NBA

Der tasmanische Teufel

Von Sebastian Dumitru
Genie und Wahnsinn liegen bei Russell Westbrook meist ganz nah beieinander
© getty

Am Sonntag empfängt Oklahoma City die Boston Celtics (ab 18 Uhr im LIVE-STREAM FOR FREE). Und wie immer fragen sich Thunder-Fans, welchen Russell Westbrook sie diesmal zu sehen bekommen: 'Good Russ' oder 'Bad Russ'?
 

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Alles hatte so gut angefangen: die neuen Fans in Oklahoma City schlossen Rookie-Guard Russell Westbrook dank überragender athletischer Fähigkeiten und unbändigem Einsatzwillen sofort ins Herz. Obwohl die Thunder in ihrer ersten Saison nach dem Umzug nur 23 Partien gewannen, überzeugte Westbrook mit 15,3 Punkten, 4,9 Rebounds und 5,3 Assists pro Partie und landete auf Anhieb im All-Rookie First Team.

In den beiden Folgejahren stiegen seine Spielanteile weiter (von 16,1 Punkte und 8 Assists auf 21,9 Punkte und 8,2 Assists pro Abend), während sich die Thunder über 50 und 55 Siege bis ins Finale der Western Conference vorkämpften. Erst da war dann gegen den späteren Meister Dallas Endstation.

Eigentlich lief alles nach Plan in OKC, aber während Kevin Durant und James Harden zu "everybody's darlings" avancierten, zog Westbrook zunehmend Kritik auf sich - und das trotz bärenstarken 23,8 Punkten, 5,4 Rebounds und 6,4 Assists in den Playoffs 2011.

Westbrook als Sündenbock

Der Sündenbock für alle Probleme im Team schien schnell auserkoren: Russell Westbrook, der wild überdrehende Anti-Point-Guard, der arrogante Ego-Zocker, der miese-Entscheidungen-Treffer.

"Westbrook ist eigensinnig" oder "Westbrook ist dumm im Kopf" waren noch die netteren Umschreibungen für den damals erst 22-Jährigen. Wieso sucht einer, der das Privileg hat, mit dem besten und effizientesten Scorer seiner Generation (Durant) und einem weiteren, begnadeten Kombo-Guard (Harden) zusammen zu spielen, auf Teufel komm raus den eigenen Abschluss?

Alles gut mit Durant

Wie sollte er spielen? Was für ein Spieler müsste er sein? Ja sogar: dürfte er sein? Die Kritikwelle erreichte ihren Höhepunkt, als Westbrook zu Beginn der Lockout-Saison in einer Partie gegen Memphis all seine 13 Wurfversuche auf den Ring setzte. Viele wollen da erste Brüche in der Beziehung zu seinem guten Kumpel Durant erkannt haben.

Westbrook sei neidisch auf dessen Erfolge und passe ihm deshalb nicht mehr den Ball zu. In der Tat nahm er vergangene Spielzeit fast genauso viele Würfe wie 'KD' (19,2 gegenüber 19,7 pro Spiel), obwohl seine True Shooting Percentage fast 10 Prozentpunkte niedriger war.

Was auf den ersten Blick wie ein Problem anmutet, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Segen für Oklahoma City. Nicht nur, dass keinerlei Korrelation zwischen Thunder-Niederlagen und einer hohen Westbrook-Nutzungsrate feststellbar ist, Durant profitiert auch noch wie kein anderer NBA-Spieler von Westbrooks Einfluss auf das Spiel und von dessen direkten Vorlagen.

Beide Stars spielen effizienter, wenn sie sich das Parkett teilen. Und Oklahoma City ist am erfolgreichsten, wenn Westbrook mehr Anteile sieht. Seit der Point Guard mehr Ballbesitze für sich nutzt als Durant, ist der Angriff der Thunder von Rang 12 (2009-10) über Rang 4 (2011) und Rang 2 (2012) auf die Eins in dieser Saison empor geschossen.

Taktische Vorgaben?

Und das, obwohl Westbrook beizeiten immer noch völlig außer Kontrolle agiert, sich zu viele Ballverluste leistet und zu häufig den Mitteldistanzwurf nimmt, obwohl er den (außer zentral aus knapp fünf Metern) recht ineffizient trifft. Wieso tut er das eigentlich?

Da wäre zum einen das Spielsystem von Coach Scott Brooks. Den zeichneten schon zu aktiven Zeiten eher sein Kampfgeist und seine motivatorischen Fähigkeiten aus, nicht so sehr taktische Brillanz oder ein hohes Spielverständnis. Fakt ist, dass Brooks' Playbook recht dünn daher kommt und sich lieber auf die One-on-One-Beschlagenheit seiner Protagonisten Durant und Westbrook verlässt, statt auf Komplexität.

Das führt häufig dazu, dass drei Thunder-Spieler still stehen, während Durant sich frei zu machen versucht und Westbrook den Ball in Grund und Boden dribbelt. Bricht die erste Option zusammen - was in der NBA permanent passiert - muss Westbrook den Retter in der Not spielen und häufig improvisieren, weil Brooks kaum sekundäre Play-Action implementiert hat. Das sieht dann meistens wild und überdreht aus, bringt aber den Thunder immer noch Zählbares, während viele andere Teams völlig leer ausgehen.

Crash-Kurs auf der Eins

Ein anderer Grund, weshalb die Anti-Westbrook-Wut zuweilen Überhand nimmt, hängt mit seiner Sozialisation als Basketballer zusammen: er ist kein purer Point Guard. Bevor er ihn die NBA wechselte, spielte Westbrook so gut wie nie auf der Eins, sondern gab in der High School und auf dem College den scorenden Kombo-Guard.

Plötzlich musste er die komplexeste Position im Basketball von Grund auf neu erlernen, ohne dabei jemals auf Anleitung durch einen NBA-Veteranen im Team zurückgreifen zu können.

Es half auch nicht, dass Brooks ihn in aller Öffentlichkeit vermehrt dazu drängte, aggressiv den eigenen Abschluss zu suchen, anstatt lieber seine Mitspieler in Szene zu setzen.

"Russ ist der athletischste Spieler der Welt. Für uns ist es am Besten, wenn er permanent attackiert", sagte Brooks immer. Ein gelernter Shooting Guard, gefangen im Körper eines Point Guards, mit der Lizenz zum Schießen von seinem Coach - wahrlich keine ideale Ausgangsposition für einen Youngster Anfang 20.

Reifeprozess

Westbrook hat seither aber enorme Lernfortschritte gemacht und präsentiert sich in seiner jetzt fünften Profisaison besser denn je. Er spielt Pässe, von denen er vor einigen Monaten noch nicht einmal wusste, dass sie existieren, liest Defensiven, trifft oft die richtigen Entscheidungen.

"Russell kam mit einer neuen Weisheit ins Training Camp, ein Jahr reifer, ein Jahr erfahrener und zufriedener mit sich selbst. Er geht mit sehr gutem Beispiel voran. Die meisten erkennen es gar nicht, aber er ist sehr viel erwachsener geworden", bescheinigt ihm der dienstälteste Thunder-Akteur Nick Collison.

Natürlich drängt 'Bad Russ' von Zeit zu Zeit noch an die Oberfläche - der tobende, innere Kampf zwischen seinen natürlichen Scoring-Instinkten und der Aufgabe des Playmakers, das Spiel des Teams zu dirigieren, ist Westbrook in jeder Phase anzumerken - aber 'Good Russ' behält heutzutage häufiger die Oberhand.

Er lernt weiter hinzu, wie er sich zurücknehmen und sein Alpha-Tier-Gebaren unterdrücken kann, wie er seinen Mitspielern vertraut oder wie er seine körperlichen Vorteile für Post-Ups und Drives statt schlecht getimten Jumpern gegen Doppeldeckung ausnutzt. Die NBA ist eine Liga des Lernens, und niemand hat in den letzten drei Jahren mehr hinzu gelernt als Russell Westbrook.

Elite-Spieler und Thunder-Schlüssel

Ist Westbrook nun ein Point Guard, ein Shooting Guard, ein Kombo-Guard, vielleicht einfach nur ein Guard? Russell Westbrook ist ein Basketballspieler, und einer der zehn besten der Welt obendrein. Er belegt im Scoring (23,6 PPG, Platz 6), bei den Assists (7,8 APG, Platz 5) und den Steals (1,9 SPG, Platz 7) einen Platz unter den Top-7. Seine Leistungen sind konstanter denn je, und er hat sich auch in dieser Saison von Monat zu Monat gesteigert.

Seine Trefferquoten sind von 41 FG% im November auf 53 FG% im März angestiegen. Westbrooks Turnover-Rate (10,4) ist die mit Abstand niedrigste seiner Karriere, die Assist-to-Turnover-Rate mit 2,22 die zweithöchste nach 2010 (bei 7,5 Punkten mehr pro Partie).

Man kann sich natürlich weiterhin daran aufhängen, dass Westbrook nicht wie ein prototypischer Point Guard agiert, dass er nicht das Spielverständnis eines Chris Paul oder Steve Nash mit sich bringt oder dass ihm die Eleganz eines Maurice Cheeks (Assistant Coach der Thunder) abgeht. Aber man verkennt dabei, dass der Überathlet ein absoluter Ausnahmespieler ist, der wie kein Zweiter die neue NBA verkörpert, die Verschmelzung der traditionellen Positionen und die unaufhaltsame Dynamik des Spiels im neuen Jahrzehnt.

Die Oklahoma City Thunder wären heute nicht allabendliche Urgewalt und Meisterschaftsfavorit ohne ihren tasmanischen Teufel, der in seiner gesamten Basketballkarriere (High School, College, NBA, International) noch nicht eine einzige Partie verpasst hat.

Das bestätigt auch Superstar Kevin Durant: "Er hat sein Spiel komplett verändert. Er kann scoren, wann er will, er kann passen, rebounden, Bälle klauen... Er kann einfach alles, und er bringt die Dinge für uns ins Laufen, stachelt uns an mit seiner unbändigen Energie."

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