmers. Der Sprung in die NBA war bereits ein guter Aufhänger für uns, aber was sich anschließend abgespielt hat, ist einfach nur erstaunlich. Wir haben immer weiter gefilmt, obwohl wir kein richtiges Ende in Sicht hatten. Die Ereignisse im letzten Februar waren dann aber der krönende Abschluss unserer Arbeit," so ein mit seiner Arbeit zufriedener Leong.

Das starke Interesse am Film sowie die positiven Resonanzen von Fachleuten und Fans illustrieren sehr deutlich, dass Lin auch knapp anderthalb Jahre nach seinem kometenhaften Aufstieg immer noch ein soziales und mediales Phänomen ist.

Durchschnittliche Saison

Auf dem Basketballcourt ist es um den gebürtigen Kalifornier allerdings etwas ruhiger geworden. Seine erste komplette Spielzeit bei den Rockets kann man getrost mit dem Prädikat "durchschnittlich" versehen. Trotz seiner soliden Leistungen spaltet der Aufbauspieler die Szene wie kaum ein zweiter.

"Es hat den Anschein, als gebe es bei meiner Wahrnehmung lediglich zwei völlig gegensätzliche Standpunkte. Für die einen bin ich überbezahlt und überschätzt, für die anderen ein unterbezahlter und unterschätzter Außenseiter. Ich finde es lustig, dass es keinen Mittelweg zu geben scheint. Warum kann ich nicht einfach ein junger Spieler sein, der einiges an Potenzial gezeigt hat, jedoch noch viele Steigerungsmöglichkeiten besitzt," schätzt Lin seine eigene Außendarstellung realistisch ein.

Distanzwurf weiterhin nicht vorhanden

Lins größte Stärke bleibt weiterhin sein aggressiver Zug zum Korb. Er ist aus dem Dribbling und besonders im Pick'n'Roll nur sehr schwer zu bändigen und hat seine Trefferquote in Ringnähe während der letzten Saison noch einmal deutlich gesteigert.

Neben seiner nach wie vor vorhandenen Turnoveranfälligkeit bleibt sein wackliger Distanzwurf eine nicht zu ignorierende Baustelle in seinem Spiel. Lin ist alles andere als ein Spot-up-Shooter und auch sein Dreier lässt ihn immer noch zu häufig im Stich (33 Prozent). Eine Steigerung in den Monaten Februar bis April auf 39,3 Prozent ist immerhin ein guter Ansatz.

Was die Statistiken anbelangt, so bietet der 24-Jährige jedoch keine offensichtliche Angriffsfläche. Sein Punkteschnitt ist im Vergleich zu seinem Durchbruch bei den Knicks zwar leicht zurückgegangen (von 14,6 auf 13,4), bei den Assists (6,1), Rebounds (3,0) oder Steals (1,6) legt er jedoch nahezu identische Werte auf.

Hinzu kommt, dass er seine angsteinflößende Turnoveranzahl aus der Vorsaison merklich verbessern konnte (von 3,6 auf 2,9). Lin ist zwar weiterhin kein Floor General, wie er im Buche steht, in einer der schnellsten und jüngsten Offensiven der Liga hat er jedoch keineswegs enttäuscht.

Völlig andere Rolle als in New York

Das sieht auch Mitspieler Chandler Parsons ähnlich, wenn er sagt: "Jeremy hat sich im Laufe der Saison immer besser angepasst und organisiert unser Angriffsspiel mittlerweile mehr als ordentlich. Er achtet darauf, dass wir unsere Sets laufen und versucht all die kleinen Dinge umzusetzen, die unser Coach uns vorgibt."

Bei allen Zweifeln an seinen Spielmacherqualitäten darf man nicht vergessen, dass der Point Guard im System der Rockets eine völlig andere Rolle einnimmt als bei seinem Breakthrough im Trikot der Knicks.

War Lin zu seinen Glanzzeiten im Madison Square Garden noch unangetasteter Ballführer und, in Abwesenheit von Carmelo Anthony, erste Angriffsoption seiner Mannschaft, so musste er in Houston erst lernen, wann er sich zurückhalten soll und wann er auf das Gaspedal drücken darf.

Harmonie mit Harden ausbaufähig

Vor allem sein Zusammenspiel mit James Harden gestaltet sich zuweilen schwierig. Beide sind sich in ihrer Spielweise ähnlich, beide lieben das Pick'n'Roll und es ist kein Geheimnis, dass auch der ehemalige Thunder nur allzu gerne den Ball in den Händen hält.

Die Krux für Lin ist jedoch, dass Harden wesentlich effektiver ist, mehr Fouls zieht und seine Mitspieler ebenfalls aus dem Drive in Szene setzen kann.

Die Ankunft von Dwight Howard wird das offensive Gefüge der Rockets zusätzlich verschieben. Howard in der Mitte und ein zu ungestümer Lin auf der Spielmacherposition könnte zur Folge haben, dass Harden im Angriff zusehends zurückstecken muss.

Zwei Optionen für die Rockets

Um dieser drohenden Problematik aus dem Weg zu gehen, gibt es für die Rockets eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die erste besteht darin, den 24-Jährigen inklusive seines 25-Millionen-Vertrages wegzutraden. Ein Szenario, über das in den letzten Wochen in den US-Medien kontrovers diskutiert wurde.

Ob sich die Texaner ernsthaft über Trades bei anderen Teams erkundigt haben, ist dabei nicht überliefert. Unstrittig ist jedoch, dass GM Daryl Morey in den letzten Tagen immer wieder betont hat, dass man keine solchen Gedanken hegen würde: "Wir haben überhaupt kein Interesse daran, Jeremy abzugeben. Auch Dwight hat ausdrücklich betont, dass er sehr gerne an seiner Seite auflaufen würde."

Bliebe also nur noch die zweite Option, die da lauten würde, dass Lin die Second Unit von Houston anführen würde. Der Harvard-Absolvent hat durchaus die Anlagen, ein wertvoller Sixth Man zu sein, der die Rockets-Offensive am Laufen hält und die Ersatz-Guards der Gegner dank seiner aggressiven Herangehensweise vor Schwierigkeiten stellt.

Ein weiterer positiver Nebeneffekt wäre der, dass Harden mit Patrick Beverley einen defensivstärkeren Partner im Backcourt an seiner Seite haben würde. Lin ist zwar kein schlechter Verteidiger, doch Beverley bringt mehr Energie und Biss in die Partie und könnte somit die Defensivschwächen des Bärtigen besser kaschieren.

Noch kein One-Hit-Wonder

Man muss abwarten, wie die Rockets und vor allem Kevin McHale nun genau mit Lin planen werden. Der ehemalige Star der Celtics weiß den Rummel um seinen Point Guard jedenfalls sachlich zu kommentieren: "Linsanity waren drei unglaubliche Wochen in seinem Leben. Wenn er 80 ist und auf seine Karriere zurückblickt, wird er zu sich sagen: 'Mann, war das magisch'. Aber diese Magie hält nicht ein ganzes Leben an."

Es ist sicherlich noch verfrüht, Lin als One-Hit-Wonder zu verschreien. Er ist einfach noch zu jung und zu entwicklungsfähig, um in diese negativ konnotierte Schublade verfrachtet zu werden. Was er allerdings tun muss, ist sich in gewisser Weise neu zu erfinden.

Abstand gewinnen von seinen Galazeiten im Big Apple, sich vor allem einen verlässlichen Jumper zulegen und beweisen, dass er die Ruhe und das Auge hat, um die Offensive eines Contenders zu dirigieren. Wenn dabei ein mehr als solider NBA-Spieler herauskommt, ist Lin sicherlich der letzte, der sich darüber beschweren würde.

Jeremy Lin im Steckbrief