NBA

Der Misshandler will’s noch mal wissen

Von Maurice Kneisel
Jamaal Tinsley verdiente sich auf dem Streetball-Court den Spitznamen Mel Mel the Abuser
© Getty

Wer ist eigentlich Mel Mel the Abuser? Diese Frage hat sich wohl auch Jamaal Tinsley in den letzten Jahren häufiger gestellt. Die Streetball-Legende wurde am College gefeiert und war in der NBA jahrelang Starter bei den Indiana Pacers. Doch eine Schießerei verpasste seiner Karriere einen gewaltigen Dämpfer. Gelingt nun das Comeback in der NBDL?

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Monatelang wütete in der NBA ein Machtkampf zwischen Spielern und Teambesitzern. Nachdem die Profis vor kurzem ein vermeintliches Ultimatum hatten ablaufen lassen, galt zeitweise sogar der Ausfall der kompletten Saison als wahrscheinlich.

Überschattet vom Tumult aus Machtspielchen und gegenseitigen Beschuldigungen hielt die NBA Development League in dieser Zeit - genauer am 3. November - ihren Draft ab. Während das Gros der NBA-Profis in Europa oder China darauf wartete, dass in den Hallen der großen US-Franchises endlich wieder die Lichter angehen, versuchten hier einige weniger bekannte Namen ihr Glück.

Alando Tucker (Phoenix Suns), Gabe Pruitt (Boston Celtics) und Jamal Sampson (zuletzt Denver Nuggets) zählen zu den mehr oder minder bekannten Gesichtern, die man in der NBDL wieder trifft. Aber ein Name sticht aus der Masse heraus, scheint nicht in die Liste zu gehören: Jamaal Tinsley.

Das Farmteam der Los Angeles Lakers, die L.A. D-Fenders, pickte den Point Guard an erster Stelle. Aber wieso hat Tinsley das nötig? Schließlich war er jahrelang als Starter in der NBA etabliert, für sein mannschaftsdienliches Spiel, seine Übersicht und herausragenden Ballhandling-Skills bekannt. Doch dann verschwand er plötzlich von der Bildfläche. Was war passiert?

Das symbolische Gefängnis

Als Teenager hatte er sich im Rucker Park seiner Heimatstadt New York den Ruf als astreiner Streetballer erarbeitet. Aus dieser Zeit stammt auch sein Spitzname Mel Mel the Abuser.

Jamaal zockte im berühmt-berüchtigten "Cage" so ausgiebig, dass er dabei seine Ausbildung völlig vergaß: "Es war mein Fehler, mich nicht auf die Schule vorzubereiten. Ich habe einfach nur abgehangen, die Straßen zogen mich magisch an."

Als 19-Jähriger hatte er bereits drei Rausschmisse aus Highschools in zwei Staaten hinter sich, war bei Gang-Streitereien angeschossen worden und hatte zu allem Überfluss eine einwöchige Haftstrafe im Manhattan House of Detention, auch als "The Tombs" (zu Deutsch: Die Grüfte) bekannt, auf dem Kerbholz.

Doch in welchem Schlamassel Jamaal auch gerade steckte, immer wieder suchte und fand er den Weg zurück in sein symbolisches Gefängnis - den Streetball-Court im Rucker Park.

Titel und spätere Kollegen

Da er insgesamt keine zweite Monate an den verschiedenen Highschools verbrachte, musste Mel einen anderen Weg finden, um auch auf Teamebene Basketball zu praktizieren: die Amateur Athletic Union (AAU), eine der größten Amateur-Sport-Vereinigungen der USA.

Mit seinem Heimteam Brooklyn USA traf er im Rahmen unzähliger Turniere im ganzen Land unter anderem auf seine späteren NBA-Kollegen Stephon Marbury und Rafer Alston. Beim Nike Invitational in Las Vegas gewann er im Sommer 1997 den Turnier- und MVP-Titel.

"Wann immer wir einen Korb brauchten, haben wir raus gepasst" erinnert sich sein damaliger Coach Thomas Sicignano. "Dann haben wir einfach zu Mel gespielt und den Weg frei gemacht."

Einweg-Ticket nach Kalifornien

Die Chance, ein Top-College zu besuchen, hatte Tinsley verwirkt. Aber in Kalifornien bot sich ihm auch ohne Highschool-Abschluss die Möglichkeit, eine Uni zu besuchen. Den Tipp erhielt er von Sicignano, der ihn auf eine Rundreise zu den Unis einlud - ohne Rückflug-Ticket.

"Es war, als ob ich zur Armee gehen würde", so Tinsley. "Ich packte meine Sachen und wusste weder, was mich erwartet noch wie man mich behandeln würde. Aber als ich ankam, war es Liebe auf den ersten Blick, als sei ich nach Hause gekommen."

Zu seinem Glück gezwungen, verbrachte Mel zwei Jahre am Mt. San Jacinto Community College. Mit seiner spektakulären Spielweise machte er größere Schulen wie die UNLV und TCU auf sich aufmerksam.

Mitten im Nirgendwo

Der 1,91 Meter große Spielmacher entschied sich für einen Wechsel an die weniger renommierte Iowa State im beschaulichen 59.000 Seelen-Städtchen Ames. Obwohl der Kontrast zu seiner glamourösen Heimatstadt kaum größer hätte sein können, blühte Tinsley im Mittleren Westen auf.

Gleich in seiner ersten Spielzeit 1999-2000 stellte er mit den Cyclones die beste Bilanz der ICU-Historie auf (32-5), im Folgejahr die zweitbeste (25-6). Zwei Titel in der regulären Saison und eine Meisterschaft im Big-12-Conference-Turnier rundeten die Erfolgsgeschichte ab.

In 68 Spielen für Iowa State sammelte Tinsley durchschnittlich 12,5 Punkte, 6,3 Assists, 4,5 Rebounds und 2,6 Steals. Auch die Stats seiner Kollegen gingen unter seiner Regie steil nach oben. Kein Wunder, dass er in seinem Senior-Year als Second Team All-American und Big-12-Conference-Spieler des Jahres geehrt wurde.

Starter im Rookie-Jahr

Beim NBA-Draft 2001 pickten die Memphis Grizzlies Tinsley an 27. Stelle und schickten ihn über die Zwischenstation Atlanta zu den Indiana Pacers. Dort wurde er prompt zum Starting Point Guard ernannt und am Saisonende ins All-Rookie Second Team gewählt.

Pacers-Ikone Reggie Miller lobte seinerzeit: "Je mehr ich ihm zusehe, desto mehr glaube ich, dass er ein großartiger Point Guard wird." Alles deutete auf eine lange, erfolgreiche NBA-Karriere hin, 2004 erreichte Jamaal mit seinem Team unter dem heutigen Dallas-Coach Rick Carlisle die Eastern Conference Finals.

Verletzungen und Skandale

Doch Tinsley hatte immer häufiger mit Verletzungen zu kämpfen. Zwischen 2003 und 2006 bestritt er gerade mal 134 der möglichen 246 Saisonspiele. Entscheidend für seinen Absturz war allerdings eine Entscheidung, die "The Abuser" abseits des Parketts traf.

Am 9. Dezember 2007 war er in einem Hotel in der Innenstadt von Indianapolis in eine Schießerei involviert, bei der sein Bruder James einen Mann anschoss. Bereits in den vorangegangenen Monaten hatte Jamaal mehrfach Ärger mit dem Gesetz, war unter anderem gemeinsam mit Marquis Daniels in eine Schlägerei in einer Bar geraten.

Das Pacers-Management, das seit dem "Malice at the Palace" in Detroit knapp drei Jahre zuvor eine strikte Null-Toleranz-Politik fuhr, zog die Reißleine. Obwohl Tinsley noch einen mehrjährigen, gut dotierten Vertrag besaß, forderte man ihn auf, sich fortan vom Team fern zu halten

"Es ist sehr schade, besonders wenn man berücksichtigt, was für ein Jahr er bislang spielt", kommentierte Jermaine O'Neal seinerzeit: "Er war unserer MVP der ersten Saisonhälfte." Durchschnittlich 11,4 Punkte und 8,4 Assists standen nach 39 Partien zu Buche.

Leiser Abschied aus der NBA

Tinsley reichte im Februar 2009 über die NBA Player's Association Klage gegen die Pacers ein, allerdings ohne Erfolg. Am 22. Juli 2009 wurde er entlassen.

In der folgenden Saison erhielt er - nach knapp zwei Jahren ohne ein NBA-Spiel - von den Memphis Grizzlies eine zweite Chance. 15,5 Spielminuten, 3,5 Punkte und 2,8 Assists in 38 Spielen überzeugten aber kein Team, ihn anschließend zu verpflichten.

Eine Karriere, die aufgrund von Mels außergewöhnlichem Werdegang, seiner Spielweise und den Aktionen abseits des Courts immer wieder für Schlagzeilen gesorgt hatte, schien heimlich, still und leise zu enden.

"Wieso sollte ich den freien Wurf nehmen?"

Jetzt ist Jamaal Tinsley wieder aufgetaucht. NBDL, das bedeutet Farmliga und die Hoffnung, ein NBA-Team soweit von sich zu überzeugen, dass es einem nochmal eine Chance gibt. Doch Tinsley ist es gewohnt, gegen widrige Umstände anzukämpfen.

Um es mit den Worten seines früheren Coaches aus Brooklyn zu formulieren: "Ein Guard aus New York City dribbelt Richtung Korb und sieht darunter zwei Big Men stehen. Der Guard ist noch ein Stück entfernt und frei, sagt aber zu sich selbst: 'Wieso sollte ich den freien Wurf nehmen, wenn ich genauso gut gegen die zwei Riesen dunken kann?' Das macht Guards aus New York City aus."

Tinsley hat niemals den einfachen Weg gewählt. Warum auch, der 33-Jährige ist von seinen Qualitäten schließlich absolut überzeugt: "Meine Führungsqualitäten, Arbeitseinstellung und Siegermentalität können nach wie vor jedem NBA-Team helfen", erklärte er unlängst gegenüber "Hoopsworld".

"Wenn sich eine Möglichkeit ergibt, werde ich bereit sein." Tinsley will beweisen, dass er seine Liebe zum Spiel noch nicht verloren hat - und dass die Rucker-Park-Legende noch nicht am Ende angekommen ist.

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