NBA

Zwischen Genie und Wahnsinn

Von Bastian Strobl
Metta World Peace gewann 2010 mit den Lakers seinen ersten und bislang einzigen Ring
© Getty

Er hat Queensbridge überlebt. Er hat den Malice in the Palace hautnah erlebt. Vor allem hat Metta World Peace aber den Kampf gegen seine eigenen Dämonen gewonnen. SPOX blickt auf eine verrückte Berg- und Talfahrt des einstigen Ron Artest zurück, die ihren Höhepunkt in der Stadt der Engel fand.

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Im Moment seines größten Triumphes blieb sich Ron Artest treu. Etwas anderes hatte man auch kaum erwartet. Mit den Worten "I've got Wheaties!" betrat der damals 30-Jährige das Podium der Pressekonferenz im Anschluss an Spiel 7 der NBA Finals 2010. Er spielte damit auf die Cornflakes-Packung an, auf der traditionell die Meistermannschaft abgebildet war.

Die folgenden Minuten hat seitdem wohl keiner der anwesenden Journalisten vergessen. Artest nahm die Presse mit auf eine Reise durch die Gefühlswelt eines einzigartigen Sportlers, der sich endlich seinen Traum erfüllt hatte.

"Bevor ich total durchdrehe, will ich Gott für alles danken. Als ich jung war, habe ich meinem Team in Indiana häufig wehgetan. Ich war einfach so egoistisch. Wir hatten damals gute Chancen, erfolgreich zu sein, aber ich war ein Feigling. Ich bin froh, dass ich bei den Lakers noch mal eine Chance bekommen habe."

Es waren ungewohnt offene und ehrliche Worte eines Sportlers, dessen Karriere einer einzigen Berg- und Talfahrt glich. Sein Vater ahnte bereits früh, was die NBA und alle Beteiligten im Laufe der Zeit feststellen mussten: "Er könnte über sein aufbrausendes Temperament stolpern. Vielleicht wird er daran sogar zerbrechen."

Kindheit in Queensbridge

Ron Artest Senior hatte gute Gründe, eine solche Voraussage zu tätigen. Schließlich wusste er nur zu gut, wie er sich seinerzeit verhalten hatte. Der Navy-Veteran war nie ein Kind von Traurigkeit gewesen. Er prügelte sich, dachte nur an sich und hielt sich nicht an Regeln. Als ihn einst ein Arbeitskollege schubste, knockte der ehemalige Boxer ihn mit einem Schlag aus.

Trotzdem hatte Artest Senior die Hoffnung, dass sein Sohn dieses aufbrausende Gemüt nicht geerbt hatte. Es sollte eine Hoffnung bleiben. Vielleicht hatte Artest auch gar keine andere Wahl, als den Weg seines Vaters zu beschreiten. In Queensbridge, einer Sozialbausiedlung im New Yorker Stadtteil Queens, machte Artest seine ersten Schritte. Zusammen mit fünf Geschwistern und zwei Neffen schlief der kleine Ron aufgeteilt auf zwei Schlafzimmer.

Ein Motto in Queensbridge lautet: Man lebt nicht, man überlebt. Auch die Familie Artest kam nur spärlich über die Runden. Als das Essen knapp wurde, lieh sich der Vater Geld von sieben verschiedenen Kredithaien. Als selbst das nicht ausreichte, nahm er Essen aus dem Krankenhaus mit, in dem er arbeitete.

Wie der Vater, so der Sohn

Die Stimmung innerhalb der Familie war nicht nur deswegen häufig angespannt. Der Vater hatte seine Nerven nicht im Griff, brüllte herum, warf Sachen durch die Gegend und ging die Mutter nicht nur verbal an.

Nach Schlägen bot Ron sogar an, für den Vater vor der Polizei zu lügen, zum Wohle der Familie. Doch Artest Senior wollte nicht, dass sein Sohn ein Lügner wird. Er wollte nicht, dass er einmal Frauen schlägt. Kurzum: Er wollte nicht, dass Ron wie er wird.

Doch es war bereits zu spät. Als sich jemand in der Schul-Cafeteria vor ihn drängelte, würgte Ron ihn mit seinen großen und kräftigen Händen. Auf dem Spielplatz schlug er einen Jungen zu Boden, weil er sich gemobbt fühlte. Damals war er gerade einmal sieben Jahre alt.

"Die Trennung von meiner Frau machte alles noch viel schlimmer für Ron", erinnert sich Artest Senior, der nur ein paar Türen weiterzog, um sich weiterhin um seine Kinder kümmern zu können. Doch es half nichts. Die Eltern sahen nur einen Ausweg und schickten ihren Sohn zur Anti-Aggressions-Therapie.

Basketball als Therapie

Die Lösung war schnell gefunden: Basketball. Für Artest wurde der Sport zu mehr als einer Leidenschaft. Er wurde zu seinem Leben. Er spielte gegen seinen körperlich überlegenen Vater. Er spielte im Winter. Er spielte bei Regen und Schnee. Als seine kleine Schwester 1995 der plötzliche Kindstod ereilte, weilte er auf dem Court.

Basketball lehrte Artest, nicht aufzugeben und vor keiner Herausforderung zurückzuschrecken. Dass sein Weg auch in der High School nicht ohne Nebengeräusche verlief, erklärt sich dabei fast von selbst. Nicht nur Gegner wurden Opfer seiner Wutausbrüche. Er schrie Teamkollegen, kassierte technische Fouls en masse und führte sein Team in den Wahnsinn und darüber hinaus.

"Es hatte etwas von Frankenstein. Jeder fürchtete sich vor ihm", so Fran Fraschilla, sein späterer Trainer an der St. John's University. "Dabei hatte er einfach nur Angst, zu versagen. Er wollte nicht zurück nach Queensbridge." Musste er auch nicht.

Alkohol in der Pause

Der nächste Schritt war die NBA. Doch sein altes Leben, seine alten Gewohnheiten schlummerten weiter in ihm. Als Rookie bei den Chicago Bulls genehmigte er sich in der Halbzeitpause häufig einen Schluck Cognac.

"Ich habe zur Halbzeit öfter mal Hennessy getrunken. Ich bin einfach rüber zum Spirituosengeschäft und habe eine Flasche geholt. Aufbewahrt habe ich sie in meinem Spind." Zyniker würden sagen: Bei den Bulls zu Beginn des Jahrtausends blieb einem auch nicht viel anderes übrig.

Trotz Artest, Ron Mercer, Brad Miller und Jamal Crawford geisterte Chicago im Tabellenkeller herum. Dennoch machte Artest auf sich aufmerksam. Er brillierte als Lockdown-Defender, wusste aber auch beim Scoring und als Ballverteiler zu überzeugen. Selbst Michael Jordan war von ihm angetan und bereitete sich mit Artest und einigen anderen Spielern in diversen Summer Camps auf sein zweites Comeback vor. "Er sprüht vor Intensität und Energie", fand MJ damals lobende Worte für ihn. Dass Artest dem sechsfachen NBA-Champion im Training zwei Rippen brach, war Beweis genug dafür.

Malice in the Palace

Nach dem Trade zu den Pacers machte er dort weiter, wo er in der Windy City aufgehört hatte. Immer nach vorne marschieren, ohne Angst, ohne zurückzublicken. Als er sich in der Saisonpause einer Herz-OP unterziehen musste, stand er einen Tag später wieder auf dem Court. Das Training brach er nach einigen Wurfversuchen zwar ab. Das hielt ihn aber nicht davon ab, es am nächsten Tag erneut zu probieren.

Sein Talent ging jedoch auch in Indiana Hand in Hand mit seinem Temperament: 14 Technische Fouls, mehr als 150.000 Dollar Strafe, ein zerstörter Fernseher im Madison Square Garden in einer Saison. Artest markierte sein Revier. Seine Geschichte schien angesichts des Wahnsinns und der Tragik kaum noch steigerbar. Doch dann kam der 19. November 2004. Artest musste mit den Pacers in Detroit antreten.

Das Spiel sollte später als "Malice in the Palace" in die NBA-Annalen eingehen. Alles begann mit einem harten Foul von Artest an Ben Wallace in der Schlussminute. Der Pistons-Center verlor daraufhin die Nerven und wollte dem Pacers-Forward an den Kragen. Doch Artest behielt die Ruhe, zog sich zurück und legte sich auf das Kommentatorenpult.

Die Situation war unter Kontrolle. So dachte man zumindest. Bis ein Fan ausholte, seinen Getränkebecher durch die Luft schleuderte und damit genau Artest traf. Was daraufhin folgte, bezeichneten nicht wenige amerikanische Medien als eine der schwärzesten Stunden der NBA.

Lange Sperre für Artest

Artest stürmte in die Zuschauerränge, um den Täter ausfindig zu machen, schnappte sich allerdings den falschen Fan. Auch Stephen Jackson ging auf einige Fans los, während das Parkett längst von Securities, Betreuern und einigen Fans geflutet wurde, die ihren Augen nicht glauben konnten.

Die Szenerie beruhigte sich erst, als sich Indiana in die Kabine verdrückte. Zum Abschied wurden die Pacers allerdings noch mit Popcorn und Cola übergossen. Selbst vor einem Stuhl, der durch die Luft flog, mussten sich die Gäste im Palace of Auburn Hills in Acht nehmen.

"Das war wie bei den Gladiatoren im alten Rom. Die Fans waren die Löwen, und wir haben einfach versucht, lebendig die Halle zu verlassen", erinnert sich Chuck Person, Indianas damaliger Assistenztrainer. Das gelang den Pacers zwar. Allerdings wurde vor allem an Artest ein Exempel statuiert. Er wurde bis zum Saisonende suspendiert. Insgesamt verpasste er damit 86 Partien und verlor 5 Millionen Dollar seines Gehalts.

An der Seite von Gasol und Bryant

Artest fühlte sich jedoch auch Jahre später mehr als Opfer denn als Täter: "Ich habe das relativ schnell abgehakt, weil ich nichts gemacht habe. Tim Donaghy war der Referee. Mehr muss ich eigentlich gar nicht sagen. Allein deswegen sollte ich mein Geld zurückbekommen." Donaghy war einige Jahre später in einen Wettskandal verwickelt und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.

Für Artest bedeutete der Brawl trotzdem ded Tiefpunkt seiner Karriere - und das Ende in Indianapolis. Er brachte bei den Pacers keinen Fuß mehr auf den Boden und ließ sich nach Sacramento traden. Auch in Kalifornien setzte sich seine defensive Klasse durch. Doch Artest wollte mehr. Er wollte einen Ring. Über Sacramento und Houston brachte ihn sein Weg nach Los Angeles. Ausgerechnet In die Stadt der Engel. An der Seite von Kobe Bryant und Pau Gasol marschierte er mit den Lakers bis in die Finals.

Artest war dabei Mädchen für alles. Punkte, Assists, Rebounds, Steals - er tat alles, was von ihm verlangt wurde, ohne großartig im Rampenlicht zu stehen. Ausgerechnet in den Finals ließ ihm allerdings sein Wurfglück im Stich. Seine Quote in Spiel 2 gegen Boston: 1 von 10 aus dem Feld. Auch in den folgenden drei Begegnungen war Artest - allerdings nicht als einziger Laker - nicht auf der Höhe des Geschehens.

Nach fünf Partien fehlte den Celtics nur noch ein Sieg zum Titel. Artest stand mit dem Rücken zur Wand. Die Lakers standen mit dem Rücken zur Wand. Doch der Titelverteidiger rettete sich in ein entscheidendes Spiel 7.

Zurück zu alter Stärke?

Die letzte Partie der Saison sollte zur großen Bühne von Ron Artest werden. Mit seiner Intensität rüttelte er die Lakers nach einem 13-Punkte-Rückstand zur Halbzeit wach. Bryant mag mehr Punkte erzielt, Gasol mehr Rebounds verbucht haben. Doch Artest, der die Partie mit 20 Punkte, 5 Rebounds, 5 Steals beendete, sorgte für die Big Plays. Unvergessen sein Dreier zum 79:73 mit einer Minute auf der Uhr, den er mit Kusshand in Richtung der Fans feierte.

"Er hat uns nach vorne gepusht und dem Team sowie den Zuschauern neue Hoffnung geschenkt", sagte selbst Phil Jackson nach der Partie. Artest war auf dem Gipfel angekommen. Dass er in der folgenden zwei Jahren mehr durch seine Namensänderung hin zu Metta World Peace auf sich aufmerksam machte als durch seine Performance auf dem Parkett, kann seine damalige Leistung kaum schmälern.

In dieser Saison deutete World Peace zudem seine alten Fähigkeiten an und liefert mehr als ordentliche Statistiken (13,2 PPG, 40,9 FG, 5,4 Rebounds im Schnitt). In Vergessenheit wird Ron Artest, Metta World Peace oder der kleine Junge aus Queensbridge aber sowieso nicht geraten. Nicht nur wegen einer denkwürdigen Pressekonferenz im Sommer 2010.

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